Schönstatt-Bewegung
31. Mai 1949 - 31. Mai 1999
50. Jubiläum des Dritten Meilensteines der Geschichte Schönstatts
Serie: der Schritt über die Schwelle



1. Annäherung an den 31. Mai 1949

von M. Nurit Stosiek

Einige Stunden schon ist er hier, ohne sich zu setzen oder zu legen. Die ganze Nacht verbringt er so, Auge in Auge mit ihr.

Dieser Mann in seinem langen, sackähnlichen Überwurf ist derselbe, der noch einige Monate vorher das Leben in vollen Zügen genoß. Dann war er im Kampf schwer verletzt worden. Zwei Operationen waren nötig gewesen, um das zertrümmerte Bein zu retten. Eine dritte Operation folgte. Sie wäre nicht nötig gewesen. Doch er fand es einfach häßlich, wie nach den schweren Verletzungen die Knochen zusammengewachsen waren. Er hätte hinken müssen. Lieber hat er einen sehr schmerzlichen Eingriff auf sich genommen als diesen Schönheitsfehler. Er wollte wieder leben wie vorher, am Leben der "oberen Tausend" uneingeschränkt teilnehmen. Dafür nahm er die Schmerzen hin.

Und nun verweilt er hier Stunde um Stunde im Heiligtum auf dem Montserrat, zeitweise stehend, zeitweise kniend, Auge in Auge mit seiner Herrin. Den Stock als Zeichen des Aufbruchs in der Hand. Es ist die Nacht zum 25. März 1522. Zwischen dieser Nacht und seinem früheren Leben liegen Welten. Die Welt seiner Gotteserfahrung. Diese Nacht wird für Ignatius von Loyola zum Schritt über die Schwelle ...

"Dahinter steht ein tiefes Gotteserlebnis"

Das sagt Pater Kentenich nach einer Weile des Schweigens zu seinem Gesprächspartner. Sie haben sich unterhalten über die Leiden, die manch einer der großen Gottesmänner zu tragen hatte, weil die Kirche ihm ernste Prüfungen auferlegte. Das Gespräch ist auf einen sehr bekannten Priester gekommen, der unter dieser Prüfung seelisch zusammengebrochen ist. Der Gründer Schönstatts hat ganz still vor sich hingesagt: Es ist eigentlich eigenartig, daß mir das alles nichts ausgemacht hat. Offenbar selbst verwundert darüber, schweigt er wieder. Und dann das eine Wort: Dahinter steht aber auch ein tiefes Gotteserlebnis.

Gott spielt nicht mit Sendungen. Er greift hart zu. Nach der Nacht auf dem Montserrat beginnt für Ignatius ein Weg mit vielen Prüfungen. Auch Prüfungen durch die Kirche. Neunmal muß er der römischen Inquisition gegenübertreten, dem kirchlichen Gericht. Mehrfach werden gegen ihn und sein Werk dort Prozesse angestrengt. Gott erspart seinen Berufenen diese Belastungen nicht. Er fordert sie ihnen ab, weil ihm seine Kirche kostbar ist. Dahinter steht ein tiefes Gotteserlebnis.

Ignatius beginnt seinen Weg im Heiligtum auf dem Montserrat mit einer Nachtwache vor seiner Herrin, Auge in Auge mit ihr. Auch im Leben unseres Gründers gibt es diese Nachtwachen, Auge in Auge mit ihr im Heiligtum. Auch in seinem Leben gibt es diese

Prüfung durch die Kirche.

Am 17. Mai 1949 kommt Pater Kentenich von Argentinien nach Chile. Dort schon hat er eine tiefgreifende Entscheidung gefällt: Ich schreibe auf den Bericht des Weihbischofs eine Antwort.

Dieser neunseitige Bericht enthält das Ergebnis der offiziellen Prüfung Schönstatts, der sogenannten bischöflichen Visitation. Weihbischof Stein von Trier hat sie vom 19. - 28. Februar in Schönstatt durchgeführt. Das Ergebnis ist positiv. In der deutschen Kirche redet sich rund: Offenbar ist diese neue Gründung ein Jahrhundertwerk. Offenbar hat Schönstatt heute eine ähnliche Bedeutung wie Benedikt, Franziskus und Ignatius für ihre Zeit.

Aber da sind auch kritische Anmerkungen im Bericht. Nicht grundsätzlich, nicht zu den Grundlagen der Spiritualität. Aber zu manchen konkreten Dingen: Daß zum Beispiel in Schönstatt die Rede ist von der Lieblingsschöpfung oder Lieblingsbeschäftigung Gottes und der Gottesmutter. Das, so schreibt der Visitator, klingt anmaßend und wirkt aufreizend und sollte deshalb möglichst vermieden werden, zumal dies keinen wesentlichen Abstrich bedeuten würde. So finden sich im Bericht manche Anmerkungen. Immer wieder scheint die Auffassung durch, man könne doch leicht darauf verzichten, damit verliert man doch nicht viel, es sei eben etwas übertrieben ...

Pater Kentenich ist anderer Meinung. Hier steht mehr auf dem Spiel. Die erzieherisch-praktische Anwendung der Prinzipien, die der Weihbischof als problematisch, aber nebensächlich wertet: sie ist gerade das, was diesem Werk die Kontur der neuen Zeit gibt.

Er kämpft mit sich. Er weiß, was auf dem Spiel steht. Er spürt, daß hier

Gott im Spiel

ist, daß er ihn einfordert. Und er entscheidet sich: Ich schreibe eine Antwort auf diesen Bericht. Ich werde offenlegen, warum Schönstatt so und nicht anders sein muß. Und warum es hier um grundlegende Fragen der Kirche im 20. Jahrhundert geht.

So kommt er am 17. Mai 1949 von Argentinien nach Santiago. Im Gepäck hat er die ersten Seiten seines Antwortbriefes. Er kommt, um das erste Heiligtum auf chilenischem Boden einzuweihen. Ein Jahr zuvor hat er selbst das Grundstück dafür ausgesucht.

Heiligtum Bellavista, 1949, Aussenansicht
Das winzig kleine Heiligtum von Bellavista ... auf weiter, freier Ebene zu Füßen der schneebedeckten Anden ...

Als er mit den Schwestern vor dem neuen Heiligtum steht - in der freien Landschaft, etwa 12 km von Santiago entfernt -, ist er eigenartig berührt: Das winzig kleine Heiligtum ... auf weiter, freier Ebene zu Füßen der schneebedeckten Anden ... wie ein Puppenhäuschen.

Der Eindruck ist stark, er beschäftigt ihn noch am Vorabend der Einweihung, dem 19. Mai: das unansehnliche Plätzchen, das im weiten Raum verlorene, winzig kleine Heiligtum, die Handvoll Menschen ... Und dann diese Entscheidung, sich der Kirche zu stellen, ihr Schönstatt anzubieten als neuen Weg. Ein krasser Gegensatz.

Da kommt ihm ein anderes Bild in den Sinn: Paulus. Der überschaute und überprüfte bei Gelegenheit seine Zuhörer. Sie sind schnell charakterisiert. Er sieht unter ihnen nicht viele Weise, nicht viele Reiche und nicht viele Ansehnliche. Und trotzdem! Was ist aus dem jungen Christentum geworden? An diesem Abend, im Anblick dieses winzig kleinen Heiligtums, lebt in ihm die Erfahrung des Paulus neu auf: 'Das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen' (1 Kor 1,27). Aber, so sagt er sich, die Schwäche allein macht es noch nicht. Da müssen die erwählten, die auserlesenen Werkzeuge durch heroischen Glauben ersetzen, was ihnen an persönlicher Eignung und Befähigung fehlt.

Das ist es, was ihn am Abend vor der Einweihung bewegt. Es folgt eine Nacht voller Regen und schweren Unwettern. Am nächsten Morgen ist das Gelände stark aufgeweicht, überall Wasser. Und Schmutz, Schmutz, Schmutz.

Er steht vor dem neuen Heiligtum.

Er steht im Schlamm,
aber auf dem Fundament Gottes.

Von daher bekommt sogar noch der unheimliche Regen seinen Sinn: Die Wassermassen sollen für uns ein Schutz vor der Öffentlichkeit, eine Art Tarnkappe sein.
Ignatius sucht im Schutz der Nacht seine Herrin auf dem Montserrat auf. Bei Tagesanbruch schleicht er davon - noch soll niemand von diesem Neuanfang wissen.
Gott liebt es, die wirklich großen Anfänge zunächst im Verborgenen zu halten.

Die Wassermassen sollen für uns eine Art Tarnkappe sein, sagt sich Pater Kentenich. Seine Gedanken gehen fünf Jahre zurück ins KZ Dachau, als auf der Lagerstraße die Schönstätter Internationale gegründet wurde. Damals war der Regen auch ein wirksamer Schutz für uns. Am Himmel jagten die Wolken nur so hin und her, und der Sturm fegte heulend durch die Bäume. Es war dunkel. Niemand wagte sich auf die Lagerstraße hinaus, nur wir, die Verschwörer der Dreimal Wunderbaren Mutter und Königin von Schönstatt, hatten den Mut, uns draußen zusammenzufinden ... Damals und heute! Der Vergleich kommt mir unwillkürlich in den Sinn.

Der 20. Mai geht vorüber. Das Heiligtum, noch gar nicht fertig, ist eingeweiht. In den folgenden Tagen ist Pater Kentenich anders: Man spürte, daß jetzt

eine Last auf ihm

lag, er war ruhiger, ernster als sonst, schildert ihn jemand. Er reduziert seine Tätigkeit nach außen auf ein Minimum und arbeitet Tag und Nacht an seiner Antwort auf den Visitationsbericht. Er geht bis an die Grenze seiner Kraft. Man sieht es ihm an: Er ist übermüdet, hat entzündete Augen. Da fällt eines abends das Licht aus. Die Sekretärin meint zu ihm: Könnte das nicht ein Zeichen sein, daß Sie sich heute abend früher zurückziehen? Bis das Licht wiederkommt, dauert es meistens eine Zeitlang. - Pater Kentenich antwortet darauf sehr ernst: Und wenn das eine Auge ausläuft, dann muß das andere weiterarbeiten. Ich möchte den ersten Teil meines Antwortschreibens zum 31. Mai abschließen und der Gottesmutter als Geschenk übergeben. - In diesem Moment geht das Licht unerwartet wieder an. Er arbeitet weiter, die Nacht hindurch.

Zwischendrin unterhält er sich in diesen Tagen immer wieder mit den Schwestern über das, was er schreibt, erklärt, warum ihm einzelne Dinge so wichtig sind. Zum Beispiel dieses Reizwort: Wir fühlen uns als Lieblingsbeschäftigung unseres Gottes, der Gottesmutter.

Pater Kentenich erklärt den Schwestern, warum dieses Lebensgefühl für Menschen von heute so wichtig ist: Viele Katholiken haben deshalb so wenig Schwung und Lebensfreude, weil sie sich nicht ganz angenommen fühlen von ihrem Gott. Jeder einzelne ist die Lieblingsbeschäftigung seines Gottes und soll seinen Gott zur Lieblingsbeschäftigung machen. Dazu sagen wir in Schönstatt Liebesbündnis zwischen Gott und Mensch. Und das braucht der Mensch, um heute mitten im Leben einen Halt zu haben. Darauf können wir nicht verzichten.

Wir können auch nicht verzichten auf all die anderen Dinge, die der Visitator kritisch anmerkt.

Der Gründer Schönstatts sieht in den aufgekommenen Mißverständnissen den Anlaß, auf grundlegendere Fragen der Kirche in Deutschland einzugehen. Er schreibt deutlich. Er stellt sich innerlich darauf ein, daß diese Studie helle Empörung weckt und machtvoll ausholende Gegenschläge veranlaßt. Und doch ist ihm ganz klar:

Ich muß es tun.

So kommt der 31. Mai, ein Dienstag. Der erste Teil der Antwort ist fertig. Pater Kentenich möchte ihn der Gottesmutter überreichen. Er könnte es auch in der Hauskapelle der Filiale in Santiago tun. Aber es drängt ihn ins Heiligtum. Gegen 18.00 Uhr bricht er mit einigen Schwestern zum Heiligtum in Bellavista auf. Es ist Winter in Chile, also schon dunkel. Zwei chilenische Schwestern tragen das MTA-Bild voran. Pater Kentenich geht mit dem ersten Teil des Antwortschreibens am Ende der Prozession.

Das Kapellchen ist noch unfertig, ungestrichen, schmutzig. Im Chorraum wurde an diesem Tag gearbeitet, so steht der Altar in der Mitte des Raumes. Das MTA-Bild wird an einem der Balken befestigt. Der Stromanschluß fehlt noch, nur Kerzenlicht ist da.

Der Gründer legt sein Schreiben an die Vertreter der Kirche auf den Altar. Er und eine Handvoll Marienschwestern in diesem unfertigen Kapellchen. Der 31. Mai 1949. Mit dieser feierlichen Überreichung übernehmen wir eine Last, die Menschenschultern, wenn sie sich selbst überlassen sind, nicht tragen können, sagt er. Wir tauschen mit der lieben Gottesmutter unsere ganze Hilflosigkeit, Hilfsbereitschaft und Hilfstreue.

Das Schreiben bleibt

die Nacht über im Heiligtum.

Es soll die Dreimal Wunderbare Mutter und Königin von Schönstatt bitten, sie möchte sich in diesem Falle wahrhaftig dreimal wunderbar erweisen und ihren besondere Segen und ihre reiche Hilfe dem nun beginnenden schweren Kampf nicht versagen, auf den ich mich jahrzehntelang gerüstet [habe] und in den ich nach langen Überlegungen und viel Gebet und Opfer einzutreten mich verpflichtet halte.

Ignatius verweilte die Nacht über im Heiligtum auf dem Montserrat, Auge in Auge mit seiner Herrin. Pater Kentenich legt die Nacht über das entscheidende Schreiben im Heiligtum nieder und damit seine eigene Zukunft und die Zukunft seiner Familie.

Der kleine Kreis verläßt das Heiligtum, tief beeindruckt von diesen Augenblicken und mit der Frage im Herzen: Was wird daraus folgen?

Pater Kentenich geht über die Schwelle des Heiligtums in die Nacht hinaus. Er ist irgendwie erleichtert. Er hat alles der Gottesmutter übergeben.




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Letzte Aktualisierung: 07.06.99, 21:33
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