Veröffentlicht am 2020-11-15 In Kirche - Franziskus - Bewegungen, Themen - Meinungen

„Gefährliche Seelenführer? Geistiger und geistlicher Missbrauch“

TAGUNG ZUM GEISTLICHEN MISSBRAUCH, Maria Fischer •

Es war nicht die erste Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit dem Thema geistlicher Missbrauch; in Frankreich und in Österreich hatte es bereits Tagungen zum Thema gegeben. Was war in Leipzig anders? Gleich am Anfang gab es zwei ausführliche, ehrliche, aufwühlende Zeugnisse von Betroffenen geistlichen Missbrauchs in neuen geistlichen Gemeinschaften. Mit Namen, Gesichtern und Geschichte. Das hat verändert, hieß es am Ende der intensiven und im besten Sinne des Wortes anstrengenden Online-Tagung „Gefährliche Seelenführer? Geistiger und geistlicher Missbrauch“. An der Tagung am 12. und 13. November nahmen knapp 400 Personen sowie etliche akkreditierte Journalisten teil.—

Eingeladen hatte dazu die Katholische Akademie des Bistums Dresden-Meißen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bischofskonferenz und der Sächsischen Landesärztekammer. Geprägt war die Tagung der Haltung: #LernendeKirche.

Der Blick auf geistlichen Missbrauch relativiert nicht das Thema sexuellen Missbrauches

„Ein Jahrzehnt liegt zurück, das die katholische Kirche in Deutschland nachhaltig verändert und ihr Selbstverständnis erschüttert hat: die Aufdeckung sexuellen Missbrauchs innerhalb der Institution und dessen systematische Vertuschung durch Verantwortliche. Immer stärker zeigte sich im systemischen Versagen, dass vielfach geistiger und geistlicher Missbrauch vorausging. Erneut war es der Jesuit Klaus Mertes, der dazu aufforderte, das pastorale Handeln selbstkritisch zu hinterfragen“, so Thomas Arnold, Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen beim Auftakt der Tagung. „Inzwischen ist offensichtlich, dass die Rolle der „Seelenführer*innen“ analysiert werden muss, um Integrität und Verlässlichkeit der Pastoral zu garantieren. Dabei geht es nicht um eine Verdeckung bisheriger Schuld, sondern den ehrlichen Umgang mit dem Vorfeld des sexuellen Missbrauchs. Wie schon vor zehn Jahren werden die Reaktionen darauf ambivalent sein. Manche werden in der Thematik eine neue Form der „Nestbeschmutzung“ sehen, andere erkennen darin die Bestätigung ihres Institutionenbildes. Keines von beidem wird dem Anliegen gerecht. Stattdessen geht es um eine Sensibilität, frühzeitig zu erkennen, wo eine Kirche die Freiheit des Einzelnen einschränkt oder in Bezug auf eine transzendente Größe „Gott“ die Entfaltung eigener Persönlichkeit unterdrückt.“

Zuerst die Empathie für die Betroffenen

„Ich nehme wahr, dass wir zu wenig hingeschaut haben, dass wir spirituellen Missbrauch – wie auch bis 2010 sexuellen Missbrauch – zunächst nicht in dem Ausmaß gesehen und ihn für eine Randerscheinung gehalten haben, für eine Verfehlung einzelner Personen. Lassen Sie uns als Kirche den Mut haben, künftig ehrlich mit der Frage des geistigen und geistlichen Missbrauchs umzugehen“, so Bischof Timmerevers  beim Abschluss der Tagung am Freitagnachmittag. „Als Seelsorgerinnen und Seelsorger haben wir eine Verantwortung für das Wohl der Menschen – sie beginnt nicht im Klein-, sondern im Großmachen von Menschen. Lassen Sie uns diese Verantwortung ernst nehmen. Ich bin dankbar für die zahlreichen Impulse aus der Tagung und wiederhole nochmals: Wir sind am Beginn eines Marathons. Mir wurde in den vergangenen 36 Stunden mit den verschiedenen Perspektiven – juristisch, medizinisch und theologisch – , aber vor allem von den Reaktionen der Teilnehmenden, erneut vor Augen geführt: Als katholische Kirche brauchen wir zuerst die Empathie für Betroffene und dafür vielleicht auch einen Perspektivwechsel. Betrachten wir die Thematik aus der Situation der Betroffenen! Wenn wir zuerst fragen, welche Konsequenzen für uns als Institution drohen, verhindern wir den angemessenen Umgang mit Betroffenen.“

Anonymisierte Macht

Geistlicher Missbrauch ist immer ein Missbrauch von Macht – darauf wies Bischof Felix  Genn hin:

Es besteht die Gefahr, dass in einer Organisation oder einem System hinter der Macht scheinbar keine verantwortbare Person mehr steht, dass ein undurchsichtiges und chaotisches System Machtausübung anonymisiert. Wird aber der Einzelne scheinbar der Verantwortung enthoben, weiß sie oder er sich trotz großer Macht anonym, entsteht ein seltsam leerer Raum, von dem die Macht ausgeht und das Subjekt scheinbar ausfällt.“  Daraus die Frage:

Sind Verantwortlichkeiten in den Leitungs- und Begleitungsstrukturen eindeutig benannt und ist Leitung transparent in ihrem Vorgehen gegenüber der zuständigen kirchlichen Autorität? Wer genau ist diese Autorität? Existiert innerhalb kirchlicher Organisationen und Einrichtungen ein klarer und von der internen Leitung unabhängiger Beschwerdeweg für Gläubige, wenn sie einen missbräuchlichen Umgang erlebt haben? Sind forum internum und forum externum klar getrennt?“

Und:

„Um dem Phänomen des geistlichen Missbrauchs nachzugehen, möchte ich hinsichtlich dieser Versuchung, die Gottunmittelbarkeit des Menschen zu korrumpieren, zwei Fragen vorschlagen: Sind Anzeichen erkennbar, dass sich die Leitung mit der Stimme Gottes verwechselt? Sind Anzeichen erkennbar, dass Einzelne der Leitung oder der Gruppierung als ganzer göttliche Autorität zuschreiben?“

Eine Checkliste zur Überprüfung geistlicher Gemeinschaften

Dr. Katharina Anna Fuchs, Psychologin am Psychologischen Institut der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, ergänzte, dass geistiger Missbrauch eine unterschätzte Gefahr mit gravierenden Folgen für die körperliche, psychische und seelische Gesundheit der Betroffenen sei, der neben dem Glauben auch die Beziehung zu Gott erschüttern oder gar zerstören könne. Für die Kirche gelte es nun, die Augen nicht vor geistlichem Missbrauch zu verschließen, sondern den Betroffenen ein offenes Ohr und Glauben zu schenken. „Präventionsmaßnahmen und konkrete Hilfsangebote sollten sich an den Bedürfnissen Betroffener orientieren. Dafür ist interdisziplinäre Zusammenarbeit nötig, bei der auch kirchenexterne Experten einbezogen werden.“ Regelmäßige Schulungen bilden dabei die Grundlage für die Arbeit geistlicher Begleiterinnen und Begleiter. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sollten das transparente Handeln auf allen Ebenen leiten, so Dr. Fuchs.

Die Erfurter Kirchenrechtlerin Prof. Dr. Myriam Wijlens hob hervor, dass es eine Umkehr in der Haltung hin zum Schutz und zu der Würde des Menschen geben müsse. Bezogen auf staatliches Recht solle ein flexibler Entwicklungsprozess stattfinden und erweitert werden, wo erforderlich. Unter Prävention verstehe sie zu reflektieren, wie Menschen in der Kirche gut aufgehoben sein können. Außerdem müssten Faktoren identifiziert werden, die übergriffiges Verhalten implizieren bzw. diesem vorzubeugen. Prof. Wiljens schlug vor, eine Checkliste zur Überprüfung geistlicher Gemeinschaften zu schaffen und anhand dieser regelmäßigen Visitationen in Gemeinschaften vorzunehmen. Sie merkte an, dass Menschen, die sich in Situationen befänden, in denen sie leicht verletzbar seien, besonderen Schutz erfahren müssten. Hierfür benötige es qualifizierte Ansprechpersonen, die auf Grundlage des bestehenden Rechts beraten und zur Aufarbeitung geistigen Missbrauchs beitragen.

Warum ist es so schwer, sich aus Missbrauchsstrukturen zu lösen?

Wer es nicht selbst erlebt hat, so Stephanie Butenkemper, selbst Betroffene, kann es schwer verstehen:

„Durch die Idealisierung der eigenen Gemeinschaft und Lebensweise entsteht eine immer tiefere Kluft zwischen der eigenen Welt und der Welt „da draußen“. „Ich hatte ja meine Gemeinschaft, ich brauchte ja niemand anderen, so dass immer mehr in mir auch dieses Wir- und- die-Anderen-Gefälle irgendwie gewachsen ist. Also Wir, der heilige erwählte Rest, und die anderen, die böse Welt, die es zu meiden gilt irgendwie.“ Allein der Gedanke daran, die Gemeinschaft zu verlassen, ist daher mit existentiellen Verlustängsten verbunden. Die Angst vor Einsamkeit aufgrund der sozialen Isolation und des gemeinschaftlichen Familienbewusstseins. Die Angst vor Verlust des Lebenssinns, der aus der Gemeinschaft und ihren Regeln, Strukturen und Idealen besteht und ohne Alternative ist. Und schließlich die Angst, den eigenen Glauben mit dem Ausstieg zu verlieren, da die Gemeinschaft den Anspruch erhebt, ihre charakteristische Spiritualität sei die „einzig richtige“.

Die Copy&Paste-Falle

Eine Aussage von Stefan Hoffmann als weiterer Betroffener war wie ein Kübel eiskalten Wassers, der über die Teilnehmer ausgeschüttet wurde: Wenn er selbst ein Haus der Gemeinschaft zu leiten gehabt hätte, hätte er mit Sicherheit genauso geistlich missbraucht, denn er hätte nachgemacht, was er erfahren hatte. Denn mehr Anleitung oder gar Ausbildung gab es nicht.

Wörtlich: „In vielen kirchlichen Bewegungen und Gemeinschaften werkeln Menschen – meist ohne jegliche Ausbildung und Qualifikation zur geistlichen Begleitung – im Leben anderer herum und beeinflussen grundlegende Lebensentscheidungen nachhaltig und nicht immer zum Guten. (…)

Externe verpflichtende Präventionsschulungen sollten „verhindern, dass Menschen geistlichen Missbrauch erfahren müssen oder dass sie aus gutem Willen und ohne böse Absicht selbst Schaden im Leben anderer Menschen anrichten. Wenn Gemeinschaften und Bewegungen dies nicht als notwendig erachten oder der Ansicht sind, dass ihre Spiritualität so besonders ist, dass sie von einer externen Person sowieso nicht verstanden und beurteilt werden kann, dann zeigen sie den Bedarf dadurch nur umso dringlicher an.

Missbrauch

„Handbuch für Täter“

Drastisch stellte Dr. Günter Klug in einem „Handbuch für Täter“ Denkanstöße zur Selbstüberprüfung. Hier nur vier der elf Regeln:

Regel 3: Kontrollieren Sie die Umgebung der Person und besonders ihre Zeit. Je mehr Zeit in Ihrer Organisation verbracht wird, desto weniger bleibt für Kontakte nach außen und Reflexion. Durch Kontrolle von Information und Kommunikation isolieren Sie Ihre Zielgruppe vom Rest der Gesellschaft. Bei nicht systemkonformem Verhalten veranlassen Sie Distanz und Meidung durch die Gruppenmitglieder.

Regel 4: Betonen Sie die Einzigartigkeit der Gruppe. Sie ist durch besondere Erfahrungen herausragend. Die Mitglieder sind auserwählt, alles andere wird unwichtig, Widerstand wird bekämpft.

Regel 5: Manipulieren Sie die Sprache der Gruppe, die Wörtern und Sätzen neue Bedeutungen gibt. Das neue Verständnis für Insider wird für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Der Insiderjargon und die dazu passende Haltung engt die kritische Denkfähigkeit der Menschen ein, innere Zensur entsteht. Besonders kritische Worte: Einheit, Treue, Vergeben, Hingabe, Dienen.

Regel 10: Drohen Sie mit der Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung. Mitglieder sind elitär, Nicht- Mitglieder minderwertig. Wer geht, verliert alles, wird es nie mehr schaffen.

„Einerseits sind wir nach dieser Tagung demütig schweigend angesichts des Leids durch spirituellen Missbrauch“, so. Akademieleiter Dr. Arnold,  „andererseits schreit das erlangte Wissen danach, innerhalb der Kirche ein neues Bewusstsein für charismatische Leitung, die Defizite existierender Machtstrukturen und deren teils spirituelle Überhöhung zu entwickeln. Lassen Sie uns den Marathon gemeinsam begehen. Es wird eine weite Strecke zur Freiheit.“

Kategorie „Kirche“ oder?

Nach zwei Urlaubstagen für 36 Stunden Teilnahme an dieser Tagung die Frage: Und nun? Ein wichtiges Thema für die Kategorie „Kirche“, die wir auf schoenstatt.org immer mit besonderer Aufmerksamkeit pflegen, nicht nur wegen des Dilexit Ecclesiam Pater Kentenichs und des solidarischen Bündnisses mit Papst Franziuskus, sondern weil wir als Schönstatt eben Kirche sind. Oder doch eine andere Kategorie? Doch eine andere Kategorie.

Mit den Anschuldigungen und Veröffentlichungen zum möglichen Macht- und Gewissensmissbrauch durch Pater Kentenich sind wir als Redaktion und nicht nur wir aufmerksam geworden, nicht erstmals, aber intensiver, auf das Thema Missbrauch von Macht, Missbrauch geistiger und geistlicher Art in Schönstatt, als Gefahr und auch als Realität, wie die Briefe der Jugend Chiles oder Brasiliens und der Artikel von Luciana Rosas deutlich machen.

Gehen wir den Marathon zur Freiheit an.

 


Eine ausführliche Tagungsdokumentation findet sich in der Sonderpublikation „Herder Thema“, Gefährliche Seelenführer? Geistiger und geistlicher Missbrauch. Das Heft erscheint am 16.11.2020 und ist auch als E-Book erhältlich.

Verlag Herder
1. Auflage 2020
Geheftet
64 Seiten
ISBN: 978-3-451-02747-5
Bestellnummer: P027474
E-Book:
ISBN: 978-3-451-82221-6
Bestellnummer: P822213

 

 

 

 

 

Schlagworte: , , , , , , , ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert