Schönstatt-Bewegung
31. Mai 1949 - 31. Mai 1999
50. Jubiläum des Dritten Meilensteines der Geschichte Schönstatts
Serie: der Schritt über die Schwelle



6. Sie reden von Freiheit und laufen ihm nach

von M. Kornelia Fischer

Die beiden vorhergehenden Artikel dieser Serie haben einen der zentralen Diskussionspunkte aufgegriffen, auf die Pater Kentenich in seinem Schreiben vom 31. Mai 1949 eingeht: das Reizwort "Lieblingsbeschäftigung". Was Widerstand und Ablehnung weckt, weil es nach Eigenlob oder Bevorzugung "riecht", ist in Wirklichkeit das Geheimnis der Kraft im Leben jedes Menschen und jeder Gemeinschaft.

Wer sich angenommen und geschätzt weiß und als "Lieblingskind" erlebt, besteht die Herausforderung, die heute an jeden Christen gestellt ist: sich in Freude und von innen her in der Überfülle der Lebensmöglichkeiten für eins zu entscheiden.

Und genau hier scheint sich ein Widerspruch aufzutun. Da spricht Pater Kentenich von innerer Freiheit und bezeichnet den entscheidungsfreudigen Menschen, der sich ein "selbständiges Urteil" bildet, als "Urform des Schönstattmenschen". Aber gleichzeitig scheinen alle ihm, dem Gründer, "nachzulaufen". Für den bischöflichen Visitator, der die kirchliche Prüfung Schönstatts vom 19.- 22. 2. 1949 durchführt, eine Unbegreiflichkeit und Anlaß zu einem ablehnenden Urteil. Auch heute für manche, die Schönstatt kennenlernen, eine Frage, die nicht nur ins Zentrum der Auseinandersetzung mit dem dritten Meilenstein führt, sondern die Frage menschlicher Freiheit und Bindung überhaupt anspricht.

Schönstatt und Freiheit - das sind Begriffe, die für Pater Kentenich und die Gründergeneration untrennbar zusammengehören. Sich selbst erziehen zu festen, freien Persönlichkeiten - mit diesem Programm war Pater Kentenich am 27. Oktober 1927 vor die Schüler des Studienheims getreten.

Keine Treibhauspflanzen erziehen

Diese vom Freiheitsdrang elektrisierten Jugendlichen waren die ersten Schönstätter. Was Pater Kentenich bei ihnen antraf, war Revolutionsstimmung: ungestümes Aufbegehren gegen Ordnung und einen reich gefüllten Pflichtenkatalog, überschäumende Freiheitsinitiativen der Schüler. Pater Kentenich sah tiefer: Da war durchaus Revolution und Chaos - zugleich war aber in dem wilden Freiheitsdrang der Jungen auch ein ungeheures Potential. Ein Potential, das sich aktivieren ließe für ein hohes Ziel. Für die Eroberung der wahren Freiheit, der Freiheit des Herzens.

Ein knappes Jahr später, beim Abschied der Primaner von Schönstatt, sagt Pater Kentenich diesen Jungen:

Sie sind schon lange keine Kinder mehr. Darum wurden Sie auch nicht als Bausteine behandelt, sondern als Bauleute. Und soweit Ihre Erziehung in meine Hand gelegt war, habe ich Sie stets als meine Mitarbeiter betrachtet. Darum lade ich auch einen Teil, ja den größten Teil der Verantwortung auf Ihre Schultern ab ... Das gemeinsame Ziel war stets klar vor uns: Erziehung zu freien, priesterlich-apostolischen Charakteren ... Wir wollten uns nicht zu Treibhauspflanzen erziehen, sondern zu übernatürlich gesinnten Männern fürs Leben, die auf eigenen Füßen stehen können, die den Rücken nicht krümmen, wo sie ihn gerade halten müßten ... Nur das Freigewollte ist bodenständiges Gewächs im Menschenherzen; und nur das, was starke Wurzeln hat, kann wider die Unbilden der Witterung standhalten. Alles andere schält sich los wie eine aufgeklebte Etikette. Das ist die Richtung, in der Sie weiterarbeiten müssen, wenn Sie Ihre Ideale verwirklichen wollen ...

Das ist die Richtung, in der auch Pater Kentenich weiterarbeitet: Das ist immer die Idee meines Lebens gewesen: Mensch zu sein und Menschen zu formen von innen heraus, aus dem Geist der wahren Freiheit, bekennt der Gründer.

Keine Treibhauspflanzen will er erziehen - Menschen also nicht in ein künstliches Schutzklima hineinholen, wo keine Gefahren, Entscheidungsmöglichkeiten, Versuchungen, Probleme ihre geradlinige Entfaltung stören würden. Denn was da wächst, besteht dann nicht im wirklichen Leben, da, wo es gilt, Christsein aktiv, weltgestaltend zu leben und weiterzugeben. Für Pater Kentenich gehören Christsein und wirkliches Leben zusammen, untrennbar. Keine Treibhauspflanzen, sondern

Freilandgewächse

darum keine Bewahrungspädagogik, sondern Freiheitserziehung mit allen Konsequenzen: Jeder soll fähig werden, von innen heraus sich selbst zu entscheiden. Seine Devise: Nicht Bewahrung vor Belastung, sondern: sich erziehen, die Belastung zu überwinden.

Ein Stück freiheitsmüder und entscheidungsunfähiger Massenmensch, der wie ein Rohr vom Winde der öffentlichen Meinung hin- und hergetrieben wird, steckt, so Pater Kentenichs Beobachtung, ansatzweise in jedem Menschen, ebenso die größte Gefahr für wahre Freiheit: die Angst vor dem Urteil der anderen, dieser Blick über die Schulter - Was denken die von mir, wenn ich ...

Innere Stärke und Freiheit sind für Pater Kentenich Grundbedingung für die Formung von Menschen, die aus inneren klaren Grundhaltungen heraus - unabhängig von der sie umgebenden Atmosphäre - ein zeitgemäßes Christsein leben. Ein Christsein, in dem aus der Grundkraft der Liebe Gottes Wünsche freudige Entscheidung finden - jeden Tag neu.

Innere Freiheit und Stärke der einzelnen sind auch Grundbedingung für das Werden einer tragfähigen Gemeinschaft, in der wachsende Einheit eine wachsende Eigenständigkeit nicht ausschließt, ja diese sogar fördert. In einem großen Griff beschreibt Pater Kentenich die Geschichte seines Wirkens: Im In- und Ausland ging es darum, das Banner der Freiheit durch Wort und Tat und wagemutige Unternehmungen frisch-fröhlich zu hissen.

Ein scheinbarer Widerspruch

Wie vielen anderen Besuchern fällt auch dem Weihbischof bei seiner Visitation auf, daß diese Freiheitserziehung offensichtlich wirksam ist. Er nennt in seinem Bericht eine Reihe von Eigenschaften, die er an den Menschen hier beobachtet hat, lobt ihre zuchtvolle, beherrschte, sympathische Haltung, die ganz und gar nicht uniformiert, eintönig und langweilig wirkt. Das Ideal der inneren Freiheit, das in Schönstatt so groß geschrieben wird, findet seine ungeteilte Zustimmung.

Und gerade darum irritiert ihn eine Beobachtung, die er immer wieder auch macht - eine Beobachtung, die ihn ein "vernichtendes Urteil" fällen lässt: Es gebe da nur wenige Persönlichkeiten mit wirklich selbständigem Denken und wahrer innerer Freiheit, statt dessen Unfreiheit, Unselbständigkeit und Unsicherheit. Das gesteckte Erziehungsziel, die freie Persönlichkeit, sei nicht erreicht.

Die irritierende Beobachtung hat mit Pater Kentenich zu tun. Der Visitator fragt sich: Laufen nicht viele blind nur ihm nach? Denken nicht viele unkritisch ihm nach? Kann das denn Freiheit sein und Selbständigkeit, wenn es immer wieder um ihn geht, wenn man sich an ihm orientiert, ja, ihn geradezu verehrt, wenn offensichtlich doch er alles in der Hand und einen offensichtlich immensen Einfluß auf die einzelnen und die Gemeinschaft hat, wenn seine Worte und Entscheidungen für viele Norm des Handelns sind? Riecht das nicht gerade nach dem, was Pater Kentenich in seiner Lehre immer wieder als "Massenmenschentum" brandmarkt - einen anderen für sich entscheiden lassen, einen anderen für sich denken lassen?

Der Visitator hat recht mit seiner Beobachtung - Pater Kentenich nimmt eine hervorragende, außergewöhnliche Stellung ein in Schönstatt. Man glaubt ihm. Folgt ihm. Verbindet sich mit ihm.

Warum diese Spitzenstellung?

Pater Kentenich geht souverän mit dieser Tatsache um. Er weiß, daß echte personale Bindung zur echten Freiheit führt. Es gibt keine Freiheit ohne innere Bindung. Wer in Liebe gebunden ist, wird erst wirklich frei. Eine Front muß sicher sein, damit man an allen anderen kämpfen kann.

Natürlich - der Kern der Auseinandersetzung ist nicht, irgend jemanden zu haben, an den man glaubt, den man liebt, dem man folgt, für den man sich einsetzt. Wer ehrlich ist, weiß: Jeder hat seinen "Star" - sei es nun Mutter Teresa, Lady Diana, Michael Schumacher, Johannes Paul II., Mark Kevin Goellner, Franziskus von Assissi oder Tony Blair. Jeder braucht und hat, bewußt oder unbewußt, einen Leitstern, folgt diesem unter Umständen wie einem "moralischen Kompaß". Die Kernfrage ist: Nach welchen Kriterien entscheide ich mich für meinen "Stern"? Erfolg? Publicity? Beliebtheit? Eine Erfahrung, die Glaubwürdigkeit, Sicherheit, Kompetenz vermittelt hat? Das Entscheidungskriterium bestimmt, wohin - und wie weit - dieser "Stern" mich führt.

Man könnte in den ersten Jahren Schönstatts davon sprechen, daß Pater Kentenich für seine Familie

ein Leitstern

war, dem man folgte, weil man sich frei dazu entschieden hatte - aufgrund von Erfahrungen. Dann kommt der 20. Januar und die freiwillige Entscheidung des Gründers, für die Familie und deren innere Freiheit ins Konzentrationslager zu gehen. Warum tut er das? Er bietet sich und sein Leben als Lösepreis an, macht sich total abhängig vom Einsatz der Familie im Liebesbündnis. Aus dem Führen und Folgen wird die Bereitschaft, füreinander alles einzusetzen - selbst das Leben. Die Freiheitsentscheidung vom 20. Januar wird von der Schönstattfamilie mitvollzogen im persönlichen Streben nach der Hochform des Liebesbündnis und im Einsatz, Schönstatt weiterzubauen. Pater Kentenichs menschlich eigentlich undenkbare Heimkehr aus Dachau am 20. Mai 1945 ist im Verständnis der ganzen Schönstattfamilie und in seiner eigenen Deutung nicht nur das ersehnte Siegel Gottes auf Schönstatt, sondern auch eine Bestätigung seiner persönlichen Sendung für die Familie - und darüber hinaus.

Aber da ist

noch mehr

Da ist etwas, das Menschen zu ihm hinzieht - nicht nur die Schönstätter. Gefängnisaufseher, Kommunisten und SS-Beamte in Dachau, Menschen in Südafrika und Südamerika, die keines seiner Worte verstehen, Taxifahrer und Postboten und Kinder ... Das geschieht nicht nur (wohl auch), weil er jeden als einmalige Persönlichkeit mit unantastbarer Würde schätzt und wertet, das richtige Wort findet, zuhört und versteht. Sondern weil man in seiner Nähe etwas spürt von dem Gottesgeheimnis in ihm.

Das spüren auch die, die sich ihm im Laufe der Zeit in Schönstatt angeschlossen hatten. Hier ist einer, der von Gott in besonderer Weise in Dienst genommen ist.

Eine solche Stellung haben viele Gründer religiöser Bewegungen. Bei Pater Kentenich kommt noch etwas hinzu. Schönstatt ist ein Lebensgebilde. Die entscheidenden Lebensvorgänge in der Entfaltung Schönstatts sind mit Pater Kentenich verbunden, sozusagen durch seine Person gegangen. Neben der Gottesmutter und dem Heiligtum ist Pater Kentenich eine "Kontaktstelle" im Liebesbündnis, das er stellvertretend für jeden geschlossen hat, der sich einmal hineinbegeben wird in diesen fortgesetzten Ur-Vorgang Schönstatts. Er ist nicht einfach Gründer. Er ist im ureigentlichen Sinn Vater. Seine charismatische Vaterschaft wird - für alle Zeit - in jedem Bündnisschluß neu wirksam.

Die Entscheidung, Pater Kentenich zu folgen, sich an ihn zu binden auf dem Weg des religiösen Lebens, des Schönstattlebens, ist für jeden und immer eine Entscheidung in Freiheit - eine Entscheidung, die nach Dachau auf göttliche Beglaubigung in besonderer Weise zurückgreifen kann. Und eine Entscheidung, die in die Freiheit führt. Eine Front muß sicher sein - ein fester, innerer Halt muß gegeben sein, um den Weg radikaler, freudiger Entscheidungen, das heißt den Weg innerer Freiheit, gehen zu können. Darum konnte (und kann) Pater Kentenich gerade die, die sich an ihn gebunden haben, so kompromißlos zu Selbständigkeit und innerer Freiheit führen. Freilandgewächse, keine Treibhauspflanzen. Das Freilandgewächs besteht, wenn es tiefe Wurzeln hat.

"Ich denke nicht für Sie!"

Eine Frau aus der Schönstattbewegung erzählte Pater Kentenich während des zweiten Weltkriegs einmal von einem Brief, den ihr Bruder - derzeit beim Militär - ihr geschrieben hatte: "So gut habe ich es noch nie gehabt. Ich brauche bloß ja zu sagen, das Denken tun andere für mich." Spontane Reaktion seinerseits:

Ich denke nicht für Sie, Sie sollen selber denken!

Wie geht das, andere zur Freiheit führen? Indem man, wo immer es möglich sei, ein Klima der Freiheit schaffe, erklärt Pater Kentenich. Das ist ein Klima, in dem man ständig zu persönlichen, inneren Entscheidungen herausgefordert wird. Denn entscheiden kann und muß man üben. Er schafft darum Raum für freie Selbstbetätigung - und baut bewußt und immer wieder Entscheidungssituationen ein: für die Gemeinschaft, für den einzelnen. Er gibt Anregungen, keine Anweisungen. Er läßt Alternativen und Wahlmöglichkeiten oder schafft sie, wo noch keine bestehen, fordert zu Stellungnahmen heraus, harmonisiert nicht, sondern arbeitet bewußt mit Spannungen, mit Gegensätzen - und nimmt lieber die Konsequenzen einer falschen Entscheidung in Kauf, als jemandem eine Entscheidung abzunehmen. Das ist ein Stil, den er in Schönstatt von Anfang an praktiziert hat - nicht etwa erst nach den Erfahrungen des Dritten Reiches und des Konzentrationslagers, wo das Thema "Freiheit" brennend aktuell wurde.

Er spricht vom Gnadenkapital: wieviele Entscheidungsmöglichkeiten sind damit tagtäglich verbunden. Freude, Sorgen, Enttäuschungen, Überwindungen, Stärken, Mißerfolge, Schwächen ... Immer wieder eine neue Entscheidung: Das wird ein Beitrag, das wird der Gottesmutter im Heiligtum angeboten. Es böte sich an, alle schönstättischen Erziehungsmittel zu betrachten im Blick darauf, wie sie beitragen, sich im Entscheiden zu üben: beispielsweise - welche Punkte kommen auf meine Geistliche Tagesordnung, welche behalte ich bei, welche ändere ich möglicherweise Monat für Monat, wie trägt der oder jener Punkt dazu bei, im Tagesablauf persönliche Entscheidungen zu treffen ...

Jede einzelne Entscheidung stärkt für die nächste, ist Pater Kentenichs Erfahrung. Darum ermutigt er, sich in kleinen Schritten im Entscheiden zu üben; einen ersten Schritt zu tun auf dem Weg, anstatt endlos zu grübeln, ob man das Ziel des Weges wohl erreichen wird. Er leitet dazu an, zu den Konsequenzen einer Entscheidung zu stehen, ja - lieber auch die Konsequenzen einer falschen Entscheidung zu tragen als keine Entscheidung zu treffen. Wenn man zu lange bevormundet wird, sagt Pater Kentenich, wenn einem die "freie" Entscheidung so leicht gemacht wird, weil man sie sich mehr oder weniger abnehmen läßt, setzt man sich nicht durch.

Klima der Freiheit

bedeutet, eine innere Stärke zu finden und sich weder durch Drohen noch durch Schmeicheln "bestechen" zu lassen. Klima der Freiheit heißt, in Gemeinschaft - in der Gruppe, im Team, in der Familie, im Seminar, im Pfarrgemeinderat ... - die unter Umständen gegensätzlichen freien Entscheidungen der anderen zu achten, ja, zu solchen zu ermutigen, und es nicht als Störung der Harmonie zu betrachten, wenn jemand etwas, was alle anderen begeistert, nicht mitmachen möchte.

Pater Kentenich verbreitete dieses Klima der Freiheit, und er verteidigte es leidenschaftlich. Jede freudige Entscheidung - in Überwindung der Angst vor den anderen und der eigenen Entscheidungsschwäche - ist ein Schritt, im persönlichen Lebensraum ein Grundanliegen des 31. Mai zu verwirklichen.




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Letzte Aktualisierung: 07.06.99, 21:33
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