Balancekünstler

Veröffentlicht am 2023-09-09 In Kentenich

Ein anderer Blick auf Josef Kentenich – Balancekünstler

P. Elmar Busse •

Wenn man mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse der Kommunikationswissenschaft oder der Keyword-Recherche aus dem Marketing an die Veröffentlichungen über P. Josef Kentenich geht, dann findet man als Bildmarke oder Logo „Kentenich“ den schneeweißen Rauschebart, als Keywords: „baldige Heiligsprechung“, „immer“, und seit 2020: „Missbrauch“. Wir möchten in der folgenden Artikelserie einen anderen Blick auf Kentenich werfen– weder den auf den Nikolaus mit Rauschebart noch den auf den Heiligsprechungskandidaten, aber auch nicht nur auf den des Machtmissbrauchs oder geistlichen Missbrauchs Verdächtigten. —

Die sehr positive Resonanz auf vor ca. 30 Jahren verfasste und leicht aktualisierte Texte von P. Elmar Busse hat ihn dazu motiviert, im gleichen Stil weitere „andere Blicke“ auf Pater Kentenich vorzustellen, verfasst in diesem Jahr 2023. Wir erhoffen uns auch mit diesen neuen Texten, jenseits der gängigen Attributionen einen neuen, lebendigen Blick auf die vielschichtige Gründergestalt zu ermöglichen und dadurch die Neugier zu wecken, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen. Wir meinen: Es lohnt sich!

In 60 Meter Höhe über den Stephansplatz

Am 24. Mai 2013 gab es in Wien eine besondere Attraktion, die vom Stephansplatz aus bewundert werden konnte. Da balancierte nämlich der Tiroler Christian Waldner in 60 m Höhe vom großen Steffl-Turm zum Heidenturm und wieder zurück. Auf einer 2,5 cm breiten Slackline legte er die Strecke barfuß zurück. Natürlich hatte er sich mit einem Hüftgurt an der Slackline gesichert. (Mehr hier).
Ich selbst habe einmal bei einem Familientreffen in Memhölz versucht, mich ein paar Sekunden auf einer Slackline zu halten, die ein Betreuer nur 15 cm über dem Boden zwischen zwei Bäumen gespannt hatte. Vergeblich. Umso mehr bewundere ich Sportler, die sich auf einer solchen Leine nicht nur halten, sondern auch noch Sprünge machen und wieder sicher auf der Leine landen. Während meiner Reha haben wir in der Gymnastik auch Gleichgewichtsübungen trainiert. Aber die waren vom Schwierigkeitsgrad her viel, viel einfacher. Welche Signale senden die Nervensensoren an das Gehirn und wie muss man mit den entsprechenden Muskeln gegensteuern, damit man sich zum Beispiel auf einem Bein halten und mit dem anderen Bein Bewegungen ausführen kann? Menschen mit Ohrenproblemen können ein trauriges Lied davon singen, wenn das Gleichgewichtsorgan verrücktspielt.

Polare Werte in Balance halten

Auch in der Persönlichkeitsentwicklung ist immer wieder ein Ausgleich notwendig. Denn alle Werte, nach denen wir streben, haben einen polaren Wert.

Großzügigkeit ist ebenso ein Wert wie Sparsamkeit. Freiheit zu lassen ist in der Kindererziehung ebenso wichtig wie Grenzen zu setzen. Spontaneität gehört ebenso zu einem lebendigen Dasein wie Zielstrebigkeit. Oft ist es notwendig, Geheimnisse für sich zu behalten, aber seelisch-geistige Nähe kann nur dort wachsen, wo ich mich vertrauensvoll öffne und mitteile.

Pater Kentenich sprach vom Prinzip der Spannung, das die ganze Schöpfung durchzieht. Eine der unglückseligen Folgen der Erbsünde ist, dass wir alle in gewisser Weise eine Schlagseite haben. Das heißt, wir neigen von Natur aus dazu, das, was uns leichtfällt, immer weiter auszubauen, bis wir es übertreiben. Und dann wird aus einem Wert seine Degeneration. Nicht umsonst gibt es das Sprichwort „des Guten zu viel! Aus Zielstrebigkeit kann Sturheit werden, aus Spontaneität chaotisches Verhalten, was die Zusammenarbeit mit solchen Typen sehr erschwert. Ein Mensch, der sein Sicherheitsbedürfnis übermäßig pflegt, wird zum Langweiler. Der Abenteurer kann Risiken unterschätzen und tragisch enden.

Spannungen

Für wie bedeutsam Pater Kentenich das Spannungs- oder Polaritätsprinzip gehalten hat, wird in folgendem Text deutlich:

„Auf der natürlichen Ebene stoßen wir – ohne lange Untersuchungen anstellen zu müssen – auf das spannungsreiche Geschlechter- und Generationsprinzip, auf das weckende Individuations- und Sozialisierungsprinzip, sowie auf das stetig wirksame Selektions- und Massenprinzip, ganz abgesehen vom Nationalitäten- und Weltbürgertumsprinzip.

Gott weiß in seiner unerforschlichen Weisheit den endlosen Spannungsreichtum, der in all diesen Prinzipien grundgelegt ist, für Verwirklichung seiner Liebespläne mit der menschlichen Gesellschaft glänzend auszunützen. Ein Gleiches gilt von dem Verhältnis zwischen Natur und Gnade und den einzelnen Personen im Schoße der heiligsten Dreifaltigkeit. Hier auf Erden geht es Gott um das Ideal der Spannungseinheit, das in der visio beatae ausmündet in eine vollkommene Ordnungseinheit.

Wir versuchen, diese geheimnisreiche Regierungsweise und -weisheit des ewigen Vatergottes so vollkommen nachzuahmen, als es einem sterblichen, einem erbsündlich belasteten Menschen möglich ist. So formulieren wir das göttliche Regierungsprinzip für unseren Gebrauch kurz und knapp so: Autoritär im Prinzip, demokratisch in der Anwendung. Klarer ausgedruckt: In unserer Regierung stehen wir unerschütterlich auf dem Boden der Autorität, sind aber in Anwendung und Auswirkung dieser Autorität – ähnlich wie Gott – überaus einfühlend und rücksichtnehmend auf die individuellen und sozialen Bedürfnisse der Natur. Oder: Wir sind autoritär im Prinzip, aber weitestgehend demokratisch in der Anwendung dieser Autorität. Auf solche Weise glauben wir – soweit das für Menschen möglich ist – Gottes allweise und unerreichbare Regierungsweise nachzuahmen.

Nach seinem Vorbilde arbeiten wir überall, wo uns Freiheit gelassen ist, in hervorragender Weise mit den vom Weltenschöpfer und Weltenregenten in die Natur hineingelegten Spannungsgesetzen. Es sei wiederholt: Wir sind ‚autoritär im Prinzip, aber demokratisch in der Anwendung‘, wo wir es mit Menschen und Menschenführung zu tun haben.

Der Satz klingt sehr einfach. Fast hätte ich gesagt: Er sieht recht unschuldig aus. Wir haben ihn ungezählt viele Male in Kursen gehört, haben ihn wohl auch nicht selten selbst gebraucht. Ob uns aber dabei der volle Sinn je aufgegangen ist? Ob wir uns je darüber klar geworden sind, dass wir hier den Schlüssel in der Hand haben, der die vielverzweigte Schönstattgeschichte von der menschlichen Seite aus vollauf verständlich macht: Mag es sich dabei um Organisation oder um Regierung oder um persönliche Führungsfragen handeln?“ [„Krise um Regierungsformen“. Studie vom September 1961]

Gegensätze ziehen sich an… irgendwie

Vom „agere contra“ (= gegensteuern) und vom „agere a natura“ (der natürlichen Sehnsucht folgen) hat Pater Kentenich, der ein guter Beobachter und Erzieher war, immer wieder gesprochen. Beide Strategien gehören zur inneren Freiheit, die für die seelisch-geistige Entwicklung unerlässlich ist.

Wenn zu Beginn einer Partnerschaft oft der sprichwörtliche Funke überspringt, dann gerade deshalb, weil der andere den polaren Wert, der einem selbst irgendwie fehlt, so offensichtlich verkörpert, dass er sofort sichtbar und spürbar wird.

Die spontane Studentin bewundert den zielstrebigen Kommilitonen. Der zielstrebige Student lässt sich von seiner Freundin hinter den Büchern hervorlocken und unternimmt mit ihr verrückte Dinge, um nicht zum Streber zu werden. Doch Jahre später in der Ehe hagelt es Vorwürfe: „Du sturer Bock!“ – und als Retourkutsche: „Du alte Chaotin!“ – Beide haben sich nicht sehr verändert, aber der Blick auf den polaren Wert des anderen hat sich vom Goldgräber- zum Mistkäferblick gewandelt. Nur im alten Ägypten war der Mistkäfer, der Skarabäus, ein Glückssymbol. In der Partnerschaft ist der Mistkäferblick die Ursache für chronischen und zermürbenden Streit. Denn jeder kritisiert den anderen vom Podest des eigenen Wertes aus, ohne sich einzugestehen, dass ihm eine kleine Portion des polaren Wertes guttun würde.

Um den Blick für die Werte, ihre polaren Werte und ihre jeweiligen Entartungen zu schärfen, kann man bei gemeinsamen Autofahrten ein kleines Spiel machen: Einer nennt ein Eigenschaftswort und der andere muss sowohl den polaren Wert als auch die beiden Entartungs- bzw. Übertreibungsformen finden. Wenn man sich dabei in die Haare gerät, kann man kurz Luft holen und innehalten, die Situation analysieren und sich fragen, ob man wieder einmal dem Spannungsprinzip aufgesessen ist. Von da aus ist der Schritt zur humorvollen Barmherzigkeit nicht mehr weit. Mit der Selbsterziehung ist man nie fertig. Bis zum Lebensende geht es darum, mit der erlösenden Gnade erleuchtet zusammenzuarbeiten. Das kann manchmal harte Arbeit sein, aber oft ist es auch eine Freude, sich den Herausforderungen zu stellen.

Knospen und Jahresringe

Auch wenn Pater Kentenich immer auf Ausgleich im Rahmen des Spannungsprinzips bedacht war, förderte er gleichzeitig Einseitigkeiten, wenn es um seelische Entwicklungsprozesse ging. In seinen pädagogischen Vorträgen sprach er immer wieder von Wachstumsgesetzen und charakterisierte gesundes Wachstum als ein langsames Wachstum von innen heraus, von einer organischen Ganzheit zu einer neuen organischen Ganzheit.

In unserem Zusammenhang ist die Beobachtung interessant, dass das Leben gleichzeitig, aber nicht gleichmäßig wächst. Wir können es vor allem im Frühling an den Knospen beobachten. Da erleben wir innerhalb weniger Tage deutliche Veränderungen. Dass ein Baum einen neuen Jahresring bekommt, das können wir nicht beobachten. Übertragen auf das seelische Wachstum ermutigt Pater Kentenich die Erzieher, besonders das zu fördern, was sich gerade als Knospe zeigt – wohl wissend, dass das oft einseitig ist und nicht unbedingt den objektiven Wertmaßstäben entspricht. Aber weil sich in der Selbstbeobachtung Entdeckerfreude über das Neue, was da aufbricht, mit Neugier und Begeisterung paart, soll der Pädagoge mitschwingen und das fördern, statt mit erhobenem Zeigefinger auf die objektiv höchsten Werte hinzuweisen und das, was da aufbricht, einfach als unwichtige Nebensache abzutun.

An den natürlichen Ansatzpunkten anknüpfen

Ich erinnere mich noch gut daran, wie einer „meiner“ ehemaligen Zeltlagerteilnehmer in den Einflussbereich eines dogmatisch sehr versierten, aber psychologisch unbedarften Seelsorgers geriet und dadurch in eine Depression schlitterte. Der immer wiederkehrende Hinweis, dass doch die Liebe zu Gott das Höchste sei, was ein Christ anzustreben habe, hatte nur ein Gefühl der Ohnmacht hervorgerufen. Der Jugendliche drückte es so aus: „Ich fühle mich ständig wie ein Bergsteiger, der vor einer 2000 Meter hohen Steilwand steht und nicht weiß, wie er hinaufkommen soll.“ Als er sich von diesem Seelsorger trennte, kam sein Lebensmut zurück, er fand Freude am Leistungssport, entdeckte sein Interesse an der Medizin, absolvierte sein Studium ohne Probleme und ist heute ein leidenschaftlicher und beliebter Arzt.

Die Redewendung von der „schönsten Nebensache der Welt“ kennen wir aus den Kommentaren zu Fußballspielen. Und wir können am Bildschirm mitverfolgen, welche Emotionen diese ‚Nebensächlichkeit‘ auslösen kann. Und wir können andererseits miterleben, wie bei sehr vielen Kindern und Jugendlichen der Wunsch, einmal ganz oben zu stehen, zu diszipliniertem und regelmäßigem Training motivieren kann. Dabei wachsen nicht nur die Muskeln, sondern auch der Charakter. Natürlich müssen sich auch die Profis fragen, was sie mit dem langen Rest ihres Lebens anfangen, wenn die Zeit als Profispieler vorbei ist.

Auch im Glaubensleben kennen wir eine Hierarchie der Glaubenswahrheiten. Und gleichzeitig können wir beobachten, dass für manche Christen der Kontakt zu den verstorbenen Angehörigen subjektiv wichtiger ist als die Liebe zu Gott. Das kann man an Allerheiligen beobachten, wenn Gläubige, die sonst kaum in die Kirche gehen, an den Gräbern ihrer Angehörigen stehen und Wert darauf legen, dass ein paar Tropfen Weihwasser auf das Grab ihrer Lieben fallen.

Solche Anknüpfungspunkte zu würdigen – im klaren Wissen um die Einseitigkeit – das hat Pater Kentenich den Seelsorgern immer wieder ans Herz gelegt. Wo sind die Knospen? Was drängt von innen? Was drängt ans Licht? Welche Werte wecken Begeisterung? Was erzeugt Resonanz? Dem Raum zu geben in der Hoffnung, dass sich aus Einseitigkeiten im Laufe der Entwicklung etwas „Rundes“ und „Harmonisches“ entwickelt, das war dem Bewegungspädagogen Pater Kentenich ein Herzensanliegen.

Einseitigkeit und Ausgewogenheit – das war für Pater Kentenich kein Widerspruch. Für beides ist Raum und Zeit in einer gesunden seelischen Entwicklung.

So sind auch die Artikel in der „MTA“

Dazu eine kleine Ergänzung aus der Forschung zum Kommunikationskonzept Pater Kentenichs anhand der Zeitschrift „MTA“:

Im Dialog mit Professor Rademacher sagt P. Kentenich im Jahr 1917:

„Alle Einzelbeiträge sind nach den Gesetzen einer planmä­ßi­gen Strategie geordnet. Alle Kräfte werden mobil gemacht und gegeneinander ausgespielt, um sich nicht nur gegensei­tig das Gleichgewicht zu halten, sondern auch zur Höhe zu trei­ben. Das wenigstens ist meine Idee bei der Redaktion.

So er­gänzt und korrigiert ein Beitrag den anderen. Ist einmal das Kraftgefühl recht hoch gespannt, so folgt entweder un­mit­­telbar danach oder in einer der nächsten Nummern das Ge­­gengewicht in dem Bekenntnisse eines anderen von sei­ner Hilflosigkeit und seinem unerschütterlichen Vertrauen. (…)

Die Wirkung dieser Methode kann ich ziemlich genau kon­­trollieren. Sie ist eine den Verhältnissen angepasste An­wen­­dung meiner – ich darf wohl sagen, erprobten – Arbeits­wei­se hier in der Kongregation. Lege nämlich sehr viel Gewicht darauf, dass die einzelnen sich selbst und einander er­ziehen.“

 

Balancekünstler als Redakteur.

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