P. Elmar Busse •
Wenn man mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse der Kommunikationswissenschaft oder der Keyword-Recherche aus dem Marketing an die Veröffentlichungen über P. Josef Kentenich geht, dann findet man als Bildmarke oder Logo Kentenich den schneeweißen Rauschebart, als Keywords: „baldige Heiligsprechung“, „immer“, und seit 2020: „Missbrauch“. Wir möchten in der folgenden Artikelserie einen anderen Blick auf Kentenich werfen– weder den auf den Nikolaus mit Rauschebart noch den auf den Heiligsprechungskandidaten, aber auch nicht nur den auf den des Machtmissbrauchs oder geistlichen Missbrauchs Verdächtigten. —
Nach der sehr positiven Resonanz auf vor ca. 30 Jahren verfasste und leicht aktualisierte Texte von P. Elmar Busse hat ihn dazu motiviert, im gleichen Stil weitere „andere Blicke“ auf Pater Kentenich vorzustellen, verfasst in diesem Jahr 2023. Wir erhoffen uns auch mit diesen neuen Texten, jenseits der gängigen Attributionen einen neuen, lebendigen Blick auf die vielschichtige Gründergestalt zu ermöglichen und dadurch die Neugier zu wecken, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen. Wir meinen: Es lohnt sich!
Die Idee von Wagner Dodge
An einem heißen Augusttag des Jahres 1949 sprangen 15 Männer einer Elite-Feuerwehrtruppe – voll ausgerüstet – mit Fallschirmen auf dem Kamm des Mann Gulch ab, einem kleinen Tal am Oberlauf des Missouri.
Sie sollten das Feuer eindämmen, das am Vortag durch einen Blitzeinschlag entstanden war, indem sie eine Schneise schlugen und den Boden von allem brennbaren Material säuberten. Eine Routineaufgabe für die Truppe. Doch das Feuer hatte die Schlucht bereits übersprungen.
Der Truppführer, Wagner Dodge, befahl seiner Truppe, den Hang wieder hinaufzuklettern, um in den Bereich der vegetationsfreien Schotterfelder zu gelangen, aber das Feuer fraß sich schneller durch die trockene Vegetation, als die Männer rennen konnten.
Da tat der Anführer etwas, was seine Kameraden völlig aus der Fassung brachte: Anstatt weiter vor dem Feuer davonzulaufen, blieb er stehen, holte Streichhölzer hervor und begann, das kniehohe trockene Gras um sich herum anzuzünden. Einer seiner Kameraden berichtete später: „Wir dachten, er sei verrückt geworden. Was zum Teufel macht er da? Das Feuer ist uns auf den Fersen, und der Boss legt noch eins drauf. Dodge, dieser Mistkerl, will uns umbringen“. Als Dodge sein Team mit wild fuchtelnden Armen zu sich rief und „Hier! Hier lang!“ brüllte, folgten sie ihm nicht, sondern flüchteten weiter nach oben. Dodge tränkte sein Taschentuch mit Wasser aus seiner Feldflasche und warf sich auf den verkohlten Boden, den das von ihm entfachte Feuer hinterlassen hatte. Während der Waldbrand in der nächsten Viertelstunde über ihm wütete, überlebte er dank des Sauerstoffs, der in Bodennähe noch vorhanden war. Neben Dodge überlebten nur zwei der insgesamt 15 Feuerwehrleute, weil sie schnell genug das rettende Kiesfeld erreichten.
In der Ausbildung der Feuerwehrleute war dieser Gedanke, der Dodge das Leben gerettet hatte, nicht enthalten. Dodge kam in höchster Lebensgefahr selbst auf die Idee, dieses Fluchtfeuer zu entzünden und sich so zu schützen. Der Unfall war kein Einzelfall. Zwischen 1990 und 1995 starben in den USA 23 Feuerwehrleute bei dem Versuch, vor einem Feuer bergauf zu fliehen, ohne ihre schwere Ausrüstung zurückzulassen. 1994 sorgten starke Winde am Storm King Mountain in Colorado dafür, dass sich ein Feuer in einer Schlucht blitzschnell ausbreitete. Vierzehn Feuerspringer und Waldbrandbekämpfer kamen ums Leben. [Adam Grant, Think again. Die Macht des flexiblen Denkens, Piper-Vlg. München 2022, S.9-16]
Gegenfeuer entzünden
In den Texten Pater Kentenichs seit den dreißiger Jahren finden wir immer wieder das Bildwort vom ‚Gegenfeuer‘; und in der Predigt zum ersten großen Männertreffen in Schönstatt an Pfingsten 1930 findet sich noch die Nebenbemerkung, dass er das aus den Indianerbüchern seiner Jugend kenne. Tatsächlich gab es diese Strategie in den wasserarmen, trockenen Steppen: Man legte ein kontrolliertes Feuer, um der Feuerwalze der Flammen, die sich durch Gras und Büsche fraßen, etwas entgegenzusetzen. Bei Waldbränden funktioniert das nicht, weil der hohe Funkenflug eine unvorstellbar breite Schneise aus verkohltem Boden erfordert hätte.
Das Wort vom Gegenfeuer wurde von Pater Kentenich auf verschiedene Situationen angewandt.
Er hatte selbst die Erfahrung gemacht, dass seine vielen aufklärenden und warnenden Vorträge über den Nationalsozialismus, die er Anfang der 30er Jahre in ganz Deutschland gehalten hatte, den braunen Flächenbrand nicht hatten aufhalten können, der dann 1945 mit verbrannter Erde und einer Trümmerlandschaft zu Ende ging. Schon früh hatte er in einem Gespräch mit Kardinal von Galen in Münster, der als Deutschnationaler von der Dynamik des Nationalsozialismus fasziniert war und sich fragte, ob man diesen „taufen“ könne, dem Kardinal geantwortet, er wisse nicht, wo das Taufwasser auftreffen sollte. Auch die Breitenwirkung des „Marianischen Volksjahres“ 1934, in dem die Schönstätter in ganz Deutschland ihre Mitchristen zum Bau und zur Einweihung von Marienkapellen und Marienbildstöcken anregen und so die Christen geistig und seelisch gegen die braune Ideologie immunisieren sollten, trat nicht im erhofften Maße ein.
Ausgehend von dieser Ernüchterung betonte Pater Kentenich in der Nachkriegszeit, dass Vision nur durch Gegenvision überwunden werden könne.
Vorwärts schauen
Das ist sein Geheimnis, das von diabolischem Einfluss und satanischen Kräften augenscheinlich ständig gespeist wird. Wir behandeln ihn vielfach wie ein System und raten und taten deshalb an seinem Kern vorbei. Wir weisen ihm Irrtümer nach, er lächelt und geht siegesgewiss zur Tagesordnung über.
Mit ganzer Seele hängt er an seinem neuen Welt- und Gesellschaftsbilde, das er in seiner Ganzheit schaut und mit heißer Liebe und bewundernswerter Opferkraft umfängt, das durch Nachweis von Irrtum und Fehlgriff nicht in Erschütterung gerät. Er sieht, fördert und fordert eine neue soziologische Schichtung von Welt und Menschheit.
Wie der Mond am schnellsten aus dem Blickfeld gerückt wird durch die aufsteigende Sonne, so wird auch die Vision des Kollektivismus mit ihrem spärlichen Wahrheitsgehalt überwunden, wenn wir die Sonne der christlichen Zukunftsvision in ihrer vollen Pracht und Herrlichkeit aufgehen lassen, so wie die Hl. Schrift sie uns zeigt. Das christliche Abendland verdankt dieser Vision Gestalt und Form und damit Glück und Fortschritt auf allen Gebieten.
Jetzt gilt es, sie von zeitbedingten Formen zu lösen, in ihren Wesenselementen zu erfassen, mit Wärme zu künden und ihre ganze Dynamik in den neuen Verhältnissen sich schöpferisch auswirken zu lassen.
Oft mag es uns bedrücken, wenn wir sehen, wie der Kollektivismus mit seinem dünnen und schmalen Lichtschein eine unwiderstehliche Formkraft entfaltet und das Weltgeschehen bestimmt, während wir, die wir das volle, strahlende Licht der Sonne unser eigen nennen, mut- und hilflos vor den Zeitproblemen stehen, fast nur den Blick nach rückwärts richten, die Schau in die Zukunft scheuen oder mit drückendem Pessimismus beantworten.
Es ist wertvoll, wenn wir uns durch Exerzitien zu mystischer Innigkeit erziehen und durch Seelsorgskurse und durch pädagogische Tagungen zu Zeitfragen Stellung nehmen und einheitliche Leitgedanken herausarbeiten. Es schickt sich für reife Menschen, die sich selbst in Besitz haben und einer Familie angehören, an der sie mit ganzer Seele hängen, dass sie im Verkehr nach außen duldsam, wohlwollend und friedliebend sind. Nach all diesen Richtungen dürfen und sollen wir mehr tun als bisher.
Das allein führt uns jedoch letzten Endes nicht zum Ziele. Es hängt alles davon ab, ob wir es wieder fertigbringen, mit alter Inbrunst, Opferfreudigkeit und Einsatzbereitschaft uns zurückzufinden zu unserer großen Zukunftsvision, wie sie in „Himmelwärts“ umrissen ist. Glückt uns das nicht, so mögen wir das Wohlwollen strebsamer kirchlicher Kreise uns erwerben, mögen gerne gesehen und gehört, als vernünftig, weltaufgeschlossen, kulturfreudig und weitzügig gelobt werden, zutiefst gleichen wir und unsere Gemeinschaft einem Adler, der mit gebrochenen Flügeln zur Sonne empor will. Unsere beste Zeit ist vorbei. Der Totengräber steht vor der Türe. Das Grab ist uns schon geschaufelt, bald wird das Begräbnis stattfinden. Unsere Jugendideale waren Traum und Schaum, und die Kirche steht trauernd an der Bahre einer jungen Gemeinschaft, die einmal zu den höchsten Hoffnungen berechtigte, dann aber im Kampf des Lebens zusammengebrochen ist.
Gott bewahre uns vor diesem tragischen Schicksal! Er erwecke in unseren Reihen Männer und Frauen, die wie die alten Propheten gleich Sturmesgebrause durch die welken Blätter eines morschen Baumes hindurchfegen, immer wieder neu zum Kampf aufrufen und höchste Forderungen an sich und andere stellen. Wenn wir vertrauensvoll unser Mater perfectam habebit curam [Die Mutter wird vollkommen für uns sorgen.] sprechen, so gilt das auch für solche Zeiten des Niederganges und der Nivellierung. Wir beten und opfern, dass die Gottesmutter immer Werkzeuge findet, mit denen sie schalten und walten kann, wie sie will, so dass sie immer bis zum Weltenende triumphierend das Wort wiederholen kann: Veni, vidi, vici! [J. Kentenich, Brief vom 6.Mai 1948 ]
Eine rein argumentative Auseinandersetzung läuft ins Leere
Diese „Gegenvision“ sei das so genannte Gegenfeuer, das gegen die ideologischen Flächenbrände entzündet werden sollte.
In seinen geistesgeschichtlichen Höhenflügen, die der Horizonterweiterung seiner Zuhörer dienten, zeigt er auf, dass in den ersten vier Jahrhunderten die sich entwickelnden Irrlehren um das Gottesbild kreisten, im Zeitalter der Reformation um das Kirchenbild, im 20. Jahrhundert um das Menschenbild.
Er sprach von ‚anthropologischen Häresien‘.
Gerade im wachsenden Einflussbereich der Sowjetunion im Nachkriegseuropa und dem kollektivistischen Menschenbild der kommunistischen Ideologie sah er eine große Gefahr, die nicht an den Ostblockgrenzen haltmachte, sondern einflussreiche westliche Intellektuellenkreise faszinierte.
Eine rein argumentative Auseinandersetzung mit dem Marxismus hielt er angesichts dieser Dynamik für unzureichend. Wichtig sei es, die christliche Zukunftsvision, wie sie im Magnificat zum Ausdruck komme, nämlich die Erhöhung der Niedrigen durch Gott, in Verbindung mit dem christlichen Menschenbild wieder zum Leuchten zu bringen.
So stromlinienförmig ist der Begriff ‚Zukunftsvision‘ aber nicht.
Wir erinnern uns an den sarkastischen Ausspruch von Helmut Schmidt, wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. So kommentierte er im „Spiegel“ Willy Brandts Visionen im Bundestagswahlkampf 1980.
Inzwischen ist aber auch den rationalsten Analytikern klar: Wer keinen Mut zum träumen hat, hat auch keine Kraft zum Kämpfen. Walter Staples und nach ihm viele Coaches raten Menschen, die in ihre Persönlichkeitsentwicklung investieren wollen: „Beurteile niemals deine Möglichkeiten danach, was deine Augen sehen können, sondern danach, was dein Geist sich vorstellen kann!“
Wenn wir einen kurzen Blick ins Alte Testament werfen, dann werden wir feststellen, dass z.B. der Prophet Jesaja sich nicht nur mit der Gesellschaftskritik begnügt und analytisch die Korruption und die Ungerechtigkeit brandmarkt. Er führt weiter aus: Wenn diese gesellschaftlichen Übel beseitigt werden, dann wird das Land aufblühen. Er entwickelt eine Zukunftsvision (Mehr dazu: Jes 58,9-14).
Der Feuerwehrmann Wagner Dodge hatte damals mit seinem Fluchtfeuer oder Gegenfeuer sein Leben gerettet. Wollen wir gegenüber so manchen auf den ersten Blick attraktiven Häresien über den Menschen das christliche Menschenbild wieder attraktiv machen, so kommt es darauf an, dass wir uns nicht im defensiven Argumentieren verlieren, sondern den lebensmäßigen Beweis liefern, das christlich geprägte Persönlichkeiten ein Segen für andere und eine Erfüllung für sie selber sind.
In der Abschlussdeklaration des dritten europäischen Familienkongresses 2010 in Schönstatt wurde die Zukunftsvision Schönstatts neu formuliert und aktualisiert. Hier die wichtigsten Sätze aus der Deklaration:
„Nach Pater Josef Kentenich, dem Gründer der Schönstatt-Bewegung, liegt in der Pflege vielfältiger stabiler Bindungen eine Kernkompetenz für gelingendes Menschsein:
• Bei aller Freude an Mobilität – Binde dich an Orte!
• Bei aller Freude an Individualität – Binde dich an Menschen!
• Bei aller Freude an Toleranz – Binde dich an Werte!
• Bei aller Freude an Weltgestaltung – Binde dich an Gott!
„Mit dir in Liebe verbunden“ – unser Kongress-Motto fasst zusammen, wie wir am gemeinsamen Haus Europa mitbauen.
In Liebe verbunden in der Familie: Mann und Frau, Eltern und Kinder.
In Liebe verbunden von Land zu Land: mit allen familienfördernden Initiativen.
In Liebe verbunden mit Gott und der Gottesmutter: damit der Himmel die Erde berührt.
Damit Europa Zukunft hat!“
Auf dem Pfingstkongress im Juni 2022 formulierte der deutsche Bewegungsleiter, P. Ludwig Güthlein:
Pater Kentenich hat oft von der „Kirche am neuen Zeitenufer“ und von den Veränderungsprozessen gesprochen, in denen sich Welt und Kirche befänden. Bisher war dieses Bild als Blick über das Wasser in die Zukunft hin zum neuen Ufer gedeutet worden. „Im Kongress kam der Gedanke auf, dass alles das, was heute und jetzt die Menschen bewegt, schon zu dem neuen Zeitenufer gehört. Unser Schiff ist nicht nur unterwegs auf dem Wasser und durch manche Stürme hindurch, sondern wir sind am neuen Ufer angekommen. Nun geht es für die Schönstatt-Bewegung darum, in das neue Land hineinzugehen. „Das Liebesbündnis als Wurzel unserer Spiritualität muss sich im neuen Land, in den aktuellen Herausforderungen bewähren und seine Fruchtbarkeit erweisen“, so Pater Güthlein.
Papier ist geduldig
Papier ist geduldig. Und deshalb ist es wichtig, dass wir nicht nur Absichtserklärungen produzieren und kommunizieren, sondern auf einige Projekte schauen, die der Verwirklichung der Schönstätter Zukunftsvision dienen: Was fördert die Beziehungsfähigkeit der Menschen?
Ich schaue hier nur auf meinen Erfahrungsbereich, auf Deutschland. Da gibt es die Marienschule in Vallendar, die Kentenichschule in Kempten; da gibt es in München seit 15 Jahren das Projekt Lebensschule für junge Männer; da gibt es seit über 40 Jahren mehrtägige Ehevorbereitungskurse. Da gibt es die beiden Ehe- und Familienakademien in Mainz und Memhölz, die in einem zweijährigen Kurs Ehepaare ausbilden, damit sie in ihren Pfarreien oder darüber hinaus Ehe- und Familienseelsorge ehrenamtlich ergänzend zu den Hauptamtlichen fördern.
Häufig ist es so, dass die nachfolgenden Teilnehmer durch die Mundpropaganda der ehemaligen Teilnehmer motiviert werden, sich auf solche Abenteuer einzulassen. Und die Erwartungen werden selten enttäuscht.
„Feuerwehrmann ist ein starkes Bild, und gerade der Mut zum ungewöhnlichen, neuen ist für uns wichtig. Wir haben uns in Schönstatt zu lange mit der Rettung und Verteidigung von gestern beschäftigt.