Schönstatt-Bewegung
31. Mai 1949 - 31. Mai 1999
50. Jubiläum des Dritten Meilensteines der Geschichte Schönstatts
Serie: der Schritt über die Schwelle



2. Gipfel der Kühnheit

von M. Kornelia Fischer

Sie haben das Bild noch lange vor Augen. Die beiden Partner, die seit Jahr und Tag zusammengehören, stehen sich in diesem Augenblick an heiliger Stätte erneut gegenüber ... Sie haben ihn diese Worte sagen hören, mit ungewöhnlichem Ernst, an diesem Abend der Entscheidung im unfertigen Heiligtum, auf dessen Altar er das Schreiben an die Vertreter der Kirche gelegt hatte.

Heiligtum Bellavista,1949, Innenansicht
Im Schönstatt Heiligtum von Bellavista

Die beiden Partner im Liebesbündnis, die seit Jahr und Tag zusammengehören - seit jenem 18. Oktober 1914. Einer der beiden Partner, der Partner, der hier vor ihnen steht und sie, wie damals die Handvoll jugendlicher unreifer Mitarbeiter, mit hineinnimmt in das Wagnis des Bündnisses, hat schmutzige Schuhe, fürchterlich schmutzige Schuhe. Der Weg, den er zurückgelegt hat, der erneute Weg in dieses Heiligtum, hat Spuren hinterlassen. Wir gehen unseren Weg, auch wenn es Fäden regnen würde, ja wenn eine ganze Sintflut über uns hereinbräche! Wir lassen uns nicht irremachen ..., hatte er am Tag der Einweihung des Heiligtums gesagt. Die schmutzigen Schuhe nimmt er in Kauf. Der Weg, den Maria diejenigen führt, die sie in besonderer Weise gebrauchen will, ist keine bequeme Prachtstraße, kein sonnenbeschienener Wanderpfad.

Der Weg zum Heiligtum in Bellavista, dieser Weg durch Schlamm und Schmutz, hat Tausende Kilometer entfernt begonnen - und er war von Anfang an ein Weg, auf dem sich schmutzige Schuhe einhandelt, wer ihn geht. Schmutzige Schuhe - Zeichen für den Aufstieg zum "Gipfel der Kühnheit", für einen Weg, der Dunkelheit und Kampf einschließt, Verleumdung, Widerstand, Verkennung, Verbannung.

Ein Wagnis war es immer und allezeit, sagt er. Es ist schwer zu entscheiden, in welcher Situation es den Gipfel der Kühnheit erstiegen hat. So war es 1914 bei Feststellung göttlicher Planung des Liebesbündnisses und bei seiner Konstituierung; so war es 1916 bei Übernahme von Pallottis Zielgestalt in engster und lebendigster Verbindung mit dem Bündnis; so 1919 bei Verzicht auf einen gesicherten und angesehenen Posten und gleichzeitiger Inangriffnahme eines Werkes, das - rein menschlich gesprochen - als lächerliche Wahnidee hätte charakterisiert werden müssen, zumal wenn man die Handvoll jugendlicher unreifer Mitarbeiter und meinen sterbenskranken Körper sowie das geringe Ansehen in Betracht zieht, in dem damals die Gesellschaft stand, der ich angehörte.

Manche besteigen hohe Gipfel aus reiner Freude, einige aus Abenteuerlust, manchmal mit Leichtsinn gepaart. Andere riskieren es, auf hohen Bergesgipfeln einherzuwandern, auf engen, gefährlichen Stegen sich zu bewegen, während rechts und links gähnende Tiefe, dunkle Abgründe locken und drohen, weil sie sich zur Rettungsaktion aufgerufen wissen, weil sie da draußen Menschen aus lebensgefährlichen Abgründen und von in die Irre leitenden Seitenwegen weg und sicher zum Gipfel führen müssen. Wenn da draußen jemand

Gleichgewichtsstörungen

bekommt und in Gefahr ist, abzustürzen, achtet man nicht mehr darauf, ob man schmutzige Schuhe bekommt, wenn man losgeht, ihn zu halten.

Gleichgewichtsstörungen in unerhörtem Maß, das ist die kurze Charakteristik der heutigen Zeit- und Seelenlage.

Wir können die heutige Menschheit mit einem Betrunkenen vergleichen, der, vor einem Abgrund stehend, sich nicht mehr halten kann und gleichsam in das Nichts hinunterstürzt ... Mit dieser Gleichgewichtsstörung ist gleichzeitig verbunden eine ins Endlose wachsende Haltlosigkeit, Wurzellosigkeit, Heimatlosigkeit und Nestentbundenheit. So wankt die heutige Menschheit einher, überstürzt sich, überschlägt sich, torkelt umher. - Gewiß, das Bild will als Typisierung aufgefaßt werden, das heißt: dahin geht die Entwicklung, das ist die Richtung ... Wir können das Bild nicht schwarz genug malen lassen, damit wir auf der einen Seite bescheiden bleiben, auf der anderen Seite wieder mutig werden, uns mit Gott neu zu verbinden und einen Weg zu suchen und zu finden, um auch diesen Menschen wieder zu Gott zu führen. Unsere außerordentlich krank gewordene Natur, die in ihren Fähigkeiten verarmt ist bis zum äußersten, will auch - und das glauben und hoffen wir, und das ist auch unsere große Freude und Sehnsucht - zu Gott kommen, will heilig ... werden.

Pater Kentenich ist sich schon sehr früh bewußt geworden: Diese Zeit ist anders als die frühere. Die Menschen dieser Zeit sind anders. Die Kirche lebt ja nicht im luftleeren Raum, sie wird von lebendigen Menschen getragen und trägt sie. Und diese werden von der Zeit mitgeformt und haben die Sendung, sie mitzuformen. Die kommende Zeit hat ein anderes Gesicht als die alte ... Ein Christentum, das diese Veränderung nicht früh genug wahrnimmt, ist in Gefahr, fremd zu werden in dieser Zeit, Antworten zu geben auf Fragen, die keiner mehr stellt. Pater Kentenich verfällt nicht in düsteren Pessimismus, sondern weiß und erfährt sich von Gott in Dienst genommen, einen Weg zu suchen und zu finden, um auch diesen Menschen wieder zu Gott zu führen.

Diesen Weg hatte er am 18. Oktober 1914 entdeckt: Maria, das Zuhause Gottes, die dem Menschen, der sich nicht mehr halten kann, diesem Menschen, der - ohnmächtig und aggressiv zugleich - seine Welt und seinen Gott nicht mehr zusammenbringt, von innen her Halt gibt und ihn mit unendlicher Geduld zu sich selbst und zu Gott heimführt. Die persönliche - nicht nur rein geistige - Liebe zu Maria, erkennt Pater Kentenich, kann den innerlich haltlos gewordenen Menschen bis in die Tiefe seiner Natur erfassen, überschäumende Kraft und kindliches Vertrauen, will sagen Natur und Übernatur in Einklang ... bringen, so daß beider Eigenart gewahrt bleibt.

In der Bindung an Maria erschließt sich, wie er 1917 weiter an einen Bonner Professor schreibt, der aufgrund seiner ein Jahr zuvor gegründeten Zeitschrift MTA auf Schönstatt aufmerksam geworden war, ein ganzes ... System von neuen Kräften und Mitteln ..., deren Wirksamkeit das Schriftchen beweist ...

Dieser Weg, den Pater Kentenich gesucht und für viele gefunden hatte, führte ihn vom kleinen ehemaligen Michaelskapellchen in Schönstatt ins unfertige Heiligtum am Fuß der Anden, in das Wagnis des 31. Mai.

In vielen, vielen Dingen ist das

ur-neu
was wir lehren, was wir tun, wie wir uns gegenseitig erziehen ... Er weiß es. Wo viele noch nicht bemerkt haben, daß Zeit und Menschen anders geworden sind, ist einer fremd und be-fremdend, der neue Konturen in das Jetzt hineinzeichnet. Pater Kentenich erfährt es in der staunenden und dabei doch immer wieder leise zweifelnden Aufmerksamkeit, die ihm und seinen neuen Wegen entgegenkommt.

Die Vorgeschichte des 31. Mai 1949 umfaßt - bei Licht betrachtet - letzten Endes die gesamte Ideengeschichte der Familie von Anfang an. Sie ist füglich sehr umfang- und spannungsreich.

Von Anfang an

Jener Bonner Professor, der 1917 einige Ausgaben der MTA mit den Erfahrungen der Sodalen im Krieg liest und zum Gegenstand eines wissenschaftlichen Vortrags über den seelsorglichen Wert der Marienverehrung macht, ist begeistert von dem Leben, das da aufgebrochen ist. Und doch - er wittert einen 'Anflug von vermessenem und übermütigem Tugendstolz' in den Äußerungen der Schönstätter Sodalen und eine zu 'stolze Siegeszuversicht vor der Tat', Er findet es erstaunlich - und befremdlich -, daß profanste und alltäglichste Nachrichten mit religiösen Ideen verbunden sind. Und die zahlreichen Äußerungen 'rein natürlicher Freude' an der Eigentätigkeit im Dienst Mariens? Pater Kentenich beginnt einen Briefwechsel, in dem er weit ausholt und darlegt, daß er seine eigene Aufgabe nie darin habe sehen können, die Natur zu vergewaltigen und der Gnade Vorschriften zu machen, sondern mit peinlicher Beachtung der jeweiligen Individualität der Gnade nachzugehen ... Geschehe dies nicht, könne man höchstens von verkrüppelten Individualitäten, von geschmack- und kraftlosen, unnatürlichen Kopien, nicht aber von Persönlichkeit, von einem gottgewollten Original reden.

Es geht Pater Kentenich nicht bloß um Schönstatt, es geht um das vielleicht noch darüber hinaus, das er am 18. Oktober 1914 in die Herzen seiner ersten Mitarbeiter hineingesprochen hat - um auch diesen Menschen wieder zu Gott zu führen.

Zwei Jahre später fragt ein Professor aus Breslau an. Er ist angetan von der tiefen Marienliebe, die auch ihm aus einigen Nummern der MTA entgegenkommt. Doch da ist - bei allem Wohlwollen - auch eine gewisse Skepsis bezüglich der Selbsterziehung in Schönstatt; die Sorge, da mache man sich selbst zu sehr zum Mittelpunkt der religiösen Betrachtung, anstatt sich Gott und der Gottesmutter gegenüber ganz selbst zu vergessen ... Und dann - wie konnten diese jungen Menschen, die da von ihren inneren Kämpfen und Siegen erzählen, sich ihrem Pater Spiritual so rückhaltlos offen anvertrauen? Und wie konnte dieser ihre Briefe auch noch veröffentlichen?

Wieder bemüht sich Pater Kentenich, in Diskussion zu treten, zu klären ... Er tut es vorsichtig, aber bestimmt. Marienliebe und Selbsterziehung stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern gehören zusammen. Und Pastoral muß bei außergewöhnlichen Umständen zu außergewöhnlichen Mitteln greifen, um den Menschen, deren Seelen bis in die tiefsten Tiefen aufgewühlt waren, in unbeschreiblicher Vereinsamung sich todunglücklich fühlten, zu zeigen: Du stehst nicht allein ... Diese Erkenntnis gab Beruhigung und milderte das Gefühl der Vereinsamung, sie weckte Mut und Kraft zum Weiterkämpfen, auch da, wo die Waffen schon abgestumpft waren ...

Pater Kentenich beschreibt nicht nur die Sodalen an der Front. Er beschreibt den Menschen, der seinen inneren Halt verloren hat, den Menschen dieser Zeit. Und er beschreibt verdeckt die Wirkung der Gottesmutter vom Heiligtum, die drei Wallfahrtsgnaden.

Er bietet an, weiteres Material zu schicken.
Doch das Interesse beider Professoren war nach kurzer Zeit erloschen.

Aus ernster Verantwortung

1934, zwanzig Jahre nach seiner Gründung, hat Schönstatt einen Durchbruch in die breiteste kirchliche Öffentlichkeit geschafft. An 35 Priesterexerzitien und -tagungen, die Pater Kentenich außerhalb Schönstatts hielt, nahmen 2631 Geistliche teil. 12 038 Laien besuchten Tagungen und Exerzitien in- und außerhalb Schönstatts - eine einzige pädagogische Tagung in Schönstatt zählte allein über 300 Teilnehmer. Doch auch kritische Stimmen werden laut. Als Schönstätter Sonderideen bezeichnen kirchliche Persönlichkeiten eigentümliche Wortschöpfungen wie Gnadenkapital oder Harmonie von Natur und Gnade und Gedanken vom Ernstmachen im Denken und Leben mit dem Glaubensgeist. Von einer gefährlichen Nähe zur Häresie wird gesprochen; der Bischof von Limburg erwägt 1935 sogar eine Anklage beim Heiligen Offizium in Rom. So vieles in Schönstatt erscheint provozierend und fremd: ein ungewöhnliches Sendungsbewußtsein und immer wieder und vor allem: dieser Glaube an die besondere Wirksamkeit der Gottesmutter von ihrem Heiligtum in Schönstatt aus ... Im theologischen Horizont der dreißiger Jahre muß beinahe zwangsläufig als häresieverdächtige theologische Sonderidee erscheinen, was urkatholische Wahrheiten psychologisch und pädagogisch wirksam werden läßt. Das allerdings ist neu, und es ist nicht Nebensache.

Wäre es nicht klug, gerade auch angesichts der nationalsozialistischen Gefahr, sich nun still zu verhalten und das, was Anstoß erregt, umzuformulieren? Pater Kentenich sieht in der aufkommenden Kritik eine Chance. Beginnt nun endlich die Auseinandersetzung verantwortlicher kirchlicher Stellen mit Schönstatt?

Es geht ihm nicht darum, von Öffentlichkeit oder Kirche geduldet zu werden. Es geht ihm auch nicht nur um die Anerkennung seiner Bewegung. Er weiß - wenn Gott und die Gottesmutter Schönstatt in dieser Zeit als Werkzeug erwählt haben, auch den heutigen Menschen zu Gott zu führen, dann muß Schönstatt etwas bewirken in dieser Kirche und in dieser Welt, dann muß es diese Kirche prägen, muß sich bemühen, als Glied der Kirche in ständiger Abhängigkeit von ihr zu sein, von ihr Richtung, Maß und Kraft zu erhalten und gleichzeitig in sie hineinzuströmen, um sie zu durchdringen. Daß ein solcher Prozeß spannungsreich verläuft, ist selbstverständlich.

Er schreibt Briefe an verschiedene Adressaten in der kirchlichen Hierarchie; klärt Mißverständnisse, legt dogmatische und historische Begründungen dar, verweist auf Erfahrungen aus den Jahrhunderten der kirchlichen Praxis - und rückt nicht um einen Millimeter ab von dem, was am meisten angegriffen wird: von der Bindung an die Gottesmutter und der Überzeugung von ihrer Wirksamkeit im Heiligtum. Wir haben uns allezeit bemüht, die ganze Wahrheit zu sagen; haben unsere Ehre, unseren guten Namen dafür zum Pfand gesetzt; haben eine Sendung darin erblickt, von der Wahrheit überall Zeugnis abzulegen. Wir taten es freimütig, taten es aus ernster Verantwortung für die Sendung der Gottesmutter im Reiche Gottes hier auf Erden. Wir taten es klar, taten es zu allen Zeiten ... Pater Kentenich weiß - es geht nicht um Ausdrücke. Das Problem liegt viel tiefer. Ihm geht es darum, die Sendung der Gottesmutter in der heutigen Zeit, in der heutigen Kirche immer mehr in den Vordergrund zu rücken und die ganze Lebenskraft dafür herzugeben. Aber - da ist etwas wie eine Mauer. Und wird diese Mauer nicht überwunden, kann die Gottesmutter ihre Aufgabe in der heutigen Zeit nicht wirksam lösen. Ihre Aufgabe, auch den heutigen Menschen wieder zu Gott zu führen.

Eine Anklage in Rom erfolgt nicht. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Ideen Schönstatts auch nicht. Die wachsende Kirchenverfolgung des Dritten Reiches nimmt alle Aufmerksamkeit in Anspruch. Und nimmt Schönstatt und seinen Gründer ins Visier ...

Pater Kentenich geht den Weg weiter - den Weg, auf dem man sich schmutzige Schuhe einhandelt. Ihn trägt der Glaube, daß vom Heiligtum aus eine neue Welt am Werden ist, eine Welt voll Licht und Sonnenschein, eine Welt, in der Christus, der König der Welt, und die Gottesmutter, die große Königin, in einzigartiger Weise den Sieg davontragen. Und wir, die wir in der Dunkelheit wandeln, dürfen uns als Wegbereiter auffassen zu dieser glorreichen neuen Zukunft, wenn auch unser Weg durch Dunkelheit und Finsternis führt, wenn wir dabei auch eines blutigen Todes sterben müßten ...




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Letzte Aktualisierung: 07.06.99, 21:33
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