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Veröffentlicht am 2021-01-16 In Themen - Meinungen

Missbrauch in Schönstatt: Reden wir weiter darüber (1)

BRASILIEN, Luciana Rosas •

Angesichts der Resonanz auf den Artikel „Missbrauch in Schönstatt – darüber müssen wir reden“ist mir klar geworden, dass es sehr wichtig ist, das Thema und die Diskussion weiterzuführen, um mehr Wissen, Bewusstsein und Empathie zu schaffen. Das Thema wird in einer Folge von drei Artikeln angegangen, die heute und in den kommenden beiden Wochen erscheinen: Reden wir über die Kommentare, in dem ich  die Diskussion über die häufigsten Themen in den Kommentaren, die bei der Veröffentlichung des ersten Artikels auf  schoenstatt.org veröffentlicht wurden, aufgreife; Sind wir bereit, Meldungen über Missbrauch in Schönstatt entgegenzunehmen?, in dem wir  Schwierigkeiten darstellen, auf die Missbrauchsopfer stoßen, wenn sie in Schönstatt Anschuldigungen erheben, und welche Rolle die Struktur der Schönstatt-Bewegung dabei spielt; Geistlichen Missbrauch besser verstehen, in dem wir einige Merkmale missbräuchlicher Systeme ansprechen, damit wir Situationen des Missbrauchs erkennen und so den Opfern besser helfen und vor allem mitfühlen können. —

Das Ziel ist, dass wir durch größeres Wissen über das Thema mehr Empathie entwickeln und den Opfern größere Akzeptanz entgegenbringen und als Schönstattfamilie objektiver arbeiten können im Kampf gegen die verschiedenen Missbräuche, die in unserer Bewegung vorkommen, denn ja, Missbräuche kommen vor.

Missbrauch

Reden wir über die Kommentare

Als ich mich vor einigen Monaten entschied, den Artikel „Missbrauch in Schönstatt – darüber müssen wir reden“ zu schreiben, hoffte ich wirklich, dass die Entscheidung, klar und direkt über das Thema zu schreiben, Auswirkungen haben und eine Debatte auslösen würde. Aber ich muss gestehen, dass die Resonanz auf diesen Artikel alle meine Erwartungen übertroffen hat. Die Kommentare zum Artikel waren zahlreich, sowohl die, die auf der Seite schoenstatt.org erschienen (vor allem zur spanischen und portugiesischen Fassung), als auch die, die ich persönlich erhalten habe, in denen mir für den Mut und die Klarheit gedankt wurde, ein so heikles Thema darzustellen.

Wenn ich über die Kommentare nachdenke, die wir direkt zum Artikel erhalten haben – und ich möchte die Gelegenheit nutzen, für jeden einzenlen persönlich zu danken -, habe ich wahrgenommen, dass wir in der Tat und immer mehr über dieses Thema sprechen müssen, mit dem Ziel, uns bewusst werden, was geistlicher Missbrauch bedeutet, und den Menschen Informationen anzubieten, damit sie erkennen können, ob sie einer missbräuchlichen Situation ausgesetzt sind, welche Möglichkeiten (und oft auch Unmöglichkeiten) es gibt, eine Missbrauchsanzeige zu erstatten und auch eine Klarstellung für diejenigen zu anzubieten, die immer noch denken, dass eine Missbrauchssituation, die angezeigt wird, eine Viktimisierung oder sogar einen Mangel an Glauben oder Berufung bedeutet.

 

Missbrauch

Vorweg: eine Klarstellung zum vorhergehenden Artikel

Aufgrund der Unmenge von Kommentaren zum vorherigen Text möchte ich vorweg eine Klarstellung vornehmen: Der Artikel vom 22. Oktober 2020 bezieht sich zu keinem Zeitpunkt auf die Anschuldigungen, die gegen Pater Josef Kentenich veröffentlicht wurden; der Text ist vor der Veröffentlichung des Buches von Alexandra von Teuffenbach geschrieben und erschienen.

Im damaligen Artikel wie auch im heutigen wird auch nicht auf die Frage der Vorwürfe gegen Pater Kentenich eingegangen. Angesprochen wird allerdings die Art und Weise, wie diese Angelegenheit gehandhabt wurde, der Mangel an Empathie und Respekt gegenüber den möglichen Opfern, die die erlittenen Misshandlungen anprangerten, und der Mangel an Professionalität im Umgang mit solch heiklen Angelegenheiten.

 

Missbrauch

Die Annahme einer Realität ist keine Viktimisierung

Eine der schmerzhaftesten Erfahrungen für ein Missbrauchsopfer, gleich welcher Art, ist es, dass ihr – dem Opfer – die Schuld für den Missbrauch zugeschrieben wird. Ich möchte einen der Punkte teilen, der mir in den Kommentaren, die zu dem Text eingegangen sind, am meisten aufgefallen ist: Die aggressivsten kamen von Leuten, die mich kennen. In Wirklichkeit wissen sie aber kaum, wer ich bin, denn sie kennen weder mich noch meine Geschichte. Dies ist nur ein Indikator dafür, wie schwierig es für ein Missbrauchsopfer ist, einen sicheren Ort zu finden, an dem es reden, seine Geschichte erzählen, aufgenommen werden und Anleitung erhalten kann, wie es mit dem Problem umgehen soll.

Es sollte klar sein, dass das Bekenntnis, Missbrauch erlitten zu haben, den Diskurs nicht in den einer Opferhaltung verwandelt, sondern eher das Gegenteil bewirkt. Die Anerkennung ist Teil des Weges, auf dem man seine persönliche Geschichte, die Geschichte der Gemeinschaft und die Beziehung zum Glauben überdenkt. Seien Sie sicher, dass ein Opfer, das in Liebe und Offenheit des Herzens aufgenommen wird, noch viele Gelegenheiten haben wird, seinen Glauben zu überdenken und darin weiterzuwachsen.

Ein weiterer Punkt, der in den Kommentaren auffällt und den ich für äußerst wichtig halte, ist die Frage nach dem Alter der Person, die missbraucht wurde. „Wie alt waren Sie, als Sie missbraucht wurden?“, als ob ein bestimmtes Alter die Auswirkungen des erlittenen geistlichen Missbrauchs mindern würde.

Natürlich werden bisher vor allem Fälle von Kindesmissbrauch diskutiert, vor allem wegen der zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen, die Missbrauch an Minderjährigen nach sich zieht. Diese Missbräuche müssen erschöpfend bekämpft werden, bis kein Kind oder Jugendlicher mehr Opfer irgendeiner Art von Missbrauch ist.

Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass viele der Menschen, die Opfer von geistlichem Missbrauch werden, von klein auf im religiösen Bereich sind, und ihre Persönlichkeiten so erzogen und geformt wurden, dass sie überzeugt sind von der Gegenwart Gottes in den Leitern kirchlicher oder gemeinschaftlicher Einrichtungen, ja, dass diese Führer unfehlbar oder die unbestreitbare Stimme Gottes sind. Ausgehend von dieser Annahme ist auch eine Person, die 18 Jahre alt geworden und damit als Erwachsener gilt, anfällig für geistlichen Missbrauch und braucht lange, um zu verstehen, worum es geht, umso mehr, wenn das Thema in ihrem Umfeld nicht besprochen oder geklärt wird.

Im November 2020 brachte die Autorin Barbara Haslbeck das Buch „Erzählen als Widerstand“ (Haslbeck, Barbara/Heyder, Regina/Leimgruber, Ute/Sandherr-Klemp: Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Aschendorff 2020, ISBN 978-3-402-24742-6) auf den Markt. In einem Interview, das von der Jesuiten-Website jesuitas.lat am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen veröffentlicht wurde, spricht sie genau die Schwierigkeiten an, die erwachsene Frauen haben, wenn sie Missbrauch melden, die Vorurteile, die sie von der Gemeinschaft, der sie angehören, und von der Gesellschaft erfahren, und wie geistlicher Missbrauch das Einfallstor für sexuellen Missbrauch ist:

Auf die Frage: „Hören erwachsene Frauen oft das Argument, sie hätten ja auch ‚Nein‘ sagen können?“ antwortet sie:

„Viele haben große Angst, dass sie für den Missbrauch verantwortlich gemacht werden. Sie fragen sich ja selbst unzählige Male, warum  habe ich nicht nein sagen können, warum bin ich nicht sofort abgehauen? Aber wie ich schon sagte, der Missbrauch kommt langsam, nicht sofort. Die Täter bauen ein Vertrauensverhältnis auf und werden unentbehrlich. Sie sagen dem Opfer, dass sie die wichtigste Person im Leben sei, und das Opfer beginnt, das zu glauben und abhängig zu werden. Erst dann kommt es zu Übergriffen. Die Betroffenen spüren schon, dass das nicht gut für sie ist, aber ihre Wahrnehmung ist so ausgehebelt, dass sie es nicht mehr einordnen können. In Gemeinschaften werden die Mitglieder miteinander konfrontiert, wer anklagt, wird eingeschüchtert und isoliert. Und plötzlich gibt es niemanden mehr, dem die betroffene Person erzählen kann, was mit ihr geschieht.“

 

Missbrauch

Anonymität: traurige Konsequenz erlebtenMissbrauchs

Ein weiteres Thema aus den Kommentaren: Es war zu erwarten, dass einige in den Kommentaren sagen würden, dass auch sie Opfer von missbräuchlichen Situationen in Schönstatt geworden seien und dass sie sich in den meisten Fällen aber nicht namentlich zu erkennen geben würden.

Über seelischen Missbrauch (oder jede Art von Missbrauch) zu sprechen, ist immer noch ein Tabu und es ist verständlich, dass die betreffende Person in diesem Moment ihren Namen nicht sagen wollte. Vielleicht war es das erste Mal, dass sie in einem Medium Schönstatts über das Thema gelesen und deshalb den Mut gefunden hat, ein wenig von ihrer Geschichte zu erzählen. Dies ist eine wichtige innere Entscheidung, denn sich auszudrücken ist der erste Schritt, um eine schmerzhafte Situation zu erkennen und sie zu überdenken. Deshalb möchte ich hier meine Dankbarkeit und meinen Stolz ausdrücken für den Mut, den sie gezeigt haben, indem sie ein wenig von ihrer Geschichte erzählt haben. Danke für das Vertrauen und die Kraft, die jeder von Ihnen hat, um vorwärts zu gehen. Keiner von Ihnen ist allein auf diesem Weg, und Gespräche sind für einen inneren und äußeren Heilungsprozess unerlässlich.

Andererseits war ich überrascht und auch traurig, als ich auch aggressive Kommentare bezüglich der Anonymität dieser Menschen las, die genau dort ansetzen, wo mehr Verständnis, Willkommenskultur und Bereitschaft zum Zuhören und Orientieren vorhanden sein sollte. Das hat mir – wieder einmal – gezeigt, dass wir noch lange nicht da sind, wo wir sein sollten. Anstatt entmutigt zu sein, gibt mir das Bewusstsein darüber mehr Kraft, weiter zu kämpfen, damit dieses Thema besser bekannt und verstanden wird und die Opfer in ihrer Integrität und Würde angenommen und respektiert werden.

 

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Positive Erfahrungen entkräften negative Erfahrungen nicht –  und umgekehrt

Ein ziemlich schädlicher Diskurs für ein Missbrauchsopfer (wiederum für jede Art von Missbrauch, aber hier beziehe ich mich speziell auf spirituellen Missbrauch) ist der Versuch, die Missbrauchserfahrung durch positive Erfahrungen zu entkräften. „Das habe ich noch nie erlebt!“–  „Das ist mir noch nie passiert.“

Das ist gut. Bedeutet nicht, dass der Missbrauch der Person, die ihn meldet, nicht widerfahren ist. Ebenso wenig entkräftet die Existenz einer Missbrauchserfahrung eine positive Erfahrung, die eine oder viele andere Personen gemacht haben mögen.

Es ist bekannt, dass in missbräuchlichen Systemen nicht jeder missbraucht wird und auch nicht alle auf die gleiche Weise missbraucht werden. Das sollte jedem von uns klar sein. Missbrauch ist objektiv und persönlich und lässt keine Verallgemeinerungen zu.

Nicht alles, was geschieht – im Leben und in der Welt -, wird von allen Menschen gesehen oder erlebt und existiert daher nicht. „Papa, wenn ein Baum im Wald umfällt und die Medien nicht darüber berichten, ist er dann wirklich umgefallen?“ Ja, ist er. „Papa, wenn ein Baum im Wald umfällt und ich war nicht dabei, ist er dann wirklich umgefallen?“ Ja, ist er. Hüten wir uns davor, in diesen Trugschluss zu verfallen und weiterhin noch mehr Schmerz für diejenigen zu provozieren, die versuchen, ihre Hand und Stimme gegen eine missbräuchliche Situation zu erheben.

 

Missbrauch

In der nächsten Woche werden wir das Thema mit dem zweiten Artikel der Serie weiter diskutieren:

Sind wir bereit, Meldungen über Missbrauch in Schönstatt entgegenzunehmen?


Luciana Rosas ist 39 Jahre alt und lebt in Curitiba, Brasilien. Sie ist Wirtschaftswissenschaftlerin, Studentin der Psychologie und Theologie. Sie ist als Redakteurin, Übersetzerin und Social Media Managerin für schoenstatt.org tätig.
Seit 1994 ist sie Mitglied der Schönstatt-Bewegung. Sie arbeitet an Themen, die mit der Verteidigung von Frauen, der Einbeziehung von Minderheiten und Menschenrechten zusammenhängen. Derzeit forscht sie über die Auswirkungen von Grenzfragen auf die Kirche, insbesondere über Fragen des Machtmissbrauchs, der Moral, der Sexualität und des Gewissens.
Träumerin und Kämpferin. Leidenschaftlich für Schönstatt und Freiheit.

 

Original: Portugiesisch, 14.01.2021. Übersetzung: Maria Fischer @schoenstatt.org

 

Zur Aktualität des Themas:

Universität Comillas, Madrid,  startet einen Kurs zur Prävention und zum Umgang mit Missbrauch in der Kirche

Meldung am 14. Januar: „Seit Jahren entwickelt sich in der Kirche eine besondere Sensibilität für die Notwendigkeit, das Problem des Missbrauchs in den von ihr abhängigen Institutionen anzugehen, und zwar sowohl mit Blick auf Machtmissbrauch als auch auf Gewissensmissbrauch und sexuellen Missbrauch“. Dies ist eine vorrangige Aufgabe, die Papst Franziskus als zentral hervorheben wollte, um mit einem vom Evangelium geleiteten Blick den Schutz der Schwächsten und der Minderjährigen zu gewährleisten, sowie jeder Person, die aufgrund ihrer Position der Unterordnung unter Figuren der Macht in Formen des Missbrauchs gefangen sein könnte.

Im deutschen Sprachraum hat die Katholische Akademie Dresden-Meißen das Thema bearbeitet.

Missbrauch in Schönstatt – darüber müssen wir reden

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