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Veröffentlicht am 2022-10-25 In Themen - Meinungen

Wie alt fühlt sich eine 110jährige Erneuerungsbewegung?

P. Elmar Busse zum 27. Oktober 2022 •

Im Oktober dieses Jahres blickt die Männerbewegung Schönstatts auf ihre 110jährige Geschichte zurück. Auch wenn der Gründer selbst in seinem Vortrag vom 18. Oktober 1914 die Geburtsstunde der Schönstatt-Bewegung sieht, so hat doch die Schönstatt-Mannesjugend in dem Antrittsvortrag des neuen Spirituals vor den Schülern des Studienheims am 27.Oktober 1912 den Beginn der Schönstatt-Mannesjugend gesehen. Damals fing alles an! Und nicht umsonst hat Pater Kentenich dieser seiner „Regierungserklärung“ später den Titel „Vorgründungsurkunde“ gegeben. —

Immer wieder kam er darauf zurück, dass ein Wesensmerkmal schönstättischer Gruppenarbeit der Erfahrungsaustausch, also die „Sprache des Herzens“, und nicht so sehr der Meinungsaustausch sein sollte. Was ist aus diesem Ansatz geworden? Wie sehr prägen die Erneuerungsimpulse Pater Kentenichs den Stil der kirchlichen Seelsorge in Deutschland? Wie jung oder wie alt fühlt sich eine Bewegung, die an sich den Anspruch einer Erneuerungs- und nicht einer Bewahrungsbewegung stellt?

Um diese Frage zu beantworten, können wir auf einen Denkansatz zurückgreifen, den Martin F. Saarinen entwickelt hat:

Das Saarinen-Modell

Was unterscheidet Unternehmen, die über lange Zeiträume erfolgreich sind, von solchen, die vom Markt verschwinden oder an Bedeutung verlieren? Erstere wagen, wenn sie auf dem Scheitelpunkt ihrer Entwicklung angekommen sind, einen „Sprung“, mit dem sie einen neuen Entwicklungsbogen spannen. Sie erfinden sich rechtzeitig neu, schließen dabei jedoch an die vorigen Erfahrungen an. In der Organisationswissenschaft gibt es verschiedene Modelle, welche das Werden, die Reife, das Vergehen und die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung von Organisationen beschreiben.

Der finnisch-amerikanische Organisationsforscher Martin F. Saarinen hat in den 1980er Jahren ein Konzept vorgelegt, in welchem er den Prozess der Organisationsentwicklung in religiösen Gemeinschaften oder Bewegung zum evolutionär-biologischen Lebenszyklus in Bezug setzt (Saarinen, 1986): The life cycle of a congregation.

Saarinen war christlicher Ordensmensch und beobachtete den Lebenszyklus in der eigenen Organisation. Es gibt christliche Gemeinschaften, die mit der Zeit untergegangen sind, aber auch Gemeinschaften, denen selbst nach größten Krisen – wie Phönix aus der Asche – eine Transformation gelungen ist.

Historische Beispiele

  • Die Zisterzienser sind ein reformierter Benediktinerorden und haben nach der Gründung (1075 durch Robert von Molesme – endgültige Satzungen am 23.12.1119 vom Papst genehmigt) eine sagenhafte Dynamik entwickelt und viele Klöster neu gegründet.
    Am Ende der dynamischen Expansionsperiode, also um 1300, war der Orden in allen wichtigen Ländern Europas vertreten und zählte insgesamt 742 Niederlassungen.
  • Theresa von Avila reformierte den Karmelitinnenorden. Sie gründete 17 Reformklöster (+4.10.1582)
  • Johannes vom Kreuz reformierte den Karmeliterorden (+14.12.1591)
  • Der 800 Jahre alte Franziskanerorden erlebte eine „Visionszufuhr“ durch die Umweltbewegung; Franziskus wurde zum „Patron“ der Grünen.

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Am Anfang steht der Visionär, der dann um sich eine Gemeinschaft sammelt, mit der er ein Programm entwickelt und schließlich beim Größerwerden der Gemeinschaft und bei der Verwirklichung des Programms auf eine Administration angewiesen ist.

In der Wirtschaft sind bekannte Visionäre:

  • Steve Jobs (+5.10.2011), der Gründer von Apple
  • Elon Musk (*1971), der aus Südafrika stammende Unternehmer, der in Brandenburg sein Elektro-Auto-Werk aufbaut, sagte einmal: „Unsere Existenz kann nicht nur darin bestehen, ein erbärmliches Problem nach dem anderen zu lösen. Es muss Gründe geben zu leben.“

Pastor Martin Luther Kingein typischer Visionär

I Have a Dream (dt. „Ich habe einen Traum“) ist der Titel einer berühmten Rede von Martin Luther King, die er am 28. August 1963 beim Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit vor mehr als 250.000 Menschen vor dem Lincoln Memorial in Washington, D.C. hielt.

Die Rede fasste die wichtigsten damals aktuellen Forderungen der Bürgerrechtsbewegung für die soziale, ökonomische, politische und rechtliche Gleichstellung der Afroamerikaner in Form einer Zukunftsvision für die Vereinigten Staaten zusammen. Sie drückte Kings Hoffnung auf zukünftige Übereinstimmung zwischen der US-amerikanischen Verfassung, besonders deren Gleichheitsgrundsatz, und der gesellschaftlichen Realität aus, die weithin von Segregation und Rassismus geprägt war. Der refrainartig wiederholte, spontan improvisierte Satz I have a dream der Schlusspassage wurde zum Titel der Rede. Diese wurde zu einer der meistzitierten Reden Kings, die seine Auffassung des American Dream beispielhaft repräsentiert.

Skepsis gegenüber Visionen

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen,” sagte Helmut Schmidt einst über Willy Brandts Visionen im Bundestagswahlkampf 1980.

Was ist eine Vision?

Der Begriff „Vision“ hat mehrere Bedeutungen:

Im Alten Testament lesen wir:
Wenn keine Offenbarung da ist, verwildert ein Volk; aber wohl ihm, wenn es das Gesetz beachtet(Sprüche 29,18)!
Vision meint in der Bibel eine Offenbarung Gottes bzw. seiner Pläne für die Zukunft. Die Träume Josefs, die Visionen von den Propheten Ezechiel, Jesaja, Daniel, die Geheime Offenbarung des Johannes sind voll mit Visionen.

Im Alltagssprachgebrauch wird das Wort „Vision“ verwendet, wenn ein Zukunftstraum, der im Moment sehr unrealistisch klingt, beschrieben wird: z.B der Tunnel durch den Ärmelkanal. Schon zu Napoleons Zeiten wurde von einem Tunnel unter dem Ärmelkanal geträumt. Doch erst 1994 wurde der fertige 50 km lange Tunnel für den Verkehr freigegeben. 12,5 Mrd Euro kostete die Verwirklichung dieses Traums.
Martin Saarinen verwendet das Wort „Vision“ in diesem allgemeineren Sinne.

Welche Vision steht am Anfang von Schönstatt?

Pater Kentenich schrieb 1951 von der Schweiz aus einen Text an Kardinal Bea, der damals im Heiligen Offizium arbeitete. Er nannte ihn „Schlüssel zum Verständnis Schönstatts“. Kentenich sprach damals nicht von „Vision“, sondern von „leitender Idee“.

Vision Schönstatts
Die LEITENDE IDEE kennt
(1.) eine überzeitliche und
(2.) eine zeitbedingte Prägung.

Sie lautet:

1. Der neue Mensch in der neuen Gemeinschaft mit universellem apostolischem Einschlag.

Das damit gezeichnete Ideal ist ewig alt und ewig neu. Ewig alt, weil alle Jahrhunderte danach gerungen; ewig neu, weil die erbsündlich belastete Natur immer Abstriche macht und sich in bürgerlicher Sattheit ausruhen und mit nivellierender Mittelmäßigkeit zufriedengeben möchte.

Der hier gemeinte »neue Mensch« ist der geistbeseelte und idealgebundene Mensch, fern von aller Formversklavung und Formlosigkeit.

Die »neue Gemeinschaft« löst sich – ohne formlos zu sein – von allem seelenlosen Formalismus, vom mechanischen, bloß äußerlichen Nebeneinander; sie ringt um tiefe, innerseelische Verbundenheit: um ein seelisches Ineinander, Miteinander und Füreinander, um ein in Gott verankertes, stets wirksames Verantwortungsbewusstsein füreinander, das Individuum und Gemeinschaft auf die Bahn des universellen Apostolates drängt und dort fruchtbar werden lässt.

aus „Schlüssel zum Verständnis Schönstatts“, In: Texte zum Verständnis Schönstatts, S. 149

Pater Kentenich schreibt an anderer Stelle, dass diese Idee des neuen Menschen für ihn eine „eingeborene Idee“ war. Er kann sich nicht erinnern, wann das in seiner Biographie dazugekommen wäre.

Er schreibt:
„Das eine ist die vollkommene innere Einsamkeit und die damit verbundene allseitige diesseitige Kontaktnot und deren Sinndeutung. Zweifellos gibt es viele Menschen, deren Entwicklungsjahre ähnlich gekennzeichnet sind. Ich glaube aber, bei sachgemäßer Prüfung feststellen zu dürfen, dass Grad und Umfang und Dauer – gemessen an zugänglichen Vergleichen ‑ außergewöhnliche Maße angenommen hatte. Nachträglich dürfte der Sinn davon leicht verständlich sein. Die Seele sollte von fremden Einflüs­sen, zumal personaler Art, möglichst unberührt bleiben, um mit allen Fasern für die eigentliche Lehrmeisterin meines Lebens und deren Formkraft und Erziehungsweisheit geöffnet zu bleiben. Gemeint ist hier die Gottesmutter.“ [Kentenich, Gründer und Gründung 1954]

Schon in der „Werktagsheiligkeit“ von 1937 zeichnete sich die kopernikanische Wende in der Spiritualitätsgeschichte ab. Da heißt es in der Definition der Werktagsheiligkeit: Sie ist „die gottgefällige Harmonie zwischen affektbetonter Gott-, Werk- und Menschengebundenheit in allen Lagen des Lebens.“ [A. Nailis, Werktagsheiligkeit, Vallendar-Schönstatt 1974, S.14]

Das Neue war der Ansatz über die Gebundenheit bzw. Bindung statt Lösung.
Der klassische Weg der Heiligkeit ging über die Lösung: So singen wir heute noch im Gotteslob: Mir nach, spricht Christus, unser Held, mir nach, ihr Christen alle! Verleugnet euch verlasst die Welt, folgt meinem Ruf und Schalle… [NGL 461] Das Lied stammt von Angelus Silesius aus dem Jahre 1668.

Neuformulierung der Schönstatt-Vision 2010

2010 zu Pfingsten formulierten Teilnehmer auf dem 3. Europäischen Familienkongress die Zukunftsvision Schönstatts noch einmal neu: Darin heißt es:
„Nach Pater Josef Kentenich, dem Gründer der Schönstatt-Bewegung, liegt in der Pflege
vielfältiger stabiler Bindungen eine Kernkompetenz für gelingendes Menschsein:
• Bei aller Freude an Mobilität – Binde dich an Orte!
• Bei aller Freude an Individualität – Binde dich an Menschen!
• Bei aller Freude an Toleranz – Binde dich an Werte!
• Bei aller Freude an Weltgestaltung – Binde dich an Gott!
„Mit dir in Liebe verbunden“ – unser Kongress-Motto fasst zusammen, wie wir am gemeinsamen Haus Europa mitbauen.“

Neuformulierung der Schönstatt-Vision 2014

Im Umfeld des 100jährigen Jubiläums wurde in einem Kreis der deutschen Schönstatt-Bewegung die Vision neu formuliert:

1.Wir wählen den Weg der Heiligkeit.
2.Wir leben authentische und starke Bindungen.
3.Wir treffen eine missionarische Entscheidung – Schönstatt ist im Aufbruch.

Die Schönstatt-Vision als Antwort auf eine Zeitnot

Die katholische Journalistin und Politikerin Diana Kinnert hat ein dickes Buch (447 Seiten!) über die neue Einsamkeit geschrieben. Da geht es nicht um verwitwete alleinlebende Rentner, sondern um die Generation der heute 20- bis 35-Jährigen.
2016 wurde den 20- bis 50-Jährigen das Label „Generation beziehungsunfähig“ angeheftet: Der Blogger Michael Nast wurde für diese Diagnose gefeiert und hat Bücher darüber geschrieben.
Schon 2013 schaffte es das Problem „Beziehungsangst“ auf die Titelseite des bekannten deutschen Magazins „STERN“.
Seit einigen Jahren sind die Bücher der Paartherapeutin Stefanie Stahl in Deutschland auf der Bestsellerliste.

Auf dem Hintergrund dieser Zeitnot bekommt die Zukunftsvision des neuen Menschen, der sich über seine Beziehungsfähigkeit definiert, einen neuen Glanz.

Schönstatt können wir begreifen als Schule und Trainingsraum für Beziehungsfähigkeit.
Seit 2014 ist das Schlüsselwort dafür:
Wir bauen mit an einer Bündniskultur.

Kommen wir zurück zu der Lebenszykluskurve von Saarinen

Am Anfang steht also Kentenichs Zukunftsvision vom neuen Menschen, den er als geistbeseelt und idealgebunden, fern von Formversklavung und Formlosigkeit definiert.
2012 wird er Spiritual in der Schule der Pallottiner. In seiner „Regierungserklärung“ klingt diese Zukunftsvision schon an, ebenso Teile des Programms. Er sagt den Jungen:
„Es darf nicht mehr vorkommen, dass wir verschiedene fremde Sprachen entsprechend dem Klassenziele beherrschen, aber in der Kenntnis, im Verständnis der Sprache unseres Herzens die reinsten Stümper sind…. Vor allem müssen wir uns kennen lernen und uns an eine freie, unserem Bildungsgrade entsprechende, gegenseitige Aussprache gewöhnen.“
Und diese Kommunikationskompetenz wird in den großen Horizont der Selbsterziehung zur freien Persönlichkeit, zu „festen, freien, priesterlichen Charakteren“ gestellt. – Das ist die damals jugendgemäße Formulierung für den neuen Menschen in der neuen Gemeinschaft.
Also nicht über etwas diskutieren, sondern lernen, sich selbst mitzuteilen. Das ist ein ganz eigener Kommunikationsstil.

Es geht um Erfahrungsaustausch, nicht um Meinungsaustausch.

Das ist der Erwerb einer Schlüsselqualifikation im Rahmen unserer Arbeit mit der Schönstattjugend. Und auch in den Erwachsenengliederungen Schönstatts geht es um diesen Kommunikationsstil der „Sprache des Herzens“.
Und wer das gelernt hat, kann das später einsetzen bei seiner Karriere und bei seiner Partnerwahl.

Ich kann mich noch gut an eine Erzählrunde auf einer Familientagung erinnern, in der die Paare erzählt haben, wie sie sich kennengelernt und warum sie sich füreinander entschieden hatten.
Eine Frau sagte über ihren Mann: „Das war der erste Junge, der nicht gleich mit mir ins Bett wollte, sondern erst einmal mit mir reden.“
Das Gegenteil klagte einmal eine Wallfahrerin in der Pilgerkirche: „Mein Mann war 30 Jahre Fernfahrer. Jetzt ist er in Rente, sitzt zu Hause, aber kriegt den Mund nicht auf. Ich finde das noch schlimmer, als wenn er früher ganz weg war.“
Oder eine andere Momentaufnahme: Als am 26.12.1999 der Orkan Lothar über den Schwarzwald fegte, riss er Tausende Bäume nieder. Die ganze Forstverwaltung von Baden-Württemberg wurde zu Noteinsätzen in den Wald geschickt, unter anderem auch ein Absolvent der Forsthochschule. Am Ende des Einsatzes lobte der Einsatzleiter den Absolventen und meinte: Er habe noch nie einen Absolventen erlebt, der so umsichtig und praktisch und verantwortungsvoll die ihm zugewiesenen Forstarbeiter geführt habe. Da habe sich wohl im Studium was geändert. – Der Absolvent nahm das Lob lächelnd an und dachte bei sich: Im Studium habe ich das nicht gelernt, aber meine jahrelange Erfahrung als Zeltlagerleiter hat mir sehr geholfen.

Event- und Projekt-Pastoral

Doch nicht nur im Rückblick lässt sich der Mehrwert eines Engagements in der Schönstatt-Mannesjugend würdigen. Schauen wir einmal auf die früheren deutschlandweiten Jugendfeste an einzelnen Schönstatt-Zentren und an die Nacht des Heiligtums, die nach dem Weltjugendtag in Köln im Jahr 2005 zum festen Jahresprogramm der Schönstatt-Jugend gehört und zum Selbstläufer geworden ist. Da geht es ganz klar um Erlebnispastoral, um ein Event. Aber da circa ein Drittel der Teilnehmer in irgendeiner Form in die Vorbereitung und Durchführung involviert ist, ist das Format auch Projektpastoral: „Das haben wir entwickelt und geleistet!“ Nur Eventpastoral würde anspruchsvolle Konsumenten erziehen. Es ist die Mischung von Projektpastoral und Eventpastoral, das den Teilnehmern vermittelt: So kann Kirche auch sein.
Als ich im Sommer 1992 erstmals am Familienfest in Graz mitwirkte, stellte sich auch eine Frau aus dem Diözesanlaienrat vor. Sie wollte nicht nur aus zweiter Hand Informationen über Schönstatt haben, sondern einfach mal Schönstatt kennenlernen. Am Ende des Tages sprachen wir noch mal miteinander. Sie hatte viele Paare gefragt, was sie machen und warum sie sich in Schönstatt engagieren. Die häufigste Antwort, die sie bekam, war: „Ja, in Schönstatt, da lässt man uns machen.“ Schönstatt lockt durch seine Art Menschen an, die Freude daran haben, Projekteigentümer zu sein und nicht nur zuverlässige Ausführer der Ideen und Entscheidungen anderer.

Förderung der Eigeninitiative

Das passt auch zu dem Stil, wie Pater Kentenich die erste Generation erzogen hat.
Josef Engling, ein Schönstätter der ersten Stunde, wird als Soldat im Ersten Weltkrieg eingezogen. Er kommt in eine Kaserne und schreibt ganz freudig an Pater Kentenich, dass es ihm gelungen sei, den zuständigen Pfarrer zu Vorträgen für die katholischen Soldaten in der Kaserne zu gewinnen. Die Antwort Pater Kentenichs muss ihm wie ein nasser Waschlappen vorgekommen sein. Dieser schreibt nämlich am 2.3.1917:
„Vielleicht ist Dir auch schon zum Bewusstsein gekommen, wie sehr unsere hiesigen Kongregationseinrich­tungen auf die menschliche Natur abgestimmt sind. Jede wesentliche Abweichung rächt sich bitter. Es ist gewiss anerkennenswert, dass der Herr Pfarrer Euch eigens Vorträge hält. Aber – Eure Aktivität wird dadurch nicht angereizt. Das ist ein sehr, sehr großer Nachteil und gewiss auch ein Grund, weshalb Ihr Euch nicht tiefinnerlich nahe kommt. Der Herr Pfarrer erreicht somit das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt. Er zerstört mehr, als er nützt. -… Immerhin dürfte es Deine Aufgabe sein, mit Klugheit und Takt die von Dir erkannten hindernden Einflüsse auszuschalten oder doch möglichst unwirksam zu machen. Hast das ja als Präfekt gelernt. Allerdings, was sich nicht ändern lässt, muss man halt geduldig ertragen.“
Auch hier wird deutlich, wie sehr es Pater Kentenich auf die Förderung der Selbständigkeit ankam.

In den 20er und 30er Jahren war eine gängige Formulierung: „Dort, wo ich bin, muss Schönstatt wachsen.“ „Ich bin Schönstatt.“ – Die Mentalität, die in diesem Slogan zum Ausdruck kam, würde man heute mit „self-empowerment“ oder Selbstermächtigung umschreiben.

Beispiel: Programm der Schönstatt-Mannesjugend

Das Programm der Schönstatt-Mannesjugend in Deutschland wurde Silvester 1999/ Neujahr 2000 in den „fünf Säulen“ formuliert:

  • Gemeinschaft
  • Lebensschule
  • Liebesbündnis
  • Mannsein
  • Apostelsein

Im Oktober 2012 wurden die Basaltsäulen neben dem Tabor-Heiligtum in Schönstatt enthüllt, auf denen diese Kernbegriffe eingemeißelt sind.

Die Administration der Schönstatt-Bewegung

Die Administration der Organisation der Schönstatt-Bewegung ist (im Idealfall) minimal. Es gibt (fast) keine Bürohochburgen, wie sie inzwischen in den Bischofsstädten Deutschlands gewachsen sind. Es sind hauptsächlich die Notebooks, Drucker und Smartphones der Diözesan- und Gruppenführer und der Patres und Schwestern.
Wenn wir das vergleichen mit den Bürohochburgen der Ordinariate, dann können wir wirklich sagen: small is beautiful.
Die föderative Struktur Schönstatts ermöglicht auch, dass generell ein Stil im Apostolat vorherrscht, der negativ durch die Aktivitäten des Terrornetzwerkes Al Quaida populär geworden ist. Soziologisch ist es gleich strukturiert: Uns eint die gemeinsame Spiritualität, aber es gibt viele selbständig agierende Gruppen.

Die Versuchung von Diözesanführern (und anderen), in ihren jeweiligen Gliederungen (oder Bereichen) das zu ändern und hierarchische Strukturen und Befehlsketten aufzubauen, ist allerdings immer gegeben.

Schönstatt – kein dritter Orden

Auch die Mitglieder der Institute und Bünde, die hauptamtlich in der Bewegung tätig sind, also die so genannten „Zentralemitarbeiter“, sind nicht automatisch strukturell und satzungsmäßig die ungekrönten Könige. Das war das klassische Modell der dritten Orden.

In Schönstatt dagegen haben die Laienführungen das letzte Wort. Sollte z.B. ein Pater in einer Diözese zu langweilig oder zu polarisierend wirken, dann hat die Laienführung das Recht, ihn nach Hause zu schicken.

In dem Zusammenhang kann ich die Lektüre des Buches „Das Lebensgeheimnis Schönstatts, Band 1: Geist und Form“ sehr empfehlen. Darin schreibt Pater Kentenich 1952: „Es ist viel leichter, eine Organisationsmaschine handwerksmäßig in Gang zu bringen und zu erhalten [= das, was Saarinen „Administration“ nennt], als Geist und Leben zu fördern. Dazu gehört eine seltene Meisterschaft, die als Charisma von Gott geschenkt und oder durch Gebet, fleißiges Studium und jahrelange Experimente erworben werden muss.“ [S.80f] „Was Schönstatt seine Existenz gegeben (hat), was es fruchtbar gemacht (hat) und mit fühlbarer Dynamik in weiteste Kreise eindringen ließ, war der überflutende Strom von Geist und Leben, nicht die Berufung auf Gesetz und Form, auf Organisation und Bestimmung.“ [S.81]

Saarinen schreibt: Mit zunehmendem Alter kann es sein, dass so nach und nach die Vision verloren geht und am Ende nur noch die Administration übrigbleibt. Mit der Neubesinnung auf die Vision oder mit einer neuen Vision kann eine Verjüngung der Gemeinschaft stattfinden.

Ganz praktisch: Wenn es auf dem Zeltlager schwierig geworden ist, dann kann man als Gruppen- oder Lagerleiter durchaus mal in die Selbstmitleidsfalle tappen und sich fragen: „Warum tue ich mir das eigentlich an, mich mit den Kindern fremder Leute rumzuärgern? Mein Klassenkamerad ist mit ein paar Freunden an der türkischen Mittelmeerküste im All-inclusive-Hotel und lässt es sich am Pool gutgehen.“ – Oder wenn man unter Zeitdruck den erweiterten polizeilichen Führungszeugnissen der angehenden Gruppenleiter nachjagen muss, weil die Jungen das verschlampt haben. Doch dieser Vorgang gehört zum institutionellen Schutzkonzept, um Missbrauch zu verhindern. Oder wenn der versprochene Artikel nicht zum Redaktionsschluss geliefert wurde und der ganze Zeitplan durcheinanderkommt.

Es gibt viel Sand im Getriebe; und es braucht eine Portion heiligen Trotzes, dann doch weiterzumachen. Was man sich in den Jahren aber an Sozialkompetenz und Kommunikationskompetenz aneignet durch das On-the-job-training, das kann man oftmals erst Jahre später selbst würdigen, wenn man z.B. mit Klassenkameraden ins Gespräch kommt, die sich nicht ehrenamtlich engagiert hatten und ein Leben weit unter ihren Möglichkeiten führen.
Der neue Mensch in der neuen Gemeinschaft ist eine faszinierende und notwendende Vision für heute. Es lohnt sich, auf dieses Ziel hin sein Leben minuten-, stunden-, tageweise an andere zu verlieren. Man wird das Leben, d.h. den Sinn des Lebens gewinnen.

Auch wenn also die Schönstatt-Männerbewegung 110 Jahre auf dem Buckel hat und manche mit einem Schuss Selbstironie die Vokale des deutschen Alphabetes so deuten A-E-I-O-U = Alte Esel jubilieren ohne Unterlass, so kann doch durch die Rückbesinnung oder Neuformulierung der Vision einer „Kirche am neuen Ufer“ (= O-Ton Kentenichs) ein immer wieder neuer Verjüngungsprozess stattfinden.

Du wagst dein Ja und erlebst einen Sinn. Du wiederholst dein Ja und alles bekommt Sinn. Wenn alles Sinn hat, wie kannst du anders leben als ein Ja.

Dag Hammarskjöld

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