Veröffentlicht am 2020-10-22 In Themen - Meinungen

Missbrauch in Schönstatt – darüber müssen wir reden

Luciana Rosas, Brasilien •

Angesichts der Diskussionen über die Vorwürfe gegen Pater Kentenich, den Gründer der Schönstatt-Bewegung, und vor allem über die Art und Weise, wie die Angelegenheit in verschiedenen Kreisen in Schönstatt, einschließlich des Generalpräsidiums, behandelt wurde und wird, ist es zwingend notwendig, den Dialog und die Diskussion über das Thema „Missbrauch“ in Schönstatt in einer offenen, transparenten und objektiven Weise zu führen. Bisher ist viel über sexuellen Missbrauch gesprochen worden – was verständlich ist wegen seiner Folgen für das Leben der Menschen, weil es in der Regel Minderjährige betrifft und zivil- und strafrechtliche Sanktionen impliziert -; wenig Bedeutung wird jedoch bisher Machtmissbrauch und Gewissensmanipulation in Schönstatt und in der Kirche im Allgemeinen beigemessen, zum einen, weil es schwierig ist, die Missbräuche zu beschreiben und zu beweisen, und zum anderen, weil sie nicht so verheerend zu sein scheinen wie sexueller Missbrauch. —

 

Ich halte es für wichtig, die Ziele, die mich bei diesem Artikel leiten, und die Gründe zu klären, warum es notwendig ist, die Diskussion über die Missbräuche, die innerhalb der Schönstattstruktur auftreten, auszuweiten (oder vielleicht zu beginnen).

  1. Da ist dieses Gefühl von „Still ruht der See“ in Bezug auf das Thema der gegen Pater Josef Kentenich ausgesprochenen Anklagen, das Schweigen zum Fortgang der Arbeiten und den ersten Eindrücke von den Dokumenten, die in den vatikanischen Archiven zugänglich sind;
  2. Es ist bereits viel zu diesem Thema geschrieben, diskutiert und debattiert worden, aber immer mit „Blick von außen“, d.h. von Menschen, die die Situation kritisch und analytisch untersuchen, ohne jedoch selbst eine missbräuchliche Situation erlitten zu haben. Ich glaube, dass es ein wichtiger – und notwendiger – Beitrag sein kann, das Thema aus der Perspektive derer zu analysieren, die innerhalb Schönstatts darunter gelitten haben;
  3. Wir sollten anfangen, uns dem Thema „Missbrauch“ nicht nur aus der sexuellen Perspektive zu nähern, was im Allgemeinen männliche Gemeinschaften – ohne auf sie beschränkt zu sein – impliziert, sondern auch Machtmissbrauch und Gewissensmanipulation, die Schwierigkeit ihrer Überprüfung und Verifizierung, ihre Breite und ihr hohes Maß an Auswirkungen auf die Opfer, auch – und besonders – in weiblichen Gemeinschaften. Darüber müssen wir reden.

 

Ausgehend von einer persönlichen Erfahrung

Am 1. Juli 2020 traf mich eine Bombe. Es traf die Information ein, dass am nächsten Tag schwerwiegende Anschuldigungen gegen Pater Kentenich über sexuellen Missbrauch, Macht- und Gewissensmissbrauch veröffentlicht werden würden. Tatsächlich lag der gesamte Fokus auf den sogenannten „sexuellen Missbräuchen“, die angeblich bekannt geworden sein sollten, wobei den anderen Missbräuchen, die in dem zu veröffentlichenden Material enthalten sein sollten, keine größere Bedeutung beigemessen wurde.

Am 1. Juli 2020 traf mich eine Bombe. Es traf die Information ein, dass am nächsten Tag schwerwiegende Anschuldigungen gegen Pater Kentenich über sexuellen Missbrauch, Macht- und Gewissensmissbrauch veröffentlicht werden würden. Tatsächlich lag der gesamte Fokus auf den sogenannten „sexuellen Missbräuchen“, die angeblich bekannt geworden sein sollten, wobei den anderen Missbräuchen, die in dem zu veröffentlichenden Material enthalten sein sollten, keine größere Bedeutung beigemessen wurde.

Es mag narzisstisch und sogar egoistisch erscheinen, wenn ich sage, dass es für mich eine Bombe war, denn in Wirklichkeit war es eine Bombe für die gesamte Schönstattfamilie. Dies wurde bereits in mehreren wertvollen Artikeln hier auf schoenstatt.org diskutiert und angesprochen. Für mich wurde es zu einem Wirbelsturm von Gefühlen, denn die Nachricht kam zu einer Zeit, als ich mich selbst mit den Machtmissbräuchen und Gewissensmanipulationen, die ich innerhalb Schönstatts erlitten hatte, auseinandersetzte und die Schwierigkeiten spürte, dies ausgerechnet mitten in diesem komplizierten Jahr 2020 zu tun. Deshalb möchte ich einen Beitrag zu diesem Thema aus der Perspektive von jemandem, der Missbrauch erlebt hat, angehen.

Alles hat sich immer weiter hochgeschaukelt, wenn man die Entwicklung des Themas in den verschiedenen Schönstattkreisen verfolgt. Forderungen nach Transparenz in allen Bereichen. Transparenz. Offenheit. In die Augen eines jeden zu schauen und die Fakten wahrheitsgetreu wiedergeben zu können. Ohne Schleier. Respekt für die Familie, der sich darin äußern sollte, dass heikle Angelegenheiten innerhalb derselben Familie geteilt werden, und nicht, dass wir von Presseartikeln anderer überrascht werden sollten. Viele von uns fühlen sich verraten. Ich auch.

Über drei Monate nach diesem anfänglichen Beben scheint es mir, dass wir in dieser Frage wenig Fortschritte gemacht haben. Die Forderung – ja, warum nicht „Forderung“ sagen? – nach Transparenz scheint nicht wirklich gehört worden zu sein. Seit einigen Wochen arbeitet der Postulator, P. Eduardo Aguirre, in den Vatikanischen Archiven, aber gehört hat man davon noch so gut wie nichts.

Auffallend ist auch die starke Konzentration auf die Heiligsprechung Pater Kentenichs, als ob es in Wirklichkeit mehr als auf die Klärung der Fakten vor allem darauf ankäme, den Prozess als solchen in Gang zu halten. Der Heiligsprechungsprozess ist eine Folge des Lebens, das der Gründer des Werkes gelebt hat, und der Übernahme der Sendung in ihrer ganzen Fülle durch die Erben der Schönstattsendung. In diesem Sinne sollten wir neben der geschichtlichen Aufklärung und der Präsentation der Analysen und Schlussfolgerungen (und natürlich der notwendigen Dokumente, auf denen sie beruhen) diese von der göttlichen Vorsehung weit geöffnete Tür nutzen, um zu erörtern, welche Elemente in Schönstatt bisher nicht ausreichend diskutiert und verstanden worden sind – und auf welche auch die Kirche hingewiesen hat? -, die zu Verzerrungen bei der Anwendung von an sich absolut gültigen Prinzipien führen können.

Diese Art des Umgangs mit wichtigen und widersprüchlichen Angelegenheiten bringt uns an einen heiklen Punkt und der Ursache verschiedener Konflikte in Schönstatt, nämlich die berühmte schönstättische Geheimhaltungspolitik.

Geheimhaltungspolitik in Schönstatt

Für diejenigen von uns, die schon lange zu Schönstatt gehören, klingt die Verwendung des Begriffs „Geheimhaltung“ sicher nicht neu. Je nach Geschichte und Erfahrung in Schönstatt stoßen wirfrüher oder später sicherlich auf ein (oder mehrere) „Tabuthemen“.

In dem vieldiskutierten Artikel „Sieben Thesen zur aktuellen Diskussion um Pater Josef Kentenich“ heißt der erste angesprochene Punkt „Offenheit statt Geheimniskrämerei“.  „Es löst verständliche Betroffenheit aus und beschädigt das Vertrauensverhältnis, wenn in einer Familie „Geheimnisse“ ans Tageslicht kommen, die lange Zeit „unter dem Teppich“ gehalten wurden.“

Das war der Fall bei den Anschuldigungen gegen Pater Kentenich, und so wird es bleiben, bis die Verantwortlichen der Familie begreifen, dass sich die Zeiten geändert haben, dass die Behandlung der Dinge der heutigen Zeit angepasst werden muss. Es ist nicht mehr möglich, „Geheimnisse“ zu bewahren, wie es vor 50 Jahren der Fall war. Die Leichtigkeit des Zugangs zu Informationen sowie die Untersuchungen und der Druck bezüglich Veröffentlichung und Zugang zu den Texten und Studien Pater Kentenichs – die heute nur im absolut beschränkten Umfeld der Gemeinschaften und im Allgemeinen in deutscher Sprache zirkulieren – werden uns zwingen, Truhen zu öffnen, die bisher verborgen geblieben sind.

Auch die Vorwürfe des Missbrauchs innerhalb der Schönstattstruktur dürfen nicht als Tabus behandelt werden oder als Angelegenheiten, die „versteckt“ oder hinter vorgbehaltener Hand geflüstert werden müssen, um das Bild einer Gemeinschaft vor anderen in Schönstatt oder auch vor Kirche und Gesellschaft zu schützen. Dokumente einer Missbrauchsuntersuchung in einer konkreten Gemeinschaft wie ein internes Geheimpapierokument zu behandeln und nicht einmal den Opfern Zugang zu den gesammelten Informationen zu gewähren mit der Begründung, dass „dies die Regeln sind“, entspricht nicht mehr den aktuellen Herausforderungen. Regeln der Gemeinschaft. Dass ist keine Antwort auf das Leben.  Geheimhaltung wie bisher üblich hat keinen Bestand, geschweige denn wird sie in Zukunft aufrechterhalten werden können.

Wie Wilfried Röhrig und Klaus Glas gut zusammenfassen: Aufklärung und Transparenz sind für eine Gemeinschaft unabdingbar. Besonders und erst recht für eine Familie.

Aus dieser schönstättischen Geheimhaltungspolitik fließt eine Strömung, die ich „Schönstattkatakomben“ nenne. Und was sind diese Katakomben? Das sind jene „versteckten“ Räume, in denen Menschen sich frei fühlen, ihre Meinung unzensiert zu äußern. Es gibt immer noch viele Verhaltensweisen, Haltungen und Meinungen, die in einem institutionellen Rahmen vorgegeben und dann in verborgenen Umgebungen widerlegt oder über die nur in diesen Katakomben geredet wird.

Als Mitarbeiterin dieses offenen Informationskanals Schönstatts  – der eben nicht als Katakombe sondern als offener Raum gedacht ist – habe ich erlebt, wie es bei den einfachsten Dingen, wie dem Kommentieren eines Artikels oder dem Äußern einer persönlichen Meinung, bei sehr vielen an innerer Freiheit mangelt. „Was wird mein Vorgesetzter denken? Meine Diözesanleitung? Werden sie nicht mit mir schimpfen?“. Und in den so genannten Katakomben findet ein Austausch von Meinungen und Beiträgen statt. Schönstatt, Königreich der Freiheit. Offenbar die Freiheit der anderen.

Geheimhaltung ist Mangel an innerer Freiheit. Das Schönstatt des neuen Menschen in der neuen Gemeinschaft kann aufgrund seiner ihm eigenen Struktur keine Katakomben brauchen, in denen Meinungen hinter vorgehaltener Hand geflüstert werden.

Visitator Steins Gesichtspunkte und die aktuelle Wirklichkeit Schönstatts

Angesichts der ersten Motivation für diesen Artikel, beim Nachdenken über die vorgestellten Anklagen und die ganze Diskussion, die darauf folgte, kommt mir als erstes immer wieder die Frage in den Sinn: Hat Bernhard Stein wirklich nichts von Schönstatt verstanden? War er tatsächlich vom „Bazillus des Mechanismus“ infiziert, wie es in der Epistola perlonga Pater Kentenichs nachzulesen ist? Diese Fragen zu beantworten ist keine leichte Aufgabe, aber es ist notwendig, diesen Diskussionspunkt zu eröffnen und ihn nicht nur lapidar mit dem üblichen „Er hat Schönstatt nicht verstanden“ abzuhandeln, wie wir es oft in unseren Kreisen hören ist, oder als ein Spiel, in dem es das Team Pater Kentenich und das Team Stein (Kirche) gibt.

 

1 Prinzip versus Anwendbarkeit

In einem Vortrag von Ignacio Serrano del Pozo (Schönstatt-Männerbund) vor der Familie von Rancagua, Chile (Link auf Spanisch), in dem er versucht, den historischen Kontext der Vorwürfe zu erklären, werden die wichtigsten Punkte aus dem Bericht des Visitators Bernhard Stein zu der zwischen dem 19. und 28. Februar 1949 stattgefundenen Visitation erläutert. Wenn man liest, was in dem Bericht beschrieben wird, kann man sehr gut verstehen, dass die Kritik nicht das Prinzip betrifft, auch nicht das pädagogische Prinzip, sondern die Anwendbarkeit und die Fehlinterpretationen, die daraus entstehen können, wie Ignacio in seiner Erklärung hervorhebt.

“Das „Problem Schönstatt“ ist nicht so sehr dogmatisch-doktrinär, als vielmehr erzieherischpraktischer Art. Die theologische Gedankenwelt ist ihrem Inhalte nach orthodox und kirchlich.(…) Doch muss auf Grund des Ergebnisses der kanonischen Visitation warnend hingewiesen werden auf gewisse Gefahren, Entgleisungen und Fehlentwicklungen, die sich aus der praktischen Durchführung von in sich einwandfreiendogmatischen und pädagogisch-pastoralen Prinzipien ergeben können und tatsächlich ergeben haben. („Bericht“ über die kanonische Visitation, Weihbischof Dr. Bernhard Stein).

Dies sollte unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, da wir derzeit mit mehreren Anschuldigungen wegen Missbrauchs durch Erben der Sendung Pater Kentenichs konfrontiert sind. Es geht nicht darum, das Prinzip zu verurteilen, sondern darum, wie dieses Prinzip in den Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Autorität und Gemeinschaftsmitgliedern, zwischen Beratern und Mitgliedern der Schönstattfamilie angewandt wird.

Das Nichtverstehen des Prinzips, oder besser gesagt, sein nicht angemessener Gebrauch, kann unweigerlich zu autoritären und missbräuchlichen Haltungen von Menschen führen, die Macht haben, sei diese institutioneller (als Vorgesetzte von Gemeinschaften) oder moralischer (wenn es um Vertrauens- und/oder Schutzbefohlenen-Beziehungen geht) Natur.

Aber das Verständnis für dieses Thema kann nur in dem Maße gegeben werden, wie Schönstatt als Ganzes offen ist für die Diskussion des Themas. Es gibt keine Möglichkeit zu arbeiten, zu klären und zu kämpfen, damit sich Missbrauchssituationen nicht wiederholen, wenn es keine institutionelle Offenheit für die offene Diskussion dieses heiklen Punktes gibtDenn die Ausbildung von Beratern (Standesleitern) – zum Beispiel – in missbräuchlichen Umgebungen kann dazu führen, dass sich das Muster in der Leitung von Gliederungen der Schönstattfamilie wiederholt.

2Vaterschaft versus Innere Freiheit

Ein weiterer wichtiger Punkt, auf den der Visitator Stein hinwies, ist die Beziehung Pater Kentenichs zur damaligen Gemeinschaft der Marienschwestern,  eindeutig weil diese damals die größte und am besten konstituierte Gemeinschaft war. In dieser Beziehung wird das Vaterprinzip in Frage gestellt, ebenso wie die zentrale Stellung der Person Pater Kentenichs im Gemeinschaftsleben der Marienschwestern, was zu einem Mangel an innerer Freiheit führen könne, da alles dem Willen des „Vaters“ unterworfen sei.

Als Schönstätter sagen wir immer, dass wir Teil einer Familie sind, und als Familie sollte es darin die Figur von Vater und Mutter geben. Vom Prinzips her sollte das, wenn es gut formuliert und angewandt wird, nicht zu Verzerrungen führen, aber das Fehlverständnis des Prinzips kann zur Assoziation der Unfehlbarkeit entweder des Vaters oder der Mutter führen, was absoluten, unbezweifelbaren, blinden Gehormsam und völligen Mangel an Freiheit, einen anderen Standpunkt zu hinterfragen und darzustellen, bedeutet. Wie heißt das? Mangel an innerer Freiheit, wie Stein in einem Absatz seines Berichtes hervorhebt:

Obwohl der Visitator nur einen Bruchteil der Schwestern näher kennenlernte, glaubt er sich dennoch zu dem gewiß schwerwiegenden Urteil insofern berechtigt, als er gerade bei der Aussprache mit den leitenden und mit der Erziehung der Schwesternfamilie beauftragten Schwestern immer und immer wieder auf die für die Marienschwestern so charakteristische innere Unfreiheit, Unselbständigkeit und Unsicherheit stieß. Zwar sind diese Schwestern durchweg wertvolle und zum großen Teil auch geistig hochstehende Menschen. Doch ist ihre Bindung an die faszinierende Persönlichkeit des Leiters der Bewegung derart stark und eng, dass seine Entscheidungen und Maßstäbe für sie praktisch letzte Norm bedeuten. Diese Einstellung wurzelt teils in der tatsächlichen Überzeugung von der persönlichen Unfehlbarkeit des Herrn P. Kentenich, teils in primitiver, ungesunder „Kindlichkeit“, teils in Angst. –(„Bericht“ über die kanonische Visitation, Weihbischof Dr. Bernhard Stein.)

Deshalb lohnt es sich, die Diskussion über die Visitation zu erweitern und zu vertiefen, hinter die Schleier zu blicken, die uns oft auferlegt werden, oder sogar die Position Pater Kentenichs auf der einen Seite und der Kirche auf der anderen Seite – in der Person des Visitators Stein – zu überprüfen.

 

Geistlicher Missbrauch

Es dauert lange, bis man erkennt, dass man unter geistlichem Missbrauch leidet. Dieses Konzept wird in dem Buch Geistlicher Missbrauch: Die zerstörende Kraft der frommen Gewalt von David Johnson und Jeff Van Vonderen entwickelt. Vor allem dann ist es schwer für die Opfer von geistlichem Missbrauch, wenn die Gemeinschaft – die Familie – nicht handelt, um zu schützen und geistlichen Missbrauch im Ansatz zu unterbinden.

In diesem Buch befassen sich die Autoren mit der Schwierigkeit, den erlittenen Missbrauch zu verstehen und ihn zu melden:

  1. In einem missbräuchlichen System werden Sie als das „Problem“ bezeichnet, wenn Sie ein Problem bemerken;
  2. Wenn man den Missbrauch offen beim Namen nennt, hat man das Gefühl, seiner Familie, der Kirche und sogar Gott gegenüber untreu zu sein;
  3. Diejenigen, die spirituellen Missbrauch als etwas „Normales“ erlebt haben, haben den Überblick darüber verloren, was wirklich normal ist, so dass es übertrieben klingen mag, diese Erfahrung „Missbrauch“ zu nennen;
  4. Auch das menschlich verständliche mentale Anästhesie ist eine Schwierigkeit. Diese „mentale Anästhesie“ ist eine von Gott gegebene Fähigkeit, den Eindruck zu starken emotionalen, psychologischen oder spirituellen Schmerzes zu verzögern oder zu verringern;
  5. Unterdrückung, weil das, was Sie erleben, jenseits von allem liegt, was Sie bewusst verarbeiten können;
  6. Die Scham, sich einzugestehen, dass Sie sich erlaubt haben, in einem eindeutig missbräuchlichen Umfeld zu bleiben.

Ich wage,  zwei weitere Elemente hinzuzufügen: Angst und Ablehnung. Im Gegensatz zu dem, was oft über die Aufnahme von Opfern gelesen wird, ist die Angst vor der Denunziation und die Ablehnung, die diejenigen erleiden, die den Missbrauch hervorgerufen und die ihn zugelassen haben – die in vielerlei Hinsicht eine größere Verantwortung tragen als der Missbraucher selbst – ein unglaublich tiefer Schmerzfaktor.

Es ist zwingend notwendig, über Machtmissbrauch und Gewissensmanipulation in religiösen Kreisen und auch in Schönstatt zu sprechen, auch weil aus diesen Missbräuchen heraus die sexuellen Missbräuche, die angeprangert werden, entstehen oder zumindest gedeckt werden können. Eben durch dieses Vertrauen, dass der Missbraucher eine Repräsentation des Göttlichen ist, der diese Missbräuche zulässt. Und auch durch das Schuldgefühl, das die Person erlebt, die den Missbrauch erlitten hat.

Deshalb gibt es einen klaren Aufruf, die Anklagen gegenüber Pater Kentenich – die dokumentarisch und gründlich  geklärt werden müssen – zu extrapolieren, um zu verstehen und zu diskutieren, welche von der Kirche aufgeworfenen Punkte in Schönstatt wenig erforscht und studiert worden sind und die heute Verzerrungen der Anwendbarkeit des pädagogischen Prinzips Schönstatts zulassen.

 

Familie?

Ich habe mich oft gefragt: Sind wir wirklich Teil einer Familie? Oder werden wir wie kleine Kinder behandelt, werden wir infantilisiert, als Menschen betrachtet und behandlet, denen die kritische Fähigkeit fehlt, bestimmte Informationen zu erhalten und zu verarbeiten? Was sind die Kriterien – und wer bestimmt sie – für den Zugang  oder nicht der „normalen“ Mitglieder der Schönstattfamilie zu bestimmten Themen?

Wenn wir eine Familie sind, gehören wir zu einem Kreis des Vertrauens, in dem all diese Fragen in Liebe, Freiheit und gegenseitigem Respekt aufgenommen und diskutiert werden. Einen Deckel auf ein Problem zu legen, löst es nicht, im Gegenteil, es schafft mehr Misstrauen und Desinformation. Wenn wir uns als Familie darstellen, müssen wir mehr die Grundprinzipien des gesunden familiären Umfelds praktizieren: die Gelassenheit,  so zu sein, wie wir sind, Vertrauen in das Aussprechen unserer Themen (was auch immer sie sein mögen) und Transparenz im Umgang mit diesen Themen.

 

Es geht nicht um Pater Kentenich, sondern um die Frage: Wie handeln die geistlichen Erben Pater Kentenichs?

Indem wir uns mit Distanz und Reife den Anklagen nähern, die gegen Pater Kentenich erhoben wurden – und von denen wir noch auf eine formelle Stellungnahme zum Fortschritt der gegenwärtigen Arbeit warten -, können wir eine Einladung Gottes wahrnehmen, damit wir als Erben der Mission unsere Handlungsweise revidieren können. In besonderer Weise diejenigen, die Positionen und Verantwortlichkeiten in der Leitung von Menschen in Schönstatt haben.

Ich glaube, dass es in dieser Hinsicht eine direkte Einladung der Vorsehung gibt. Vielleicht könnten wir ein wenig den Fokus vom Anliegen der Heiligsprechung  (die mehr als Ursachen eine Folge sein wird) wegnehmen, und diesen Moment nutzen, um als Schönstattfamilie zu wachsen und zu reifen.

Ausgehend von der Annahme, dass das Problem nicht im Prinzip oder in den Prinzipien, sondern in der Praxis, in der Anwendung liegt, können wir klar erkennen, dass Schönstatt noch einen langen Weg in diese Richtung gehen muss. Ich hoffe, dass die Einladung, die Gott an uns richtet, angenommen und in vollem Umfang erfahren wird. Mögen wir ein schöner Ort sein, an dem das Prinzip der Wahrheit und Transparenz herrscht.

 


Luciana Rosas ist 39 Jahre alt und lebt in Curitiba, Brasilien. Sie ist Betriebswirtin und angehende Psychologin. Sie ist Übersetzerin und Social Media Managerin für schoenstatt.org.
Seit 1994 ist sie Mitglied der Schönstatt-Bewegung. Sie arbeitet zu Fragen der Verteidigung von Frauen, der Einbeziehung von Minderheiten und der Menschenrechte. Gegenwärtig erforscht sie die Auswirkungen von Grenzfragen auf die Kirche, insbesondere Fragen von Macht-, Gewissens-, spirituellem und sexuellem Missbrauch.
Träumerin und Kämpferin. Leidenschaft für Schönstatt und Freiheit.

 

 

Original: Portugiesisch, 22.10.2020. Übersetzung: Maria Fischer @schoenstatt.org

 

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