Pilzsammler

Veröffentlicht am 2022-10-13 In Kentenich

Ein anderer Blick auf Pater Kentenich: Der Pilzsammler

P. Elmar Busse •

Wenn man mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse der Kommunikationswissenschaft oder der Keyword-Recherche aus dem Marketing an die Veröffentlichungen über P. Josef Kentenich geht, dann findet man als Bildmarke oder Logo Kentenich – den schneeweißen Rauschebart, als Keywords: „baldige Heiligsprechung“, „immer“, und seit 2020: „Missbrauch“. Wir möchten in der folgenden Artikelserie einen anderen Blick auf Kentenich werfen– weder den auf den Nikolaus mit Rauschebart, noch den auf den Heiligsprechungskandidaten, aber auch nicht den auf den des Machtmissbrauchs oder geistlichen Missbrauchs Verdächtigten. —

Diese Texte entstanden vor circa 30 Jahren. Der lange Atem der Kirche, die in Jahrhunderten atmet, erlaubt es uns, diese Texte mit leichten Aktualisierungen wieder zur Diskussion zu stellen. Wir erhoffen uns, jenseits der gängigen Attributionen, einen neuen, lebendigen Blick auf die vielschichtige Gründergestalt zu ermöglichen und dadurch die Neugier zu wecken, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen. Wir meinen: Es lohnt sich! 

Sammeln Sie gerne Pilze?

In meiner ersten Pfarrei war der Organist ein leidenschaftlicher Pilzsammler. Wenn es geregnet hatte und warm war, konnte ihn nichts mehr halten. Oft kam er mit einem großen Korb voll nach Hause. Andere waren nicht so erfolgreich. Das lag daran, weil sie nicht so viele essbare Pilze kannten oder auch viel­leicht nicht so einen geübten Blick für Pilze hatten. Die wenigen Male, die ich selbst welche gesammelt habe, ließen die Bewun­derung in mir wachsen für die, die unter trocknem hohem Gras mit schlafwandleri­scher Sicherheit die Maronen aufspürten. Die Fliegenpilze, die am Wegrand oder im offenen Fichtenwald standen, die hatte ich schnell entdeckt. Doch leider sind Fliegen­pilze giftig, oder — wie mancher Sammler ironisch bemerkt — nur einmal essbar, auch wenn sie noch so schön aussehen und durch ihre Farbe auch leicht zu erkennen sind.

Blick eines Pilzsammlers

Pater Kentenich hatte den Blick eines Pilz­sammlers, wenn es darum ging, in der Zeit Trends zu beobachten, aus denen sich was machen ließ. So wie ein erfahrener Pilz­sammler seinen Korb vollbekommt, konn­te er unter den vielen Trends, Meinungen und Anliegen das herausfinden und -fil­tern, was als durchaus berechtigtes und positives Anliegen von der Kirche aufge­griffen werden konnte.

Aus den vielen Stimmen hörte er die Fragen heraus, auf die der Glaube eine Antwort geben könn­te — vorausgesetzt, man hatte selbst die Verbindungslinie zwischen dem Glauben und den neuen Fragen gefunden.

Darin unterschied sich Pater Kentenich von so manchem anderen aufmerksamen kirchlichen Beobachter der Zeit. Er verfiel nicht der Versuchung, nur die Gefahren und die gefährlichen Erscheinungen zu se­hen und davor zu warnen; erst recht nicht verfiel er einem Pessimismus, der nur über die schlechten Verhältnisse, über den Zer­fall der Sitten, über die Verwahrlosung der Jugend klagen kann. Es ist leichter, im Wald einen Fliegenpilz zu finden, ihn aus­führlich zu beschreiben und vor seiner Gif­tigkeit zu warnen. Nur — davon wird kei­ner satt. Es ist schwieriger, die essbaren Pil­ze zu finden, aber darauf kommt es an. Das ergibt am Ende eine köstliche Suppe oder eine schmackhafte Beilage zum Fleisch oder eine gute Füllung für ein Omelett.

Fliegenpilz

Fliegenpilz

Prophetische Begabung

Die Kunst, in dem Wirrwarr der Zeit das herauszufinden, was Gott will, war immer eine Aufgabe von Propheten. Sie, die Gott sehr nahestanden, die sich eingefühlt hat­ten in den Umgangsstil Gottes mit den Menschen, die mit kritischer Distanz und verwundbarem Herzen die Missstände und Ungerechtigkeiten ihrer Zeit aufzudecken und zu ändern versuchten, waren für ihre Umgebung immer auch die Fremden, de­ren Art, die Dinge zu sehen, nicht konform lief mit den gängigen Meinungen.

Sie predigen Hoffnung, wo Untergangs­stimmung herrscht: so Jesaja bei der Bela­gerung von Jerusalem durch die Könige der Umgebung zur Zeit des Königs Ahas um 735 v. Chr. (vgl. Jes 7,9: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht.“) und wiederum durch Sanherib um 690 v. Chr. (vgl. Jes 36), Jeremia in seinem Brief an die Verbannten in Babylon nach 587 v. Chr. (vgl. Jer 29: „Ich will euch Zu­kunft und Hoffnung geben“).

Sie warnen vor falscher Sicherheit, wo manche meinen, der Tempel des Herrn sei Garantie, dass alles gut gehe, und man brauche keine Gebote Gottes beachten. Op­fer und Gebete sind kein Ersatz für Ge­rechtigkeit und Barmherzigkeit (vgl. Am 5,21 – 6,14).

Die Propheten treten auch auf den Plan, wenn die Menschen falsche Schlussfolgerungen aus dem Schweigen Gottes ziehen: „Wen hast du denn so sehr gescheut und gefürchtet, dass du mich betrogen hast? An mich hast du nicht gedacht, um mich hast du dich nicht gekümmert. Nicht wahr, weil ich schwieg und mich verbarg, hast du mich nicht gefürchtet“(Jes 57,11).

Die Propheten sind die ersten, die den Wechsel im Umgang Gottes mit den Men­schen mitbekommen und darauf aufmerk­sam machen: „Denkt nicht mehr an das, was früher geschah, schaut nicht mehr auf das, was längst vergangen ist! Seht, ich schaffe Neues; schon sprosst es auf. Merkt ihr es nicht?“ (Jes 43,18f)

Pater Kentenichs grundsätzlich positive Sicht der Verhältnisse kommt am besten in einem Kassiber zum Ausdruck, den er zum Jahreswechsel 1941/42 aus dem Gefängnis Koblenz schmuggeln konnte: 

Am Horizont zeigen sich — langsam erkennbar — die großen Strukturlinien einer neuen Welt*. Eine alte Welt ist am Verbren­nen. Wir sehen das alles und werten es nur im Lichte unserer Sendung. Unser Glauben, Hof­fen und Lieben mag schwerste Proben durch­machen, Leib und Seele mögen heftigen Tortu­ren unterworfen werden, für uns gibt es nur ei­nes: unsere Sendung … Es gibt und darf für den wahrhaft Gesandten in solch schicksals­schwerer Zeit nur eines geben: Unsere Sen­dung, unsere Familie.“

Und einige Jahre später, 1949: 

Gott ist ein Gott des Lebens … Wo er brechen und zerbrechen, wo er untergehen, wo er sterben lässt, da will er neues Leben schaffen. So muss das Saatkorn erst sterben. Es muss untergehen, dann bringt es viele Frucht. Legen wir diesen Maßstab an die heutige Zeit an, lassen wir die furchtbaren Trümmer, die schrecklichen Verheerungen auf uns wirken, die uns allenthalben in der physischen, in der moralischen, in der geistigen Ordnung begegnen, so möchten wir den Atem anhalten. Es muss eine herrliche neue Welt sein, die er aus diesem gewaltigen Sterben erstehen lassen, es muss eine wundersame Ordnung sein, die er aus den Katastrophen und Ruinen neugestalten will.“ (zitiert aus der Textsammlung: Texte zum Vorsehungsglauben) 

Also keine Weltuntergangsstimmung, aber auch keine Verdrängung der tatsächlich existierenden Schwierigkeiten, sondern bei allem ernsten Realismus eine Hoffnung, die auf der Erfahrung beruht, dass Gott als Herr der Geschichte tatsächlich das Heil aller will und wirkt. Diese Perspektive lässt ihn manches Phänomen ganz anders bewerten. Einige Beispiele dazu, wie Pater Kentenich solche Trends aufgegriffen hat und in seine Spiritualität eingebaut hat:

Unendlichkeitstrieb 

Vielleicht hat es keine Zeit in der Geschich­te gegeben, die so stark von der Unruhe des Unendlichkeitstriebes bewegt worden ist, aber auch keine, die diesen Trieb so stark und einsei­tig im Diesseits zu befriedigen suchte, deshalb keine, die so unbefriedigt, unruhig und un­glücklich ist wie die unsere.“ (Oktoberbrief 1949, S 100f.)

Er sprach also nicht vom Materialismus, sondern von einem fehlgeleiteten aber vor­handenen „Gottestrieb“ bzw. „Unendlich­keitstrieb“. Bei einer solchen Sicht werden keine Fronten zwischen hie Christ dort Materialist aufgebaut. Es gibt keine funda­mentalistischen Abgrenzungen, sondern als Christ kann ich mich bemühen, bei meinen Gesprächspartnern den verschüt­teten oder fehlgeleiteten „Unendlichkeits­trieb“ wieder freizulegen und in die richti­ge Richtung zu kanalisieren.

Sehnsucht nach Freiheit

Er sah darin nicht eine Gefahr, dass sich die Jungen von den Alten oder von den Autoritäten nichts mehr sagen lassen wollen. Für ihn selbst war genügend Freiheit die Voraussetzung, dass sich Menschen von innen heraus für das Gute entscheiden können. Was für ihn im Rahmen seiner Freiheitspädagogik aber unverzichtbar war, war das Aufzeigen von großen Idealen, für die sich der Mensch begeistern kann. Fehlen diese Ideale, dann kann „Freiheit“ tatsächlich in die Verwahr­losung führen.

Raum für Subjektivität und Originalität

Selbstverwirklichung ist für viele ein ganz wertvoller Vorgang geworden. Natürlich steckt darin auch die Gefahr, den eigenen Egoismus zu kultivieren und all das, was an Geboten oder Verboten von der Kirche, dem Staat oder anderen Gruppierungen vorgeschrieben wird, als unberechtigte Einmischung in die Privatsphäre abzuleh­nen. Dann wird aus der Selbstverwirkli­chung eine Selbstverabsolutierung. Pater Kentenich griff die Sehnsucht nach Subjek­tivität und Originalität auf, riet jedem, sein „Persönliches Ideal“ zu suchen, aber brachte das in Verbindung mit dem Glau­ben an Gott den Schöpfer, der jeden Men­schen als Original geschaffen hat. Wer sein „Persönliches Ideal“ gefunden hat und daraus lebt, ist immun gegen Vermassungstendenzen, aber setzt sich auch nicht absolut, in Absetzung von Gott.

Drei Beispiele, die verdeutlichen, wie Pater Kentenich die Anliegen der Zeit, die Sehn­süchte einer Zeit aufgriff und sie in seine Seelsorgsanliegen zu integrieren verstand. Er glich einem Wellenreiter, einem Surfer, der die Energie der Welle zur eigenen Fortbewegung ausnutzte. Das darf nicht ver­wechselt werden mit Sich–treiben-Lassen. Wer schon einmal Wellenreiter im Fernse­hen oder „live“ gesehen hat, kann sich vorstellen, wel­che Reaktionsschnelligkeit und Körperge­wandtheit notwendig ist, um auf dem Brett das Gleichgewicht halten zu können.

Diese „Gleichgewichtsübungen“ sind not­wendig auch für die geistigen Wellen, um richtig mit ihnen umzugehen, ihre Energie auszunutzen, ohne sich von ihnen willen­los treiben zu lassen.

Das seelische Gleich­gewicht wuchs aus der prophetischen Un­terscheidung der Geister. Aus dieser Kunst erklärt sich auch die Vitalität der Schönstatt-Bewegung. Aus dieser Kunst, mit den modernen Strömungen umzugehen, er­wachsen auch manche Missverständnisse in der Beurteilung Schönstatts.

Den „Kon­servativen“ ist Schönstatt zu modern, weil es so zeitoffen ist und die gleichen Anlie­gen vertritt, wie sie im Lebensgefühl vieler herumgeistern.

Den „Progressiven“ ist Schönstatt zu veraltet, weil die Schönstätter am Ende doch wieder dort landen, wo­von man sich ablösen zu müssen meinte, nämlich bei Maria und dem Dreifaltigen Gott.

Wenn wir vom Gründer diesen positiven Blick, diese Wachsamkeit gegenüber allem Neuen und die notwendige Unterschei­dungsfähigkeit uns erbitten und sie erler­nen, dann können wir um uns ein Klima der Hoffnung verbreiten, das vielen gut tut.

Gründerwort
„Das ist vielfach die Tragik unserer katholi­schen Pastoration, unserer katholischen Aszese und Pädagogik, dass wir vielfach jeweils Men­schen zu erfassen suchen, die schon nicht mehr existieren.
Die haben einmal existiert.
Daher kommt es denn wohl auch, dass die konservative Einstellung, die dem Katholizismus im Blute liegt, mit der Zeit etwas Versteinertes und Verkalktes annimmt.“
(2. Vortrag der Jugendpädagogischen Tagung, Mai 1931. In: Ethos und Ideal in der Erziehung. Wege zur Persönlichkeitsbildung. Vorträge der Jugendpädagogischen Tagung. Seite 5)

*Im Originaltext: ’neue Weltordnung‘. Das war 1941, mitten im 2. Weltkrieg, ein übliches Wort. Erst in den 90er Jahren wurde es zum Schlüsselbegriff in verschiedenen Verschwörungsmythen, die häufig auch eine antisemitische Färbung hatten.

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1 Responses

  1. Martin Schiffl sagt:

    Lieber Pater Busse,
    herzliches Vergelt’s Gott für diese Serie. Wir freuen uns schon auf die Fortsetzung.
    Liebe Grüße
    H&M Schiffl

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