Veröffentlicht am 2020-01-06 In Themen - Meinungen, Zeitenstimmen

Magnificat oder: Maria, die große Revolutionärin

P. Juan Pablo Revegno •

„Maria, die große Revolutionärin. Sogar Pater Kentenich wagt zu sagen, dass wir uns vom Bolschewismus haben besiegen lassen, weil er das Banner der Kleinen, der Armen und der Ausgegrenzten aufgegriffen hat, ein Banner, das eigentlich wir Christen schwenken müssten, und zwar nicht durch Marginalisierung und Gewalt, sondern durch die Wertschätzung, die uns in Rechten und Würde gleich macht. Diese Krise ist eine neue Chance, dass das Magnificat nicht das Erbe neuer Totalitarismen oder Populismen wird, sondern das eines engagierten Christentums“. Inmitten der sozialen Krise in Chile fordert Pater Juan Pablo Rovegno mit diesen Worten ganz Schönstatt auf, sich die Botschaft des Magnifikat wirklich zu eigen zu machen. —

Mit Freude haben wir uns inmitten einer Zeit schwindelerregender und angespannter Veränderungen, die uns aus unserer Bequemlichkeit, unserer Sicherheit, unseren eigenen Angelegenheiten herausgerissen haben, versammelt. Die Familie von Agua Santa hat uns eingeladen, dieses bekannte Gebiet zu verlassen und uns an ihrem Gründungsbewusstsein teilhaben zu lassen, das sich in ihrem Jubiläumsmotto, in ihrer Geschichte, in ihrer so starken und festen Identität widerspiegelt, und gleichzeitig gefügig und offen ist, sich immer wieder zu erneuern und neu zu erfinden. Aber wir hätten nie gedacht, dass diese Feier inmitten einer tiefen und intensiven nationalen Krise sein würde, unsicher und hoffnungsvoll, gewalttätig und in Geburtswehen, eine unausweichliche Möglichkeit, uns neu zu gründen, uns neu aufzubauen, uns neu zu erfinden, für einen neuen Evangelisationszug gesunder persönlicher Bindungen, der eine verwundete soziale Ordnung repariert und wiederherstellt.

Verwundet durch diesen Mangel an Begegnung, aus uns selbst herauszukommen, um mit anderen in Harmonie und Synergie zu gelangen. Verwundet durch Bedürfnisse, Wünsche und unsichtbare soziale Anforderungen. Verwundet durch endemische politische Polarisierungen, durch Risse und soziale Reibungen, die nicht vollständig geheilt wurden. Verwundet durch Gewalt und Unnachgiebigkeit, deren Virulenz und Zerstörungskraft uns unbekannt waren.

Und doch sind wir hier, bewegt von der Gewissheit des Eingreifens und der Führung des Gottes der Geschichte. Weil Gott sich selbst in der Geschichte gegenwärtig macht, lässt er uns nicht allein, bewegt uns aber auch nicht nach seinem Willen wie ein Marionettenspieler. Der Gott Jesu, an den wir glauben, hat uns geliebt und wird uns nicht ewig lieben, und unsere Sünden sind kein Hindernis für sein Eingreifen; vielmehr sind sie privilegierte Räume für die Manifestation der Unentgeltlichkeit seiner Barmherzigkeit, aber auch der Festigkeit seiner Führung.

Dieses Heiligtum entstand auch in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen auf kirchlicher und gesellschaftlicher Ebene: Ende des Zweiten Weltkriegs, Aufbruch des engagierten christlichen Sozialdenkens, Aufkommen revolutionärer Lüfte, von Paris bis Havanna, inmitten des Kalten Krieges, des Neo-Imperialismus und totalitärer Mächte. Eine Zeit großer sozialer Dynamik und großer Transformationen auf Weltebene. In diesem Szenario entstand das Heiligtum als eine Werkstatt für die Ausbildung des neuen Menschen und der neuen Gemeinschaft, um aus dieser Erfahrung heraus auf die soziale Herausforderung zu reagieren, die wir als Kirche und Nation lebten.

Heute, 50 Jahre später, wird die Werkstatt der Ausbildung und der Aussendung wieder aufgebaut. Wir könnten sagen, dass die Ereignisse, die wir erlebt haben, uns vor die Herausforderung einer zweiten Bekehrung stellen: Es geht nicht mehr um die erste Taufe, als wir vor 50 Jahren vom Heiligtum aus von der Gottesmutter geboren wurden, jetzt, um es in der Sprache unseres Gründers zu sagen, geht es um diese zweite Bekehrung, um die Wunden und das Bewusstsein der Hilflosigkeit und Kleinheit, um die Sünde und auch die persönlichen und gemeinschaftlichen Fehler gegenüber der übertragenen Sendung.

Vielleicht hat Gott deshalb gestattet, dass unsere Feier inmitten der Krise, die wir erleben, nicht vom Triumphalismus von Erfolgen und Ergebnissen geprägt ist, sondern von der demütigen Erkenntnis, dass alles Gnade und Dankbarkeit war, dass wir Werkzeuge waren, oft schwach, dass die Gottesmutter ungeheuer großzügig war und sich in diesen 50 Jahren im Leben, in Werken, in Bündnissen und Projekten fruchtbar gezeigt hat.

Aber kehren wir zum Sinn dieser Feier zurück: eine zweite Bekehrung, die uns zu jener notwendigen persönlichen und gemeinschaftlichen Bekehrung mit sozialen Konsequenzen führt, die die Zeit und die Krise, die wir leben, verlangen. Wie können wir das verstehen?

Unsere Schule wird immer Maria sein: Maria vom Heiligtum aus, die uns mit ihrem Sohn Jesus gestalten will. Das heutige Evangelium gibt uns drei sehr aktuelle Hinweise, um mit Hoffnung den Prozess anzunehmen, den wir als Land leben. Lassen wir uns von dieser Lesung der Heimsuchung, die schon so oft gehört wurde, überraschen:

Maria macht sich auf den Weg

“Maria machte sich auf den Weg…” Der Gedanke, in die Zeit der Gottesmutter aufzubrechen, hat nichts von der Romantik eines Spaziergangs, der Herausforderung einer Wanderung oder der Exotik einer Reise in den Orient. Es bedeute, viele Kilometer zwischen Steinen und Einsamkeit unterwegs zu sein, geschützt durch den Schatten einer Karawane und der Müdigkeit einer Reise zu Fuß von mindestens 130 Kilometern ausgesetzt.

Sich auf den Weg zu begeben bedeutet, aus uns selbst herauszukommen, aus dem Zustand der Selbstversunkenheit, der Gleichgültigkeit, der Beschäftigung, des Ausweichens, der Trägheit, der Wichtigkeit, der Selbstbezüglichkeit, der Bequemlichkeit, der Enge, der Gemütlichkeit, der Faulheit, der Behaglichkeit, der Melancholie, der Hypervernetzung… um herauszukommen, um zu schauen und eine Beziehung mit dem einzugehen, was jenseits unseres Tellerrandes ist. Die einzige Möglichkeit, zu wissen und zu erkennen, was vor sich geht, und wer um mich herum ist, ist, aus uns selbst herauszukommen: aus meinen Ideen, meinen Plänen, meinen Forderungen, meinen Obsessionen, meinen Abwehrmechanismen, meinen Ängsten, meinen Unsicherheiten, meinen Starrheiten…

Diese Krise verlangt von uns, dass wir aus uns selbst herauskommen, und obwohl sie uns in ihrem Ausmaß, in ihrer Tiefe und auch in ihrer irrationalen Gewalt überrascht hat, können wir nicht auf die gleiche alte Art und Weise weitermachen, noch können wir weiterhin die gleichen alten sein.

Maria ging hinaus, sie blieb nicht meditativ oder ängstlich zu Hause sitzen, sie ging hinaus, um der Wirklichkeit zu begegnen, indem sie als einzige Gewissheit das Kind, das in ihrem Schoß wuchs, annahm. Heute sind wir von unserem Heiligtum aus in dieser Stunde der zweiten Bekehrung aufgerufen, uns von der Wirklichkeit erschüttern und bewegen zu lassen und hinauszugehen.

Es ist keine leichte Aufgabe, weil wir Geister und ererbte Polarisierungen mit uns tragen, weil der Prozess, den wir erleben, alte Unsicherheiten und Vorurteile wieder aufleben lässt; aber diese neue Etappe braucht das Geschenk, das wir mit uns tragen: das Liebesbündnis, das in eine soziologische Sprache übersetzt Kultur der Begegnung, Räume des Vertrauens, der Zusammenarbeit, der Mitverantwortung und der Komplementarität bedeutet.

Maria ging hinaus, um sich zu treffen und mit ihrer Kusine zu sprechen, und dieser Dialog öffnete ihnen die Freude einer neuen Zeit der Hoffnung.

Meine Seele preist die Größe des Herrn …

“Meine Seele preist die Größe des Herrn…” Das Magnificat ist das Lied der Kleinen, aber es ist auch das Revolutionslied schlechthin. Ja, das Wort Revolution erschreckt uns, seine historische Last lässt uns an Plünderung, Guillotine, Mauer, Klassenkampf, Misstrauen, usurpierte Güter und Unfreiheit denken. Unser Vater spricht jedoch von der Gottesmutter als der ersten Revolutionärin und vom Magnificat als dem Lied der Revolution der Kleinen und Armen gegen die Hochmütigen und Arroganten.

Mit dem Magnificat wird eine Form der Beziehung eingeleitet, nicht mehr von Herrschaft und Stärke, sondern vom Wert und der Würde jedes Menschen, wo Macht Dienst und Kleinheit Vorliebe bedeutet. Es ist eine Veränderung des Schemas der deformierten männlichen Beziehungen: hier ist die Mitte eine Frau und der Protagonist sind die Kleinen.

Auch unsere zweite Bekehrung ist gemeinschaftsbezogen: Wie gehen wir miteinander um, wie behandle ich andere? Sind die anderen nur eine Projektion meiner Frustrationen, Erwartungen, Ideen, Ergebnisse, Wünsche und Projekte?

Es wird viel über die Beweggründe derjenigen nachgedacht, die Gewalt, Plünderung und Zerstörung als Waffe der Selbstbestätigung, der Rache und Vergeltung, der Beherrschung und des Triumphes eingesetzt haben. Natürlich ist alles komplizierter, aber sind wir nicht im Reich des Egoismus, in dem wir uns als Gewinner in etwas zeigen, als die Coolen, die jedem zeigen, was sie tragen, besitzen und gewonnen haben? Haben wir nicht den Konsum bis ins Extrem getrieben, um zu zeigen, dass wir mehr haben und mehr sind als die anderen?

Eine gemeinschaftliche Bekehrung. Wie verhalten wir uns zueinander? Als Gleiche, die gegenseitige Bereicherung suchen? Wie überwinden wir die Dynamik der missbrauchenden Beziehungen? Denken wir über den Wert der großen politischen Einigung von gestern nach, einige haben sich fast selbst aufgegeben, weil sie nicht bereit sind, nachzugeben, andere haben sich selbst aufgegeben, weil sie nicht bereit sind, zu verlieren… immer das Gleiche, Gewinner und Verlierer, einige oben und andere unten… die Herausforderung besteht darin, Mitarbeiter zu sein, mitverantwortlich, komplementär, was die Freiheit zum Sein und die Großzügigkeit zum Verzicht impliziert.

Maria, die große Revolutionärin. Sogar Pater Kentenich wagt zu sagen, dass wir uns vom Bolschewismus haben besiegen lassen, weil er das Banner der Kleinen, der Armen und der Ausgegrenzten aufgegriffen hat, ein Banner, das eigentlich wir Christen schwenken müssten, und zwar nicht durch Marginalisierung und Gewalt, sondern durch die Wertschätzung, die uns in Rechten und Würde gleich macht. Diese Krise ist eine neue Chance, dass das Magnificat nicht das Erbe neuer Totalitarismen oder Populismen wird, sondern das eines engagierten Christentums.

Und Maria blieb drei Monate bei Elisabeth…

“Und Maria blieb drei Monate bei Elisabeth” Wozu blieb sie? Um zu quatschen, um Babysöckchen zu häkeln, um sich vonihrer Kusine, der sie als Mutter ihres Herrn anerkannte, pflegen und verwöhnen zu lassen? Um für die Zukunft zu planen? Sie ist geblieben, um zu dienen, zu teilen und zu lernen, um Gottes Willen zu ihrer Freude zu machen.

Persönliche und gemeinschaftliche Bekehrung mit sozialen Konsequenzen, was bedeutet das? Dass sich etwas in unserem Leben ändert, dass wir nicht mehr dieselben sein können. Dieses Mädchen aus Nazareth hörte auf, Mittelpunkt zu sein, um ihre Mitte in Gott und in andere zu legen. Das heißt nicht, uns auszulöschen, sondern unsere ganze ursprüngliche Kraft in den Dienst des Planes Gottes stellen, der immer soziale Konsequenzen hat, der immer einen konkreten Nachbarn als Gegenüber hat. Diese drei Monate waren keine Einkehr in sich selbst, keine Wohlfühl-Exerzitien, sondern ein Prozess des Verstehens, was „Mir geschehe nach deinem Wort“ bedeutet. Meine Pläne, meine Projekte, meine Träume, meine Wünsche, egal wie gut und wertvoll sie sind, egal wie viel Sicherheit sie mir geben, müssen in Einklang mit Gottes Melodie gebracht werden: Was bedeutet dieses Kind, welche Konsequenzen hat es in meinem Leben und durch mich in den Leben der anderen, warum hat es Elisabeths Sohn und sie vor Freude hüpfen und sich vor mir verbeugen lassen?

Jesus hat Konsequenzen und verändert unser Leben. Der Prozess, den wir durchlaufen, ist ein privilegierter Raum, damit die Botschaft, die Worte, die Gesten und die Haltungen Jesu mit verständlichen und einschließenden Sprachen präsent und aktuell sind, aber nicht ohne uns. Wenn wir wollen, dass der Sozialpakt und der Verfassungsprozess, den wir beginnen, etwas von unseren christlichen und marianischen Wurzeln hat, dann hängt das von uns ab. Uns selbst zurückzunehmen, die anderen denken und machen lassen, in unsere altbeaknnten Schützengräben zurückzukehren, uns nicht von unserem Glauben und den herrschenden Lehren, dem sozialen Gedanken unseres Vaters und der Bündniskultur in Frage stellen zu lassen, hieße, weiter in unserer Selbstbezogenheit und Selbstverdrehtheit hängen zu bleiben und die Gestaltung der Welt anderen zu überlassen.

Bekehrung im Rahmen unserer Feier: Unser Heiligtum ist ein Coenaculum, möge unser Land in einen Coenaculums-Zustand eintreten. Chile ist nicht in einen Belagerungszustand geraten, was sicherlich die Zündschnur einer größeren sozialen Explosion gewesen wäre, obwohl eine so klare Polarisierung uns offenbar Sicherheit gegeben hätte. Wir sind in einen Zustand des Coenaculum eingetreten: der Reflexion, des Dialogs, der Öffnung für das, was andere denken, fühlen und brauchen, um unseren Blick zu teilen, um den Weg Gottes in unserer Geschichte zu entdecken, in dieser so komplexen und unerwarteten Phase unserer Geschichte, um Chile, die Kirche, die Familie und die Bewegung weiter zu erneuern. Und möge Maria in der Mitte sein und uns lehren, uns zu treffen, zusammenzuarbeiten, auf das Gemeinwohl zu schauen, dem größeren Wohl zu dienen.

Möge der Friede, den wir uns so sehr wünschen, die Frucht dieses Engagements für unser Bündnis und für unsere Nation sein.

 

Ansprache bei der Jubiläumsfeier des Heiligtums von Agua Santa

 

Original: Spanisch. Übersetzung: Maria Fischer @schoenstatt.org

 

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