Schönstatt - Begegnungen

Die Kirche – Haus und Schule der Gemeinschaft

Vortrag von Professor Franz Sedlmeier, Augsburg am Tag der geistlichen Gemeinschaften in Ingolstadt, 29. September 2001

DOKUMENTATION

Hinführung

"Ecclesia semper reformanda!" Dieser Ruf zieht sich durch die ganze Kirchengeschichte: "Die Kirche bedarf alle Zeit der Erneuerung!"Dieser Ruf nach Erneuerung will jedoch nicht besagen, dass die Kirche ein Experimentierfeld für alle möglichen Versuche sei. Dieser Ruf ist auch nicht zunächst als ein moralischer Appell zu verstehen, etwa in dem Sinne: Wir müssen uns mehr anstrengen. Wir müssen besser werden! Die Aussage "Ecclesia semper reformanda" ist vor allem und zunächst eine Verheißung und damit eine Frohbotschaft. Diese lautet: Die Kirche lebt in einem ständigen Prozess der Erneuerung. Warum? Weil ihr Ursprung der Dreifaltige Gott ist. Er ist wie eine Quelle, die unaufhörlich fliesst und sie reichlich beschenkt. Weil die Kirche nach dem Bild des Dreieinigen Gottes gestaltet ist, und weil dieser Gott sich ihr immer neu schenkt und mitteilt, deshalb lebt die Kirche in einem ständigen Prozess der Erneuerung.

Der göttlichen Gabe entspricht dann freilich auch eine Antwort von Seiten der Kirche wie des einzelnen Gläubigen: Die Bereitschaft zu hören und das Evangelium zu leben. Johannes Paul II. hat das, was der Ausdruck "Ecclesia semper reformanda" meint, unter das Thema "Neuevangelisierung" gestellt. Der Ausdruck Neuevangelisierung kennt eine doppelte Ausrichtung. Er ist einmal zu verstehen im Sinne einer Selbstevangelisierung. Das heißt, es geht darum, sich selbst ganz vom Evangelium erfassen zu lassen. Sodann schließt der Ausdruck Neuevangelisierung die Glaubensverkündigung und das Glaubenszeugnis vor der Welt mit ein. "Man kann nicht evangelisieren", so Johannes Paul II. an eine Pilgergruppe aus Turin, "wenn man nicht zuerst sich selbst der Botschaft des Evangeliums stellt."

Diese doppelte Ausrichtung kommt auch im Thema meines Vortrages zum Ausdruck, dass dem apostolischen Schreiben "NOVO MILLENNIO INEUNTE" entnommen ist. Dieses Thema lautet: "Die Kirche – Haus und Schule der Gemeinschaft". Die Kirche ist Haus der Gemeinschaft, denn sie lädt uns selbst, jeden persönlich und jede Gemeinschaft ein, das eigene Leben nach dem Evangelium auszurichten. Und sie ist Schule der Gemeinschaft, denn wir sollen und dürfen die Erfahrung mit dem Evangelium weitergeben, damit sich der Geschmack des Lebens, der aus dem Evangelium kommt, verbreitet. Denn das von Gott ausgehende Leben soll nicht nur die Kirche und die einzelnen Gläubigen erfassen und erneuern, es soll auch hinauswirken und hineinwirken in die Menschheit auf ihrer Suche nach Sinn und Leben.

1. Die Charismen in der Kirche

Dass die Kirche in diesem ständigen Prozess der Erneuerung steht, zeigen unter anderem die vielen Charismen, die Gott der Kirche immer wieder geschenkt hat. In einem Vortrag, den Joseph Kardinal Ratzinger bei einer Begegnung der neuen geistlichen Bewegungen gehalten hat, hat er darauf hingewiesen. Ratzinger machte deutlich, dass, ausgehend von den Anfängen der Kirche, über die Kirchenväter (Basilius, Augustinus) und die Heiligen (Benedikt, Franziskus usw.), die charismatische Dimension immer in der Kirche gegenwärtig und wirksam war.

Aber was ist das – ein "Charisma"? Dieses Wort stammt aus dem Griechischen. Das griechische Wort charis bedeutet soviel wie "Geschenk, Zuwendung, Dienst aus Liebe". Es kann auch bedeuten: "Freude, Schönheit, Liebenswürdigkeit". Ein Charisma ist also demnach ein schönes Geschenk aus der liebenden Zuwendung Gottes.

Durch dieses Charisma, durch diese Gabe des göttlichen Geistes, schenkt Gott sich selber. Er schenkt sich einer einzelnen Person, einer Gruppe von Personen, die diese empfangene Gabe leben und weitergeben – der Kirche, der ganzen Menschheit. Durch ein solches Charisma führt der Geist Gottes die Kirche und mit ihr die gesamte Menschheit tiefer hinein in die Botschaft des Evangeliums. Er erschließt durch seine Gabe eine besondere Seite Gottes oder eine besondere Seite Jesu. So betont Franz von Assisi in einer Zeit, in der die Kirche krank ist vor Reichtum, die Armut und die Demut Gottes, die sich ausdrücken in der Menschwerdung und im Tod am Kreuz. Ignatius ahmt den kreuztragenden Jesus und seinen radikalen Gehorsam nach. Theresia von Avila will mit Jesus im Schweigen und im Gebet in das Geheimnis seiner Liebe zum Vater eintreten. Vinzenz Palotti will, dass das Evangelium bis an die Grenzen der Welt getragen und überall die Botschaft vom lebenschenkenden Gott verkündet wird. Alle diese Heiligen, und die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, sind wie ein Kommentar zum Evangelium. Es ist der Heilige Geist, der diesen Kommentar schreibt. Er hilft mit seinen Gaben, dass das Evangelium neu entdeckt und radikal gelebt wird. Wie ein Schlüssel in ein Schloss passt, so tragen die jeweiligen Charismen dazu bei, Gott in den Zeichen der Zeit zu erkennen. Oder, um ein Bild aus unserer modernen Zeit zu gebrauchen: Der Geist Gottes schenkt uns immer wieder ein Update des Evangeliums. Und es ist gar nicht so einfach, das persönliche System immer damit kompatibel zu halten. Durch die Charismen, die Gott durch seinen Geist schenkt, wird das Evangelium auf vielfältige Weise übersetzt und weitergeschrieben. Kein Charisma hat alles und kein Charisma hat nichts. Ein jedes dient dem Ziel, Christus sichtbar zu machen, der in seiner Kirche wirkt.

Hierher gehören nun auch die neuen geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften, die Johannes Paul II. bezeichnet hat als "Ausdruck des charismatischen Lebens der Kirche".

2. Die neuen geistlichen Gemeinschaften im Dienst an der Kirche

Der Theologe und Jesuitenpater Medard Kehl hat vor einiger Zeit in einem Vortrag darauf hingewiesen, dass die neuen geistlichen Bewegungen einen wichtigen Beitrag leisten können für das Leben in der Kirche. Wenn Kehl auch "nur" eine Außenwahrnehmung dieser Gemeinschaften bietet, so sind seine Ausführungen dennoch sehr aufschlussreich. Kehl hat diese seine Auffassung an drei Bereichen entfaltet.

3.1 Den Geschmack am Glauben und am Evangelium bewahren

  • Die beiden großen Kirchen stehen in Deutschland vor vielen strukturellen Problemen. Sie befinden sich seit einigen Jahrzehnten in einem starken Umbruch. Ein paar Stichworte dazu:
  • Die konfessionellen Milieus, in denen junge Menschen von Kindheit auf wie selbstverständlich in das Christentum hineingewachsen sind, lösen sich immer mehr auf oder haben sich bereits aufgelöst.
  • Es herrscht eine Ratlosigkeit, wie der Glaube so an die jüngere Generation weitergegeben werden kann, dass ihr Herz davon berührt wird.
  • Die Gemeinden überaltern zunehmend.
  • Die inaktiven Kirchenglieder scheinen sich zu vermehren.
  • Der Priestermangel wird immer bedrückender.
  • Die Ordensberufe gehen zurück und mit ihnen schwindet in wichtiges Zeugnis der Kirche mitten in der Welt.
  • Angesichts solcher und vieler anderer Probleme müssen die Verantworlichen der Kirche nach strukturellen Lösungen suchen, um eine Antwort auf diese Probleme zu finden. Stichworte, die in diesem Zusammenhang genannt werden, sind etwa:
  • Aufbau größerer Seelsorgeeinheiten;
  • Eine sogenannte kooperative Pastoral wird entwickelt.
  • Man versucht eine spezielle Citypastoral aufzubauen.
  • Die Zulassungsbedingungen zum kirchlichen Amt werden immer wieder diskutiert.
  • So wichtig diese Fragen sind, so sehr bergen sie doch eine große Gefahr in sich. Es besteht die Gefahr, dass man sich zu sehr auf die strukturellen Probleme fixiert und den Seelsorgstrategien, die man sich ausdenkt, zu viel an erneuernder Kraft zutraut.
  • In diesem Zusammenhang – so die Auffassung von M. Kehl, bilden die geistlichen Bewegungen ein gewisses Korrektiv. Sie stellen den gemeinsam gelebten und den ganzheitlich, mit allen Sinnen erfahrenen Glauben in den Vordergrund. In ihnen wird etwas spürbar von dem, was der heilige Ignatius von Loyola in seiner Exerzitientradition nennt: "Das innere Verspüren und verkosten der Dinge". In einer Zeit also, in der in der Kirche die Gefahr besteht, sich auf strukturelle Probleme zu fixieren, können die neuen geistlichen Bewegungen die wichtige Botschaft einbringen: Es ist schön, zu glauben. Glauben schmeckt nach Leben, Evangelium schmeckt nach Leben. Und gerade dies ist für ein christliches Leben ganz entscheidend: Dass das Herz vor Gott zum Schwingen und zum Klingen kommt. Dass die Menschen tief drinnen berührt werden von Gott, die Beziehung zu ihm suchen und sich in ihrer Liebe auch für die Nächsten öffnen.

3.2. Den Menschen eine neue Heimat anbieten

Ein Großteil unserer Bevölkerung teilt nicht mehr den genuin christlichen Glauben und nimmt auch nicht aktiv am Leben der Gemeinde und der Kirche teil. Lediglich in bestimmten Extremsituationen oder an bedeutenden Wendepunkten im Leben wünschen sie die Präsenz der Kirche. Kirche wird deshalb häufig als Dienstleistungsorganisation bezeichnet. So wird sie zumindest von einem Großteil der Bevölkerung wahrgenommen, von etwa 85 Prozent der Katholiken und von 95 Prozent der evangelischen Christen.

Wie mit diesem Phänomen, mit dieser Wahrnehmung von Kirche in der Gesellschaft von heute umgehen?

Bei aller Kritik und bei allen offenen Fragen liegen in dieser Kirchenwahrnehmung auch Chancen für die Kirche. Es gibt viele Begegnungsmöglichkeiten und Anknüpfungspunkte mit der Gesellschaft. Durch die kirchliche Verkündigung ist es möglich, christliche Grundüberzeugungen und Grundwerte in unserer Gesellschaft präsent zu halten. Dass dies nicht zu unterschätzen ist, zeigt die heutige Situation in der ehemaligen DDR. Es ist dort trotz aller Bemühungen und aller Kreativität außerordentlich mühsam, über den kirchlichen Raum hinauszuwirken. In diesem religionsfremden kulturellen Rahmen ist es viel schwieriger als im Westen, die Menschen zu erreichen. So schwierig es in unserer westlichen, säkularisierten Welt auch sein mag, ich denke dennoch, dass sich z. B. in der Sakramentenpastoral noch viele gute und positive Chance bieten, in die Welt von heute hineinzuwirken, wenngleich vieles dagegenzusprechen scheint.

Diese Sicht von Kirche als Dienstleistungsorganisation hat jedoch auch ihre großen Probleme. Es besteht nämlich die Gefahr, dass diese Form von Kirchlichkeit immer selbstverständlicher wird und schließlich mit einem normativen Anspruch auftritt. So und nur so haben Glaube und Kirche zu sein! Wer mehr will oder intensiver leben möchte, der gilt als Spinner, als religiöser Spezialist oder als Exote. Die Folgen, die sich aus dieser Art von Kirchlichkeit ergeben, sind äußerst gefährlich. Denn es geht erstens nicht mehr um die Mitte des Glaubens, sondern es vollzieht sich eine Anpassung an die Umwelt. Was allgemein plausibel und eingängig ist, dieses und nur dieses wird identitätsbestimmend. So aber verliert das Christentum sein Profil. Daraus ergibt sich ein weiteres, ein zweites Problem: Die Kirche verliert an innerer Kraft. Die Anpassung stärkt sie nicht, sie schwächt die Kirche vielmehr. Es kommt zu einer personellen Ausdünnung. Die Kirche kann sich nicht mehr regenerieren. Der Mangel an geistlichen Berufungen ist ein sichtbares Zeichen dafür.

Wie aber soll man mit dieser Problematik umgehen? Der amerikanische Soziologe Peter Berger hat die beiden extremen Lösungen, die wohl besser zu vermeiden sind, in folgende Begriffe gefasst: Die Kapitulation vor der Moderne, also Aufgeben der eigenen Identität und Anpassung, oder die Verschanzung, das heißt die Verweigerung gegenüber der heutigen Zeit. Es ist schwierig, sich zwischen diesen beiden Extremen zu bewegen.

Genau hier sieht M. Kehl wieder eine besondere – wenn auch nicht die exklusive – Sendung der geistlichen Bewegungen für die Kirche. Diese haben ihr Charisma zu leben mit all den Ausdrucksformen, die dazugehören, mit den Symbolen, den Liturgien und Gesängen, mit ihren Erfahrungen und Erlebnissen, mit ihrer Sprache. So prägen die neuen geistlichen Bewegungen innerhalb der Kirche eine gewisse Eigenkultur, die unverkürzt aus der Heiligen Schrift und aus der kirchlichen Tradition schöpfen kann. Sie eröffnen so den Zeitgenossen von heute neue Lebensräume, Zeitgenossen, die der Kirche teilweise fremd geworden sind. Die geistlichen Gemeinschaften können so für viele Menschen von heute zu einem bergenden Haus des Glaubens werden. Freilich ist es dabei wichtig, damit dieser angebotene Lebensraum gesund bleibt, dass die geistlichen Bewegungen sich nicht isolieren, sondern sich einbinden in die Strukturen der Orts- und der Gesamtkirche.

3.3 Den Sinn für die Universalkirche wach halten

Die katholische Kirche steht im deutschsprachigen Raum seit dem II. Vatikanischen Konzil immer wieder in Spannungen mit Rom, die mehr oder weniger stark sind. Alle paar Jahre gibt es einen anderen Streitpunkt. Hinter diesem Konflikt steht die Aufwertung der Ortskirchen und des Bischofsamtes, die durch das II. Vatikanische Konzil geschehen ist. Dieses Verhältnis von Ortskirchen zur Universalkirche hat in den vergangenen Jahren immer wieder zu Schwierigkeiten geführt. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein. In den deutschsprachigen Ortskirchen und in unserer gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist in den vergangenen Jahren so etwas wie ein "antirömischer Affekt" entstanden, um es mit Hans Urs von Balthasar auszudrücken.

Auch sieht M. Kehl wieder einen wichtigen Beitrag der geistlichen Bewegungen. Durch ihre internationale und interkulturelle Verbreitung und durch die vielfachen Beziehungen, die sie untereinander haben, besitzen sie ein relativ ungebrochenes Verhältnis zur Universalkirche. Sie haben eine ganz natürliche Sympathie für die Universalkirche und für den Papst. Auch hier wäre ein Auftrag und eine große Chance der geistlichen Bewegungen für heute zu sehen. Wenn es ihnen gelingt, eine gute Einbindung in die Strukturen der Ortskirche mit ihrer universalkirchlichen Weite zu verbinden, dann können sie einen wertvollen Dienst an der Einheit des Gottesvolkes leisten und werden zu einem ermutigenden Hoffnungszeichen, nicht nur für die Kirche in unserem Lande, sondern für die gesamte Kirche.

4. Neue geistliche Gemeinschaften in der Kirche – als Kirche

Die neuen geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen sind – neben vielem Anderen – ein Zeichen dafür, dass die Kirche lebt. An ihnen wird deutlich, wie sehr Gott seine Kirche begleitet. Johannes Paul II. selbst hat sie bezeichnet als "Ausdruck des charismatischen Lebens der Kirche". Das heißt, die neuen geistlichen Gemeinschaften sind schöne Geschenke aus der liebenden Zuwendung Gottes.

An Pfingsten 1998 ist nun etwas ganz Entscheidendes geschehen. Johannes Paul II. hat die neuen geistlichen Gemeinschaften nach Rom eingeladen und mit ihnen auf dem Petersplatz ein großes Fest gefeiert. Er selbst hat dieses Ereignis mit dem Pfingstfest von Jerusalem verglichen. Während die geistlichen Gemeinschaften zuvor eher nebeneinander lebten und wirkten, hat es seitdem viele Begegnungen zwischen ihnen gegeben. Sie sind zusammengekommen, um gemeinsam zu beten, um ihre Erfahrungen auszutauschen, um sich gemeinsam in den Dienst der Kirche und der Menschheit zu stellen.

Deshalb sind auch wir heute hier. Das Anliegen des Papstes, die neuen geistlichen Gemeinschaften zusammenzuführen, dieses Anliegen vereint auch uns heute hier miteinander. Jede Bewegung hat ihre eigene Begabung, ihr eigenes Charisma. Auch jeder einzelne und jede einzelne von uns hat persönliche und besondere Gaben empfangen. Es ist wichtig, uns dieses bewusst zu machen.

Ich möchte Sie deshalb einladen, in einem Augenblick der Stille darüber nachzudenken. Welches Wort, welche Seite Gottes, welches Wort des Evangliums ist in meiner Bewegung und in meinem persönlichen Leben ganz besonders wichtig und lebendig geworden. Wir halten jetzt eine kurze Stille. Und ich lade Sie einfach ein, in sich hineinzuhören. Welches Wort der Schrift, welche Seite Jesu, welche Seite Gottes ist in meiner geistlichen Gemeinschaft besonders wichtig und welches Wort ist für mich persönlich so wichtig, dass ich damit lebe, dass es mich begleitet.

Ich lade Sie nun ein, ihrer Nachbarin oder ihrem Nachbarn zu erzählen, was Ihnen in den Sinn gekommen ist, was Sie soeben bedacht und betrachtet haben. Also: Austausch der Charismen!

 

Es wäre faszinierend, dieses Gespräch der Charismen fortzusetzen in einem großen Austausch unter uns allen. Das ist leider nicht möglich. Aber – so frage ich: Was käme wohl heraus, was würde sichtbar, wenn wir dieses Gespräch fortsetzen würden? Ich bin sicher: Es würde sichtbar werden,

wie sehr wir von Jesus Christus geprägt sind. Das Antlitz Christi, seine Person, sein Leib käme darin zum Ausdruck. In jedem Charisma bekommt Christus neu Gestalt und schenkt sich den Menschen, durch das Wirken des Heiligen Geistes. Aber das große Charisma, die große Gabe Gottes ist Jesus Christus selbst: Er, der von Gott ausgegangen ist, der Mensch geworden ist und das Leben mit uns geteilt hat, der sein Leben für uns hingegeben hat und von den Toten auferstanden ist. Er ist das große CHARISMA Gottes und will als solches unter uns gegenwärtig sein. Es ist der Geist Gottes, der den auferstandenen Christus gegenwärtig werden lässt in seiner Kirche, in uns, unter uns.

Dieses Sichtbarmachen Jesu Christi durch den Geist Gottes durchzieht die ganze Geschichte der Kirche, angefangen von der Zeit der Apostel über die Heiligen mit ihren Charismen bis herein in unsere Tage. Hierher gehören auch die neuen Charismen, die Gott seiner Kirche und seiner Menschheit geschenkt hat. Auch durch sie soll die Gestalt Christi für unser Jahrhundert und für unsere Zeit sichtbar werden und zum Leuchten kommen. Wir dürfen, und das ist eine grossartige Berufung für uns Christen, wir dürfen Widerschein Christi sein, durch die Gaben, die sein Geist uns geschenkt hat und die er uns ständig mitteilt.

Johannes Paul II. hat in seinem Schreiben NOVO MILLENNIO INEUNTE deshalb die ganze Christenheit eingeladen, das Antlitz Christi zu betrachten. Er schreibt: "Keine Formel wird uns retten, sondern eine Person, und die Gewissheit, die sie uns ins Herz spricht: Ich bin bei Euch! Es geht also nicht darum, ein ‚neues Programm‘ zu erfinden. Das Programm liegt schon vor: Seit jeher besteht es, zusammengestellt vom Evangelium und von der lebendigen Tradition. Es findet letztlich in Christus selbst seine Mitte. Ihn gilt es kennzulernen, zu lieben und nachzuahmen, um in ihm das Leben des Dreifaltigen Gottes zu leben und mit ihm der Geschichte eine neue Gestalt zu geben, bis sie sich im himmlischen Jerusalem erfüllt."

Lassen Sie mich versuchen, dieses Bild Jesu Christi, das wir hier darstellen dürfen, mit meinen armseligen Worten ansatzhaft zu beschreiben.

Durch den Geist, der uns seine Gaben schenkt, ist Christus unter uns, der unsere Herzen lebendig macht und entzündet, der uns zum Lobpreis und zur Anbetung befähigt und uns teilnehmen lässt an seinem Lobpreis: "Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde ...".

Durch den Geist, der uns seine Gaben schenkt, lebt Christus unter uns, der den Vater um die Einheit bittet: "Vater, lass Sie eins sein, damit die Welt glaubt." Christus, der in seiner Verlassenheit am Kreuz, dem Augenblick seiner größten Liebe, diese Einheit der Welt anbietet: "Wenn ich von der Erde erhöht bin, werde ich alle an mich ziehen."

Durch den Geist, der uns seine Gaben schenkt, lebt Christus unter uns, der die Menschen zur wahren Gotteskindschaft befreit, der sie lehrt, Kinder des Vaters zu sein und – der uns dazu seine Mutter schenkt.

Durch den Geist, der uns seine Gaben schenkt, lebt Christus unter uns, der arm, verachtet und ausgegrenzt ist, um so alle Menschen in seine neue Gemeinschaft zu rufen.

Durch den Geist, der uns seine Gaben schenkt, lebt Christus unter uns in den Gestalten von Brot und Wein und wiederholt heute wie damals: "Mein Leib – führ dich!" "Mein Blut – für Dich!"

Die Betrachtung des Antlitzes Christi ließe sich fortführen. Was geschieht hier durch das Wirken des Geistes mit uns, die wir Teil der Kirche sind? Und weil wir Teil der Kirche sind? Der Geist bewirkt durch seine Charismen, dass die Kirche als Braut Christi immer tiefer in das Leben Christi hineingeführt wird. Sie soll durch diese Gaben Christi, die sie vom Geist empfängt, immer mehr – um einen Ausdruck aus der mystischen Tradition aufzugreifen – "ein anderer Christus" werden.

5. Die Kirche – Haus und Schule der Gemeinschaft

Wir dürfen also durch die Gaben, die Gott uns geschenkt hat und die von der Kirche beglaubigt sind, dazu beitragen, dass das Antlitz Christi immer mehr sichtbar wird. In diesem Bemühen bietet uns das Schreiben des Papstes einige wichtigen Hilfen an. Nachdem Johannes Paul II. sehr ausführlich über das Antlitz Christi gesprochen hat, des leidenden wie des auferstandenen Herrn, und nachdem er eingeladen hat, dieses Antlitz zu betrachten und zu verinnerlichen, also eine innige Freundschaft mit Christus zu suchen und zu leben, entwickelt er eine Perspektive für den Weg der Kirche in die Zukunft: "Wenn wir das Antlitz Christi wirklich betrachtet haben, liebe Brüder und Schwestern, dann muss sich unsere pastorale Planung an dem neuen Gebot ausrichten, das er uns gegeben hat: ‚Wie ich Euch geliebt habe, so sollt auch Ihr einander lieben‘ (Joh13,34)."

Das neue Gebot der gegenseitigen Liebe, das Jesus auch Sein Gebot nennt, ist somit grundlegend für den weiteren Weg der Kirche. Heißt das nicht auch für die neuen geistlichen Gemeinschaften, dass ihr gemeinsames Leben und ihr Zeugnis auf dieser Grundlage des neuen Gebotes stehen muss? So tragen sie entscheidend mit dazu bei, dass die Kirche immer mehr zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft wird.

Aufbauend auf das neue Gebot gibt Johannes Paul II. Impulse für – wie er sie nennt – "eine Spiritualität der Gemeinschaft" (Nr. 43 – 45). Ich zitiere: "Die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen, darin liegt die große Herausforderung, die in dem beginnenden Jahrtausend vor uns steht, wenn wir dem Plan Gottes treu sein und auch den tiefgreifenden Erwartungen der Welt entsprechen wollen." Nach den Worten des Papstes entspricht es also dem Plan Gottes mit der Kirche, eine Spiritualität der Gemeinschaft zu entfalten und diese zu leben. Wäre es nicht großartig, wenn die neuen geistlichen Gemeinschaften sich dieses Anliegen des Papstes ganz zu Eigen machen würden?

Und, so fährt der Papst fort: "Eine solche Spiritualität der Gemeinschaft entspricht auch den tiefgreifenden Erwartungen der Welt". Angesichts der Globalisierung und der ungeheuren Konflikte, die diese mit sich bringt – die schrecklichen Geschehnisse in den USA haben uns dies auf dramatische Weise vor Augen geführt – ist eine Spiritualität der Gemeinschaft ein Gebot der Stunde, um ein neues, geistgewirktes Zusammenleben zu bezeugen. Und selbst wenn dieses nur so winzig ist wie in Senfkorn, entscheidend ist das prophetische Zeichen eines neuen Zusammenlebens, das sich aus den Gaben des Geistes gestaltet. Der Papst legt Wert darauf, dass bereits in der Erziehung und Ausbildung eine solche Spiritualität der Gemeinschaft eingeübt und gefördert wird. Aber was ist unter einer solchen Spiritualität verstehen? Ich zitiere:

"Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet vor allem, den Blick des Herzens auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu lenken, das in uns wohnt und dessen Licht auch auf dem Angesicht der Brüder und Schwestern neben uns wahrgenommen werden muss."

"Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet zudem die Fähigkeit, den Bruder und die Schwester im Glauben in der tiefen Einheit des mystischen Leibes zu erkennen, das heißt es geht um ‚einen, der zu mir gehört‘, damit ich seine Freuden und seine Leiden teilen, seine Wünsche erahnen und mich seiner Bedürfnisse annehmen und ihm schließlich echte, tiefe Freundschaft anbieten kann."

"Spiritualität der Gemeinschaft ist auch die Fähigkeit, vor allem das Positive im Anderen zu sehen, um es als Gottes Geschenk anzunehmen und zu schätzen: Nicht nur ein Geschenk für den Anderen, der es direkt empfangen hat, sondern auch ein ‚Geschenk für mich‘."

"Spiritualität der Gemeinschaft heißt schließlich, dem Bruder ‚Platz machen‘ können, indem ‚Einer des Anderen Last trägt‘ (Gal.6,2) und den egoistischen Versuchen widersteht, die uns dauernd bedrohen und Rivalität, Karrierismus, Misstrauen und Eifersüchteleien erzeugen."

Johannes Paul II. schließt diesen Abschnitt ab mit den Worten:

"Machen wir uns keine Illusionen: Ohne diesen geistlichen Weg würden die äußeren Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden zu seelenlosen Apparaten werden, eher Masken der Gemeinschaft als Möglichkeiten, dass diese sich ausdrücken und wachsen kann."

In dem Maße, in dem es uns gelingt, eine solche Spiritualität der Gemeinschaft nicht nur im Innern der einzelnen Bewegungen sondern auch unter den Bewegungen und in der Kirche zu leben (das Positive im Anderen sehen; den Anderen als einen wahrnehmen, der zu mir gehört; dem Bruder/der Schwester Platz machen), in dem Maße wird die Kirche in der Welt von heute als Haus voller Licht und voller Leben erscheinen.

6. Den Blick weiten

Wer auf Jesus Christus und seine Sendung schaut, der kann sich nicht mit sich selbst und seiner kleinen Welt begnügen. Eine Spiritualität der Gemeinschaft macht auch nicht Halt bei der eigenen Kirche, bei der eigenen Gemeinschaft. Deshalb weitet Johannes Paul II. zum Ende seines Schreibens NOVO MILLENNIO INEUNTE den Blick über die Kirche hinaus. Er spricht vom ökumenischen Engagement, das notwendig ist. Es wird Sie interessieren, dass es auch in der evangelischen Kirche ähnliche Begegnungen zwischen neuen geistlichen Gemeinschaften gibt, wie wir sie heute hier begehen. Eine solche Begegnung findet z. B. am 8. Dezember in München statt. Johannes Paul II. spricht ferner vom Dialog mit den großen Weltreligionen, besonders mit dem Judentum und dem Islam. Angesichts des Schrecklichen, was in den USA geschehen ist, hat Johannes Paul II. kürzlich bei seinem Besuch in Kasachstan beschwörend darauf hingewiesen, doch nicht preiszugeben, was durch die vielen Begegnungen und Dialoge gewachsen ist zwischen dem Christentum und dem Islam. Nur so, wenn wir auch hier im Sinne des Papstes miteinander im Gespräch bleiben, wird jene Zivilisation der Liebe, jene Kultur des Lebens, entstehen, von der er immer wieder spricht.

Die Herausforderungen, die vor uns liegen, sind gewaltig: Der Dialog mit den großen Religionen, das Gespräch mit den Nichtglaubenden; der Auftrag, den Glauben zu verkünden. Vor uns liegen die großen Anliegen und Nöte der Menschheit wie Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, der Wert und die Würde eines jeden menschlichen Lebens.

Würden wir allein auf uns schauen, so müssten wir kapitulieren, weil wir zu schwach sind. Doch der Auftrag Jesu lautet: Duc in altum! Fahr‘ hinaus! Dieses Motto steht auch über dem heutigen Tag. Wenn Jesus unter uns lebt und gegenwärtig ist, und dies hat er uns verheißen, dann brauchen wir keine Angst vor der Zukunft haben, sondern können ihr zuversichtlich entgegengehen. Ich schließe mein Referat mit einem letzten Zitat aus dem Schreiben des Papstes:

"Gehen wir voll Hoffnung voran! Ein neues Jahrtausend liegt vor der Kirche wie ein weiter Ozean, auf den es hinauszufahren gilt. Dabei zählen wir auf die Hilfe Jesu Christi. Der Sohn Gottes, der aus Liebe zum Menschen von 2000 Jahren zum Mensch wurde, vollbringt auch heute sein Werk. Wir brauchen aufmerksame Augen, um es zu sehen, und vor allem ein großes Herz, um selber seine Werkzeuge zu werden. ... Wir können auf die Kraft desselben Geistes zählen, der am Pfingstfest ausgegossen wurde und uns heute dazu anspornt, einen Neuanfang zu setzen. Dabei fühlen wir uns getragen von der Hoffnung, ‚die nicht zugrundegehen lässt‘ (Röm. 5,5)."

Professor Franz Sedlmeier



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