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Veröffentlicht am 2023-06-25 In Kentenich

Ein anderer Blick auf Josef Kentenich – Konzeptkünstler

P. Elmar Busse •

Wenn man mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse der Kommunikationswissenschaft oder der Keyword-Recherche aus dem Marketing an die Veröffentlichungen über P. Josef Kentenich geht, dann findet man als Bildmarke oder Logo Kentenich den schneeweißen Rauschebart, als Keywords: „baldige Heiligsprechung“, „immer“, und seit 2020: „Missbrauch“. Wir möchten in der folgenden Artikelserie einen anderen Blick auf Kentenich werfen– weder den auf den Nikolaus mit Rauschebart noch den auf den Heiligsprechungskandidaten, aber auch nicht nur den auf den des Machtmissbrauchs oder geistlichen Missbrauchs Verdächtigten. —

Nach der sehr positiven Resonanz auf vor ca. 30 Jahren verfasste und leicht aktualisierte Texte von P. Elmar Busse hat ihn dazu motiviert, im gleichen Stil weitere „andere Blicke“ auf Pater Kentenich vorzustellen, verfasst in diesem Jahr 2023. Wir erhoffen uns auch mit diesen neuen Texten, jenseits der gängigen Attributionen einen neuen, lebendigen Blick auf die vielschichtige Gründergestalt zu ermöglichen und dadurch die Neugier zu wecken, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen. Wir meinen: Es lohnt sich!

Der 1973 in Argentinien geborene Künstler Tomás Saraceno hat eine Vorliebe für Spinnen und mehr noch für ihre Netze. In seinen raumfüllenden Installationen spannt er dünne Stahlseile, die er mit kleinen T-Stücken oder Dreiecken miteinander verbindet. Manche seiner Installationen sind begehbar. Nach einem Aufbaustudium an der Frankfurter Städelschule entschied er sich, in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Bekannt wurde er durch seine Skulptur auf der Biennale in Venedig 2009, in Frankfurt war 2010/11 eine seiner Installationen auf dem Roßmarkt zu sehen.

Dinge verbinden, die sich so getrennt anfühlen

In einem Interview sagte er, dass er mit seinen Spinnennetzen“ Dinge verbinden möchte, die sich so getrennt anfühlen.

Ähnlich analysiert es der bekannte evangelische Theologe und Schriftsteller Jörg Zink, wenn er als Folge einer innigeren Gottverbundenheit formuliert: Eins sein mit allem. Mit dem lebendigen, allumfassenden, alles durchdringenden Geist. Nicht losgelöst sein von der Erde. Nicht überheblich allem anderen gegenüberstehen, sondern zu ihm gehören und so nicht dem Fluch der Wurzellosigkeit verfallen, der Ursache so vieler Krankheiten ist, an denen die Seelen des modernen Menschen leiden. Nicht dem Hass gegen die Schönheit und Würde der Dinge verfallen, der heute alles zerstört, was lebt.

Spinnennetz oder Bindungsorganismus

Pater Kentenich hat in seinem Leben nie ein Kunstwerk geschaffen, aber das Anliegen, Dinge (und Menschen) zu verbinden, „die sich so getrennt anfühlen“, war auch sein Herzensanliegen. Er prägte dafür den Begriff des „Bindungsorganismus“.
Seine eigene Biografie – seine Mutter musste ihn mit achteinhalb Jahren ins Waisenhaus nach Oberhausen geben, um selbst arbeiten zu können – sensibilisierte ihn für das Lebensthema Beziehungen. Er, der weder im Waisenhaus noch später im Studium einen Freund hatte und unter grenzenloser Einsamkeit litt, war später als Seelsorger in der Lage, eine unwahrscheinliche Nähe zu geben und zu empfangen. Er selbst deutete diese Wandlung seiner Persönlichkeit als Heilungswunder, das die Gottesmutter ihm bei Gott erbeten hatte.

Als Theologe bohrte er natürlich tiefer. Er fragte sich, warum die Gottesmutter so wirken konnte. Sein Fragen und Suchen fand ein Ende, als ihm klar wurde: Ein Mensch, der vor der Erbsünde bewahrt ist, muss auch ein voll beziehungsfähiger Mensch sein. Erst 31 Jahre vor Pater Kentenichs Geburt war das Dogma von der Erbsündlosigkeit Mariens feierlich verkündet worden.

In der bildhaften Sprache des Sündenfalls im ersten Buch der Bibel wird geschildert, wie der Mensch anfängt, sich zu schämen (= gestörtes Verhältnis zu sich selbst), vor Gott zu fliehen und sich zu verstecken (= gestörtes Verhältnis zu Gott), und schließlich – von Gott zur Rede gestellt – die Verantwortung auf Eva und auf Gott selbst abwälzt („Die Frau, die DU mir gegeben hast …“ = gestörtes Verhältnis zu den Mitmenschen). Vor diesem Hintergrund kann Erlösung als wachsende Beziehungsfähigkeit gedeutet werden.

Bindungsbedürfnis und Bindungsangst

Der Kinderpsychologe John Bowlby entdeckte und beschrieb zusammen mit Mary Answorth nach dem Zweiten Weltkrieg die persönliche Bindung als eines der Grundbedürfnisse des Menschen und galt damit zunächst als Ketzer in der psychologischen Landschaft, die damals stark von den psychoanalytischen Theorien Siegmund Freuds geprägt war, der alle Triebe und Motive des Menschen auf die Sexualität zurückführen wollte. Bowlby und Answorth konnten ihre Theorien jedoch durch kulturübergreifende Experimente und Filmdokumente untermauern, so dass die Skeptiker nach und nach überzeugt wurden. Heute ist das Bindungsbedürfnis des Menschen unter Psychologen und Pädagogen unbestritten.

Aber – und das ist das große Paradoxon der letzten Jahrzehnte – trotz dieses Bindungsbedürfnisses gibt es immer mehr Menschen, die eine ausgeprägte Bindungsangst haben, die also Beziehungsvermeider sind. Die Zahl der Veröffentlichungen zum Thema Beziehungsangst ist seit der Titelgeschichte des STERN im November 2013 ins Unermessliche gestiegen. Natürlich hatten Schriftsteller und Regisseure schon vor Bowlby ein Gespür für die Thematik, doch handelte es sich dabei um Einzelschicksale und nicht um ein Massenphänomen.

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Mechanistisches Denken

Pater Kentenich nennt dieses Phänomen nicht ‚Bindungsangst‘, sondern ‚mechanistisches Denken‘.
Der Gegensatz zwischen den vom mechanistischen Denken befallenen Theoretikern und Ideologen und dem Gründer Schönstatts, dem es um die ehrfürchtige Beobachtung und Unterstützung der Lebensprozesse ging, ist so krass, wie es der französische Insektenforscher Jean-Henri Fabre (*1823 – 1915) einmal im Vergleich mit seinen Kollegen beschrieben hat. Er selbst durchstreifte in glühender Hitze mit Knotenstock und Lupe bewaffnet die Landschaft, hockte vor Erdlöchern, um mit grenzenloser Geduld die erstaunlichen Verhaltensweisen der Insektenwelt zu beobachten: Er urteilte über seine Kollegen und deren Methoden in den Labors: „Ihr weidet das Tier aus, ich studiere es lebendig; ihr macht aus ihm ein Ding des Schreckens und des Mitleids, ich mache es liebenswert; ich arbeite unter freiem Himmel, während die Zikaden singen; ihr unterwerft die Zelle und das Protoplasma den Reagenzien; ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben.“

Diese beiden grundverschiedenen Mentalitäten und Denkstrukturen finden nur schwer zueinander. Pater Kentenich beobachtete, dass das mechanistische Denken auf dem Weg war, in Deutschland und in Europa zum vorherrschenden Lebensgefühl zu werden.
Und er musste zugleich feststellen, dass die Amtskirche diese Probleme weder in ihrer Tragweite sah noch in ihrer Pastoral genügend berücksichtigte. Die Warnung, die Pater Kentenich 1949 an den Trierer Bischof richtete, verhallte.
Inzwischen hatten sich die Verhältnisse in Deutschland so entwickelt, wie Pater Kentenich es befürchtet hatte. 1961 schrieb er in einer Studie:

„Wer in seinem Leben zumal in Kindheit und Wachstumszeit, viel Liebesmangel und Liebes­hunger aushalten musste, wird für gewöhnlich das ganze Leben hindurch an Liebesfähigkeit krank bleiben. Nicht umsonst spricht man heu­te allenthalben von der Kontaktnot, Kontakt­schwäche oder der Kontaktunfähigkeit des mo­dernen Menschen. Sie ist nicht nur eine an­steckende Krankheit gewöhnlicher Art, sie muss als eine schreckliche Seuche gebrandmarkt wer­den, die sich nicht nur im Verkehr der Men­schen untereinander, sondern auch im geheilig­ten Schoss der Familie einnistet und überall Unheil anrichtet. Wie häufig muss man geste­hen, dass heutige Eltern bereits Kinder von lie­besgestörten Eltern sind. Da braucht man sich kaum zu wundern, wenn ihre eigenen Kinder in der strömenden Tiefe ihres Wesens nicht mehr liebesmächtig sind, sondern oft nur noch die rührend unbeholfenen Gebärden der Liebe versuchen.“

Was kann Schönstatt in den Synodalen Weg der Weltkirche einbringen? 

Auf die Frage, was Schönstatt in den synodalen Weg für eine zukunftsfähige Kirche einzubringen hat, können wir formulieren:

Schönstatt möchte an einer neuen Bündniskultur mitbauen. Es will – um es mit den Worten von Tomás Saraceno zu sagen – “Dinge (und Menschen!) verbinden, die sich so getrennt anfühlen”.
Machen Sie sich bewusst, was Ihr Lieblingsmusikstück, Ihr Lieblingsbuch, Ihr Lieblingsautor, Ihr Lieblingsplatz in der Wohnung und in der Umgebung, Ihre Lieblingsbibelstelle, Ihre Lieblingsszene aus dem Leben Jesu ist.
Erinnern Sie sich an die Momente, in denen Sie neue Freunde gefunden haben oder neue Freundschaften geschlossen haben.

Anders gesagt: Machen Sie sich bewusst, welches Beziehungsgeflecht, welches “Spinnennetz” Sie geknüpft haben, das Sie heute trägt.

Diesem Netz haben Sie Ihre psychische Stabilität zu verdanken.
Dafür können Sie von Herzen dankbar sein. Feiern Sie Ihr Beziehungsnetz.

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