P. Elmar Busse •
Wenn man mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse der Kommunikationswissenschaft oder der Keyword-Recherche aus dem Marketing an die Veröffentlichungen über P. Josef Kentenich geht, dann findet man als Bildmarke oder Logo Kentenich den schneeweißen Rauschebart, als Keywords: „baldige Heiligsprechung“, „immer“, und seit 2020: „Missbrauch“. Wir möchten in der folgenden Artikelserie einen anderen Blick auf Kentenich werfen– weder den auf den Nikolaus mit Rauschebart noch den auf den Heiligsprechungskandidaten, aber auch nicht den auf den des Machtmissbrauchs oder geistlichen Missbrauchs Verdächtigten. —
Diese Texte entstanden vor circa 30 Jahren. Der lange Atem der Kirche, die in Jahrhunderten atmet, erlaubt es uns, diese Texte mit leichten Aktualisierungen wieder zur Diskussion zu stellen. Wir erhoffen uns, jenseits der gängigen Attributionen, einen neuen, lebendigen Blick auf die vielschichtige Gründergestalt zu ermöglichen und dadurch die Neugier zu wecken, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen. Wir meinen: Es lohnt sich!
Ein außergewöhnliches Schicksal
Als im Januar 1972 zwei Fischer auf Guam in einer einsamen Gegend in der Nähe des Talofofo-Flusses durch das Schilf wateten, um ihre Garnelenreusen aufzustellen, bemerkten sie plötzlich eine sonderbare Bewegung. Sie blieben stehen und warteten. Kurz darauf teilte sich das Schilf, und ein kleiner, hagerer, bärtiger Mann in einer Art Sackleinenuniform kam zum Vorschein. Als er die Fischer erblickte, bekam er einen solchen Schreck, dass er die eigenen Reusen fallen ließ und die Arme bittend in die Höhe hob, um gleich darauf den einen Fischer unverhofft anzuspringen. Gemeinsam war der merkwürdige Zeitgenosse jedoch zu überwältigen; sicherheitshalber fesselte man ihm die Hände und brachte ihn zum nächsten Polizeirevier. Dort nahm der Mann Habachtstellung ein und stellte sich als Unteroffizier Yoichi Yokoi von der Nachschubtruppe des Kaiserlich-japanischen Heeres vor. Als die Amerikaner 1944 Guam zurückeroberten, hatte er sich versteckt und 28 Jahre lang Entdeckung und Gefangennahme auszuweichen verstanden. Wie er sich am Leben erhielt, ist eine schier unglaubliche Geschichte.
Yokoi, ein gelernter Schneider, wurde 1941 eingezogen. Er diente in einer Nachschubeinheit in China, bevor er im März 1944, kurz vor dem Fall der Insel, nach Guam versetzt wurde. Nach der Landung der Amerikaner war er für tot erklärt worden.
Yokoi wurde ins Krankenhaus gebracht und untersucht. Er war ein wenig blutarm, doch ansonsten bei bester Gesundheit. Vor dem Abtransport ins Spital verlangte er lediglich „irgendetwas Salziges“ zu essen; denn auf Salz hätte er 28 Jahre lang verzichten müssen. Gelebt hatte er in einer Erdhöhle in der Nähe eines kleinen Wasserlaufs.
Die Höhle, etwa 2,5 m tief, hatte er mit einer alten Artilleriekartusche gegraben, das Dach ruhte auf Bambusstützen. Yokoi hatte Wasserabzugsgräben angelegt und selbst an eine Latrine gedacht. Als die Amerikaner die Insel besetzten, hatte er seine Heeresuniform befehlsgemäss verbrannt und sich mit zwei Kameraden zur unbewohnten Seite der Insel durchgeschlagen. Dort habe man sich getrennt, erzählte Yokoi, allerdings seien die Kameraden bereits Jahre vor seiner Entdeckung gestorben. Aus dem Rindenbast des Pagodenbaums drehte Yokoi Fäden, die er auf einem primitiven Rahmen zu Tuch verwob. Da er seine Schneiderschere gerettet hatte, konnte er Hosen, Hemden und Jacken zuschneiden. Nadeln hämmerte er sich aus Patronenhülsen. Ein weggeworfener MG-Kasten und leere Fünfziger-Hülsen dienten als Aufbewahrungsgefäße. Aus Strandgut – Sackleinen, Draht, leere Bierdosen, Plastik – verfertigte Yokoi Gürtelschnallen, Knöpfe usw. Aus dem Fruchtfleisch der Nüsse presste er Öl, das in den Schalen aufbewahrt wurde; aus den Kokosfasern flocht er Stricke und Lunten, die – einmal entzündet – tagelang glommen; das erste Feuer hatte Yokoi durch Aneinanderreiben von Hölzern entfacht. Er aß Ratten, die sich in seinen Schlingen verfingen; hin und wieder war es auch ein Stück Rotwild, das er zerlegte und in einer Art Korb in die Abzugsöffnung seiner Höhle hängte, um es über dem Feuer zu räuchern. Er fing Süßwasser-Krabben und Fische und zog sogar ein paar Gemüsepflanzen. Yokoi wurde zu Hause begeistert empfangen. Er bekam seinen Sold nachgezahlt, schrieb Ratgeber für das Überleben in der Wildnis und gab Kurse für gesunde Ernährung. Er starb 1997. (Quelle: Akio Morita, Made in Japan. Eine Weltkarriere. Hestia-Vlg. Bayreuth 1986, 398ff)
Bewundernswert und tragisch zugleich
Das Leben dieses Yokoi ist einerseits bewundernswert, andererseits tragisch. Bewundernswert, wie er als einzelner völlig auf sich gestellt sein Leben meistert und überlebt, tragisch, denn er hat sich 28 Jahre das Leben unnötig schwer gemacht, weil er nicht mitbekommen hat, dass der Krieg schon aus war.
Glauben wir als Christen an die Auferstehung?
Im Glaubensbekenntnis beten wir: „Ich glaube an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, …auferstanden von den Toten.“ Wir feiern und wir glauben, dass dieser gequälte, verkannte und schließlich gekreuzigte Mensch nicht nur Mensch, sondern auch Gott ist, von den Toten auferstand und dass sein Leiden und seine Auferstehung für uns bedeutsam sind. Dadurch hat er uns erlöst. Obwohl wir Christen jeden Sonntag liturgisch die Auferstehung feiern, gibt es ein interessantes Phänomen: Es gibt bewundernswert-tragische Christen, die praktisch doch so leben, als ob Christus nicht auferstanden sei und lebe. Sie rechnen einfach nicht im Alltag mit ihm und seinem Wirken. Paulus, der schon mit diesem Problem konfrontiert worden war, schrieb an die Korinther: „Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos, … dann ist euer Glaube nutzlos, und ihr seid noch immer in euren Sünden. Wenn wir unsere Hoffnung nur in diesem Leben auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen“ (1 Kor 15,14-19).
Wenn man meint, allein mit dem Leben fertig werden zu müssen, ist das nicht tragisch? Kein Wunder, dass viele sich vom Leben überfordert fühlen, es mit zusammengebissenen Zähnen zu meistern versuchen, wenigstens im Urlaub der Härte zu entfliehen trachten oder mit intensiven Erlebnissen, Zerstreuungen, Alkohol oder Drogen dem Elend zu entfliehen suchen. Unter denen sind auch viele Taufscheininhaber.
Leben aus dem Ostergeheimnis
Es geht aber auch anders. Betrachten wir ein Einzelschicksal: Da kommt einer als kleiner Junge in ein Waisenhaus, aus dem er einige Male ausreißt, weil er es dort nicht aushält. Als jungem Mann offenbaren ihm die Ärzte, dass er wegen eines schweren, unheilbaren Lungenleidens vermutlich nur noch wenige Wochen zu leben hat, doch er lebt weiter, aber kommt ins KZ, überlebt auch dies, versucht, im Nachkriegsdeutschland und im Ausland sein bisheriges Lebenswerk weiter aufzubauen, wird verdächtigt, verleumdet, schließlich entlassen aus seiner Führungsposition, und es wird ihm eine unbedeutende Tätigkeit in Übersee zugewiesen.
Diese wenigen markanten Fakten sind Grund genug, über die Härte eines solchen Lebensschicksals zu klagen. Es wäre auch nachvollziehbar, dass dieser Mensch nach jedem Knüppel, der ihm zwischen die Beine geworfen wird, nicht mehr aufsteht und liegenbleibt. Doch der Mensch, von dem hier die Rede ist, Joseph Kentenich, hat diese Situationen gemeistert. Wo liegt das Geheimnis der Bewältigungskraft eines solchen Schicksals? Er selbst macht daraus kein Geheimnis und spricht ganz offen und häufig von dem, was ihn hält und trägt: das Liebesbündnis mit der Gottesmutter und der Glaube an den lebendigen Gott.
Überlebensgtrainer: Leben mit Gott fördert Resilienz
Der anfänglich von anderen ihm ins Herz gesenkte Glaube an Gott verdichtete sich nach schweren Krisen in der Jugendzeit zur Erfahrung, dass er sein Leben nicht allein zu leben braucht, dass es da jemanden neben, hinter, über und in ihm gibt, der mit ihm geht. Christ sein hieß für ihn immer auch Teilhabe am Christusschicksal. Darin hatte er einen Schlüssel für seine schweren Lebensmomente gefunden. Doch er glaubte, ja er wusste, dass Kreuz und Leid nie das letzte Wort behalten, sondern dass es Ostern gibt — nicht nur für Christus gegeben hat, sondern auch für den Einzelnen in seinem Leben immer wieder gibt.
Die markantesten Ostererlebnisse waren für ihn die Rückkehr nach Schönstatt nach drei Jahren KZ-Aufenthalt am 20. Mai 1945 und nach 14 Jahren kirchlicher Verbannung am 24. Dezember 1965. Integriert in diese Christusnachfolge war für ihn die Weggemeinschaft mit Maria, der ersten Christusnachfolgerin überhaupt. Nachfolge ist nie ein isoliertes Geschehen, sondern geht nur in Gemeinschaft. Deshalb sah Pater Kentenich auch nie ein Problem, geschweige denn eine Konkurrenzangst in dieser doppelten übernatürlichen Liebesbeziehung: Christusliebe und Marienliebe fördern sich gegenseitig. So betet er zu Christus in seinem Dachau-Kreuzweg:
„Die Geister, die Maria übersehen, die stets nach Vaters Plan soll bei dir stehen, erfassen deines Werkes Fülle nicht, nicht seine ganze Kraft, sein volles Licht.“ (Himmelwärts, S. 85) und weiter: „Das Kreuz und das Marienbild lasst reichen den Völkern mich als das Erlösungszeichen, dass niemals voneinander wird getrennt, was Vaters Liebesplan als Einheit kennt.“ (Himmelwärts, S. 90)
Diese innige Beziehung zwischen ihm, Christus und Maria half ihm, die vielen Schwierigkeiten in seinem Leben zu meistern. Und er lädt uns ein, es doch auch auszuprobieren. Wir sind in glücklichen und schweren Tagen nicht allein. Wir können im Glück uns bedanken und in Schwierigkeiten bitten, wir können Freude und Leid teilen. Ja, nach persönlich durchlittenen „Karwochen“ und erfahrenen „Ostern“ kann eine Zuversicht in die Zukunft wachsen: „Was Gott auch will und zulässt, was er fügt, ist gut für mich — so sagt des Glaubens Licht.“ (Himmelwärts, S. 115) Diese Zuversicht mündet dann in die Bereitschaft, sich selbst und sein ganzes Leben der Gottesmutter anzuvertrauen und durch sie dem Dreifaltigen Gott:
„Führ aus den großen Liebesplan, den du von unsrer Lebensbahn entworfen hast von Ewigkeit, auch wenn er einschließt Kreuz und Leid.“ (Himmelwärts, S. 32)
Konsequenzen aus diesem österlichen Glauben
In einem solchen Klima des Vertrauens schwindet die Angst. Manche Schönstätter haben es sich zur guten Gewohnheit werden lassen, dass sie den Menschen, um deren Not sie wissen, nicht nur versuchen, praktisch zu helfen und Zeit für sie zu haben, sondern dass sie ihnen auch ein Bild der Gottesmutter bringen und die Notleidenden ermuntern, es doch einmal mit ihr zu versuchen. Wenn sie dann noch die eine oder andere persönliche Erfahrung erzählen, die sie selbst im Umgang mit der Gottesmutter gemacht haben, dann sind zwar Zweifel und Skepsis nicht immer verschwunden, aber viele probieren es doch einmal. Dabei spielt die Konfession des Besuchten keine Rolle. Einer, der schon viele Erfahrungen mit diesem Dienst am Nächsten gesammelt hatte, meinte: „Bei mir scheint die Gottesmutter eine besondere Vorliebe für die der Kirche Fernstehenden zu haben, denn bei denen passieren die größten Überraschungen.“
„Vor Ort“ zeigt die Gottesmutter, was sie kann. Konkrete Nöte stehen dabei oft im Vordergrund. Aber viele finden durch sie und ihre Hilfe wieder neu einen Zugang zum Gott des Lebens, zum auferstandenen Christus, der den Seinen verheißen hat: „Ich bin bei Euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20)
P. Joseph Kentenich, Priesterexerzitien 1967
Ringe unausgesetzt um das Ideal eines innerlich gelösten, eines immerwährend heiteren und konsequent geistbeseelten Mitspielers mit dem lebendigen Gott im Drama des eigenen Lebens und des Weltgeschehens, des Heilsgeschehens.
P. Joseph Kentenich, Predigt am 13. Juni 1965