Veröffentlicht am 2015-06-25 In Franziskus - Botschaft

Wissen wir aber, was eine seelische Verwundung ist?

FRANZISKUS IN ROM •

Papst Franziskus widmet seit dem Ende der Bischofssynode im Oktober 2014 seine Katechesen bei den Generalaudienzen dem Thema Familie – in einem ersten Zyklus den verschiedenen Mitgliedern der Familie (Väter, Mütter, Kinder, Großeltern…), der zweite Zyklus steht unter dem Thema: Familie und reales Leben.

Am letzten Mittwoch im Juni ging es um die Wunden, die im Zusammenleben der Familie entstehen.

„Franziskus, wir lieben dich“ – das ist der Ruf, den man auf dem wie immer übervollen Petersplatz an diesem Mittwoch nach der Turinreise von Papst Franziskus am meisten hörte. Papst Franziskus sprach vor allem  über die Wunden, die bei den Kindern entstehen bei Auseinandersetzungen und Trennung der Eltern. „Die Seele der Kinder leidet bis zur Verzweiflung“, so der Papst.

Einen Tag nach der Vorstellung des „Instrumentum Laboris“, der Roadmap für die Gespräche von gut 300 Bischöfen bei der Ordentlichen Vollversammlung im kommenden Oktober, nahm Papst Franziskus persönlich zu einigen der brennenden Themen Stellung. Es ging um die Wunden, die in der Familie gerissen werden, er machte deutlich, dass „Familie“ nicht immer „heile Welt“ ist, Trennung manchmal unumgänglich ist – und ging auch ein auf die schmerzvolle Frage nach den wiederverheirateten Geschiedenen.

Familie und reales Leben: Wunden

Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!

Im Rahmen der letzten Katechesen haben wir unsere Betrachtungen dem Thema der Familie gewidmet, die die Schwachheit des menschlichen Daseins, Armut und den Tod erlebt. Heute wollen wir hingegen über die sich gerade innerhalb des familiären Zusammenlebens auftuenden Wunden nachdenken, d.h. über Situationen, in denen sich die Familie selbst weh tut. Das sind die Schlimmsten!

Wir wissen sehr gut, dass in jeder Familiengeschichte Momente vorkommen, in denen die intimsten Gefühle zwischen den einander nahestehenden Menschen durch das Verhalten ihrer Mitglieder gekränkt werden. Durch Worte und Taten (sowie Unterlassungen!), wird Liebe nicht entgegengebracht, sondern entzogen oder gedemütigt. Wenn diese noch zu behebenden Verletzungen nicht behandelt werden, verschlimmern sie sich: Sie verwandeln sich in Gewalt, Feindseligkeit und Verachtung. Ab diesem Punkt werden sie zu tiefen Wunden, die zu Spaltungen zwischen Ehemann und Ehefrau führen und dazu veranlassen, anderswo nach Verständnis, Unterstützung und Trost zu suchen. Oft liegt diesen „Stützen“ das Wohl der Familie jedoch nicht am Herzen!

Die Entleerung der ehelichen Liebe verbreitet Ressentiments innerhalb der Beziehungen. Und oft „stürzt“ dieser Zerfall lawinenartig auf die Kinder herab.

Damit sind wir bei den Kindern. Ich möchte nun ein wenig bei diesem Punkt verweilen. Trotz unserer offenbar hoch entwickelten Sensibilität und ausgefeilter psychologischer Analysen drängt sich mir die Frage auf, ob wir nicht gerade angesichts des seelischen Leidens der Kinder unser Einfühlvermögen verloren haben. Je mehr man versucht, durch Geschenke und Naschereien einen Ausgleich zu schaffen, desto mehr verlieren wir den Sinn für die – schmerzhaftesten und tiefsten – Wunden der Seele. Wir sprechen viel über Verhaltensstörungen, psychische Gesundheit, das Wohl des Kindes, die Angst der Eltern und der Kinder… Aber wissen wir noch, worum es sich bei einer seelischen Wunde handelt? Spüren wir die Last, die schwer wie ein Berg auf der Seele eines Kindes drückt, wenn man sich in der Familie einander schlecht behandelt und verletzt, bis das Band der ehelichen Treue zerreißt? Welches Gewicht hat bei unseren – falschen – Entscheidungen beispielsweise die Seele des Kindes? Wenn Erwachsene in Panik geraten, wenn jeder nur an sich selbst denkt, wenn Vater und Mutter einander wehtun, wird der Seele der Kinder großes Leid zugefügt und sie spüren Verzweiflung. Die Spuren dieser Verletzungen bleiben ein Leben lang bestehen.

In der Familie ist alles miteinander verbunden: Wenn ihre Seele an einer bestimmten Stelle verletzt ist, werden alle von der Infektion angesteckt. Wenn ein Mann und eine Frau sich darum bemüht haben, „ein Fleisch“ zu bilden und eine Familie gründen, und dann zwanghaft an das eigene Bedürfnis nach Freiheit und Genugtuung denken, stellt diese Verzerrung einen gravierenden Angriff auf das Herz und das Leben der Kinder dar. Oftmals weinen Kinder alleine und im Verborgenen… Wir müssen dies begreifen. Ehemann und Ehefrau sind ein Fleisch. Ihre Kreaturen sind jedoch das Fleisch ihres Fleisches. Wenn wir an jene Härte denken, mit der Jesus Erwachsene dazu ermahnt, sich nicht über die Kleinen zu empören – wir haben die entsprechende Stelle des Evangeliums vernommen (vgl. Mt 18,6) – so können wir auch seine Worte zur schwerwiegenden Verantwortung des Behütens der den Ausgangspunkt der menschlichen Familie bildenden ehelichen Bindung besser verstehen (vgl. Mt 19,6-9). Wenn ein Mann und eine Frau zu einem Fleisch geworden sind, wirken alle von Vater und Mutter begangenen Verletzungen und Vernachlässigungen auf das lebendige Fleisch der Kinder ein.

Andererseits existieren tatsächlich Fälle, in denen eine Trennung unvermeidlich ist. Zuweilen kann es sogar aus moralischer Perspektive notwendig werden, den schwächeren Ehepartner oder kleine Kinder den durch Arroganz und Gewalt, Erniedrigung und Ausbeutung, Unbeteiligtheit und Gleichgültigkeit zugefügten Verletzungen zu entreißen.

Gott sei Dank fehlt es nicht an Menschen, die durch den Glauben und die Liebe zu den Kindern gestützt ihre Treue zu einer Bindung bezeugen, an die sie geglaubt haben, die sie jedoch nicht mehr lebendig machen können. Allerdings spüren nicht alle Getrennten diese Berufung. Nicht alle vernehmen in der Einsamkeit den vom Herrn an sie gerichteten Aufruf. Rund um uns befinden sich verschiedene Familien in so genannten irregulären Situationen – dieser Ausdruck gefällt mir nicht – und wir stellen uns viele Fragen. Wie können wir ihnen helfen? Wie können wir sie begleiten? Wie können wir sie dahingehend begleiten, dass die Kinder nicht zu Geiseln des Vaters oder der Mutter werden?

Bitten wir den Herrn um einen großen Glauben, um die Realität mit dem Blick Gottes zu betrachten, und um große Barmherzigkeit, um uns den Menschen mit seinem mitleidsvollen Herzen zu nähern.

(Übersetzung der Katechese nach Zenit)

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