Überarbeiteter und erweiterter Vortrag beim Empfang
der Promotionsurkunde am 21.07.00
Meine Doktorarbeit handelt also über "das christlich-soziale
Prinzip". Max Weber, der bekannte Soziologe schrieb seiner Zeit (1894)
eine Buchrezension unter der Titelfrage: "Was heißt christlich-sozial?".
Eine Frage, die heute wohl noch ebenso aktuell ist wie damals. Dieses
Thema behandle ich in meiner Arbeit im Hinblick auf einen originellen
Denker aus der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts: Franz von Baader.
Er versuchte nicht nur eine der frühesten Antworten auf die genannte
Frage, sondern gilt sogar als Schöpfer dieser Wortverbindung "christlich-sozial",
wie er auch vom "christlich-sozialen Prinzip" spricht. Trotz solcher Verdienste
wird ein ansehnlicher Teil auch der gebildeten Leute erst um Auskunft
über Franz von Baader bitten, wenn da eine Dissertation über
ihn vorgestellt werden soll. Wer ist dieser aus mancherlei Gründen
ziemlich im Schatten verbliebene und doch sehr beachtenswerte Mann?
Zur Person F. v. Baaders:
Er lebte von 1765-1841. In München geboren blieb er dieser seiner
Heimatstadt zeitlebens verbunden, wohnte und arbeitete die meiste Zeit
in ihr. In der Nachfolge seines Vaters, einem praktizierenden Arzt, studierte
er in jugendlichem Alter Medizin an der Universität Ingolstadt (wo
auch seine beiden Brüder studierten). Hier ergaben sich auch erste
Kontakte mit Michael Sailer. Der Ausübung des Arztberufs war seine
sensible Veranlagung nicht gewachsen. So wandte er sich dem Bergbau und
Hüttenwesen zu, besuchte die für diesen Fachbereich berühmte
Akademie Freiberg im sächsischen Erzgebirge (1788-92) und absolvierte
ein 31/2 jähriges Praktikum in England und
Schottland. 1796 kehrte er nach München zurück, wurde Bergmeister
und avancierte zum Oberbergmeister im Dienste Bayerns, das ihn in den
Adelsstand erhob. Über all diese Jahre hin widmete er sich nebenher
als eigenwilliger Autodidakt geisteswissenschaftlichen wie auch praktischen
Studien, deren Ergebnisse er auch fleißig in zahlreichen Artikeln
und Schriften veröffentlichte. Dieser seiner Lieblingsbeschäftigung
kam seine Frühpensionierung entgegen (im Alter von 55 Jahren wegen
Umstrukturierungen im bayerischen Berbau). So arbeitete er sich im Geiste
des deutschen Idealismus und der Romantik zu einem Universalgelehrten
empor, der mit vielen Geistesgrößen seiner Zeit im Gespräch
war. Als 1826 König Ludwig I. die Universität München (durch
die Verlegung der Uni. v. Landshut) gründete, wurde Baader (auf Empfehlung
Sailers) noch als Sechzigjähriger zum Honorarprofessor an sie berufen
(wo mit ihm u. a. auch Joseph Görres, F.W. Schelling, Ignaz Döllinger
wirkten). Eine zeitlang beteiligte er sich auch aktiv am Münchner
Romantiker Zirkel ("Görres-Kreis") und dessen Zeitschrift "Eos".
Baader war verheiratet und hatte zwei Kinder, ein aktiver Laien-Christ,
wie sie die stark katholisch und sozial geprägte Spätromantik
unter den Intellektuellen hervorbrachte. Baader war ein sprühender
Geist, griff engagiert und mit intelligenter Polemik in den Streit der
Zeit ein. Görres nannte ihn ein "Blitzgenie", für den frühen
Schelling war er "ein von Natur unterirdischer Mensch", "eine lebendige,
stets bewegliche und vollständige Persönlichkeit des Erkennens".
– Zum Gesamtbild ist auch seine Begabung fürs empirisch-praktische
Forschen zu erwähnen. Er gründete(1808) eine Glashütte
und erfand eine neue Methode zur Glasherstellung, für deren Patent
ihm die Österreichische Regierung soviel zahlte, daß er sich
davon ein Schlößchen in Schwabing kaufen konnte.
Zum Horizont seines Denkens:
Wie viele Denker seiner Zeit erstrebte Baader eine Deutung oder Theorie
der Gesamtwirklichkeit (Koslowski). In diese sieht er den Menschen,
um dessen Bestimmung es ihm geht, so eingebunden, daß er seine Ganzheit
(von Leib/Seele/Geist) und erfüllte Freiheit nur gewinnt, wenn er
seine Beziehungen nach allen Seiten aktiv auf ihre Har-monie hin gestaltet:
Zu Gott, dem transzendenten Grund alles Endlichen, zu sich, zu den Mit-menschen
und zur untermenschlichen Natur. Dabei gilt für ihn:
"Wie der Mensch mit Gott steht, so steht er mit sich, mit
andern Menschen, mit seiner und der übrigen Natur. Ist
er mit Gott gespannt (unfrei, entzweit), so ist er es mit sich, mit
Andern, mit der Natur" (15, 469).
Die Grundkraft, aus der diese Beziehungen zu gestalten sind, ist die
Liebe, die wir von Gott, dem Urquell aller Liebe, empfangen. In diesem
Rahmen entwickelt er die für ihn zentrale Philosophie und Theologie
("religiöse Philosophie") der Gesellschaft.
Das christlich-soziale Prinzip als Prinzip der Liebe und der Freiheit.
In der christlich verstandenen Liebe sieht Baader im Kern das christlich-soziale
Prinzip gegeben. Diese Liebe schließt wesensgemäß die
Freiheit mit ein, denn aus freiem Wollen geht sie hervor und nur in der
wechselseitig Freiheit lassenden Beziehung kann sie Bestand haben. Auch
die Vernunft bzw. die Vernünftigkeit des Wollens sieht er als Mitbedingung
echter Liebe, die eben mehr ist als Gefühl und Leidenschaft. Das
Bedingungsverhältnis gilt für ihn aber auch umgekehrt: Den Zugang
zu gültiger Erkenntnis von Sinnwahrheit findet die Vernunft erst
durch Glaube und Liebe, deren geistige Grundeinstellung ihre Sehbedingung
ausmacht. Dem "cogito, ergo sum" von Descartes setzt Baader sein "cogitor
(a Deo), ergo sum" (12,338) entgegen: ich werde gedacht, ich weiss mich
gesehen und erkannt, also bin ich. In gewisser Hinsicht setzt er dem noch
zuvor die vorreflexive Erfahrung des Existenzgrundes "ich bin gewollt,
werde geliebt, also bin ich" – bin zu freien Liebesantwort gerufen und
befähigt (vgl. 1,370; Diss. 383).
Betrachten wir noch etwas näher seinen für das christlich-soziale
Prinzip konstitutiven Freiheitsbegriff. Das gesellschaftliche Zusammenleben
mit den von ihm geforderten Rücksichtnahmen ist eine der tiefgreifendsten
Herausforderungen an den praktischen Vollzug der Freiheit, wodurch auch
ihr grundsätzliches Verständnis geprägt wird. Der vordringende
Frühliberalismus, dem Baader begegnete, betrachtete soziale Rücksichten
und staatliche Regelungen vornehmlich als lästige Einschränkungen
der primär beanspruchten individuellen Freiheit, nach eigener Willkür
zu agieren. Deren Begrenzung sollte sich daher mit dem allernötigsten
Minimum begnügen und dem einzelnen die maximal mögliche Independenz
seines Handelns gewähren. Zur Grenzziehung gegen den "homo homini
Lupus" akzeptierte diese liberale Position nur die negative Norm: "dem
andern keinen Schaden zufügen". Gegen dieses Konzept einer interpersonal
gesehen rein "negativen Freiheit" wehrt sich Baader vehement indem er
seinen Freiheitsbegriff geradezu in die umgekehrte Richtung wendet: Menschen
werden innerlich und äußerlich nur frei, indem sie einander
freimachen, d.h. einander positiv beistehen, zur freien Entfaltung verhelfen.
Das "Gesetz des Freiwerdens durch Freimachung" besagt, "daß
kein Seiendes für sich frei wird oder ist, was nicht ein von sich
Unterschiedenes frei macht oder erhält" (14,481).
Oder in einer etwas konkreteren Formulierung meint er, " daß
es keineswegs genügt, daß einzelne Korporationen oder Individuen
sich einander nicht hindern, frei zu sein [voneinander], sondern, daß
sie sich hierzu positiv zu helfen haben" (14,81).
Dabei mahnt er immer wieder, das "Frei-sein" von jemandem oder von etwas,
nicht mit dem "Los-Sein" oder "Getrennt-sein" von ihm zu verwechseln –
realisiert sich das Freisein der Partner doch gerade in der seinsgemäßen
organischen Verbundenheit. "Alle wahre Freiheit hat ihre Legitimität
nur in der wechselseitigen Befreiung der in den Bund getretenen zu erweisen"
(G139). Damit erscheint soziale Freiheit bereits von ihrem Wesen
her als Praxis der Liebe. Demzufolge ist es seine Überzeugung,
daß mit dem Hauptgebot der Gottes und Nächstenliebe " das
Christentum ... als das Prinzip der bürgerlichen Freiheit
oder wechselseitigen Befreiung der Menschen voneinander sich erweist"
(G210; vgl. Diss. S. 79).
In der Zusammenschau von Baaders Gesellschaftslehre qualifiziere ich
diese Freiheit mit dem neuerdings in verschiedenen Anwendungen aufgekommenen
Begriff "kommunikativ", so daß man sagen kann "kommunikative
Freiheit" stellt für ihn ein wesentliches Moment im Leitbild
einer christlich geprägten Gesellschaft dar (vgl. Diss. 403f).
In sachlicher Nähe zum hier Thematisierten trägt eine Neuerscheinung
von H. Bedford-Strohm den Titel: "Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit",
Gütersloh 1999. Weiter zurückliegend ist mir der Ausdruck in
Michael Theunissens Interpretation von Hegels Freiheitsbegriff aufgefallen:
"Kommunikative Freiheit bedeutet, daß der eine den anderen nicht
als Grenze, sondern als Bedingung der Möglichkeit seiner eigenen
Selbstverwirklichung erfährt", und daß "Hegel ein In-Beziehung-Sein
geltend [macht], das als Im-Anderen-bei-sich-selbst-Sein Freiheit und
als Bei-sich-selbst-Sein im Anderen Liebe ist." In: M. Theunissen,
Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt
1980 (stw 314), S. 46 u. 48f. (Vgl. Diss. 404 Anm. 2). Hierzu läßt
sich zwischen den Zeitgenossen Hegel und Baader auch eine Brücke
der Inspiration vermuten.
Mit dem längeren Untertitel, den ich meiner Arbeit gab, wollte ich
eine Definition des christlich-sozialen Prinzips geben. Das zuletzt Gesagte
erklärt ihren Schluß: daß dieses Prinzip den "Sozialorganismus
kommunikativer Freiheit" hervorbringt.
Zum volleren Verständnis von Baaders Begriff der Freiheit und der
zu ihr komplementären Liebe müßte man noch einen Blick
auf seine athropologische Grundlegung werfen, auf die hier nur
kurz hingewiesen werden kann. Das Realisieren zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher
Freiheit setzt die "innere Freiheit" der beteiligten Subjekte voraus,
die für Baader wiederum mit dem Erlangen der Liebesfähigkeit
zusammenfällt. Sie resultiert nach ihm aus der Versöhnung und
schöpferischen Verbindung der durch die (Erb-)Sünde entzweiten,
d.h. vereinseitigten Urstrebungen der Hingabe und der Selbstbehauptung.
Statt echter "Demut" wird aus dem entzweiten Hingabedrang "Servilismus",
knechtisches Verhalten und satt "Erhabenheit" (gesunder Stolz, Ehrgefühl)
wird aus dem isolierten Selbstsein-wollen "Hoffart", die sich gesellschaftlich
in Herrschsucht, als "Despotimus" äußert. Statt dieser Fehlhaltungen,
die das Sozialleben zersetzen, führt die Vermittlung der polaren
Grundstrebungen zur Einheit von Demut und Erhabenheit in der Grundkraft
der Liebe. Baader will plausibel machen, daß dieser aus innerer
Versöhnung resultierende Gesinnungswandel zur sozialen Liebe nur
mit göttlicher Hilfe durch die Vermittlung Jesu Christi als unserm
Erlöser zu erlangen ist. Von dieser Tiefe her will er so den christlichen
Charakter des Sozialprinzips begründen.
Damit wir mitvollziehen können, wie Baader die Wirkung des christlich-sozialen
Prinzips weiter ausfaltet, seine gesellschaftsgestaltende Kraft auslegt,
muß auch sein Begriff der Liebe noch etwas genauer betrachtet
werden.
Auf einer ersten Ebene offenbart sich ihm die personale Liebe als ein
Lebensvorgang, der die Liebenden, wie es offensichtlich ist, miteinander
vereint, der aber zugleich, was nicht so offenkundig erscheint, die Eigenart
und damit die Verschiedenheit der in Liebe verbundenen Personen verstärkt.
Liebes-Einigung geht einher mit einem Prozeß der Differenzierung
im Sinne einer intensivierten Personalisierung (die Baader auf
seine Weise auf den Begriff bringt). Diese Sicht vertritt Baader auch
aus dem Zusammenhang seiner umfassenderen Philosophie des Lebens, in der
er herausstellt, daß das Vieleins eines lebendigen Organismus "nur
unterscheidend sich eint, nur einend sich unterscheidet" (2,275) (vgl.
Lambert Philosophie des Gebets, S. 30-42; diese Sicht Baaders zitiert
Greshake: Der dreieine Gott, S.196). Statt Einebnung also optimale Profilierung
der originellen Persönlichkeiten in ihrer Einigung zum "Wir" kraft
der christlich verstandenen Liebe. Es gilt: "Je inniger die Verbindung
ist, desto lebendiger tritt die Persönlichkeit hervor"! (8,73).
Das Urbild dafür erkennt Baader im dreieinen Gott (vgl.
ebd.; Diss. S. 67). Mit diesem Ansatz überwindet er zum vornherein
die in der Neuzeit virulenten einseitigen Verabsolutierungen von Person
(Individualismus) oder Gemeinschaft (Kollektivismus).
In der Weiterführung dieses Ansatzes sieht er auch die Lösung
des gesellschaftlichen Problems der sozialen Ungleichheit, die nicht
pauschal ungerechter Benachteiligung angekreidet werden kann, sondern
auch eine unaufhebbare, augenfällige Realität darstellt. Bei
allem notwendigen und möglichen Ausgleich im Namen der Gerechtigkeit
bleiben unter uns Menschen soziale Unterschiede, die vielen auf den ersten
Blick "ärgerlich" erscheinen, angefangen mit der Ungleichheit der
Potenzen von Mann und Frau, alsdann von Erwachsenen und Kindern, "Hohen
und Niedrigen" als im Vergleich zueinander Reichen und Armen, Herrschenden
und Dienenden, Hochbegabten und minder Begabten usf. Die soziale Liebe
vermag diese Verhältnisse innerlich (psychisch) und im äußeren
Verhalten in versöhnte und fruchtbare Beziehungen zu erheben indem
sie vor allen den "Großen" die Demut und den "Kleinen" den Stolz
ihrer Würde bewahrt, die einen nicht "despotisch" und die andern
nicht "servil" werden läßt. Der in einer Hinsicht reiche Mensch
ist in einer anderen arm und umgekehrt der arme reich. Die einander würdigende
Ungleichheit ermöglicht gerade den einander beschenkenden Lebensaustausch,
aus dem das Glück der Liebe entspringt.
Die im Rahmen der elementaren Personenbeziehung aufgewiesene Komplementarität
von Einigung und Unterscheidung überträgt Baader auch auf die
umfassendere gesellschaftliche Ebene. Auf ihr soll beleuchtet werden,
wie das christlich-soziale Prinzip in seiner Dynamik von Liebe und Freiheit
das Verhältnis zwischen Großgesellschaften (des Staats,
der Völker) und den in ihnen bestehenden und sich entwickelnden
"Subsozietäten" von innen heraus strukturiert.
Der liberale Staat tendierte auf die exklusive Rechtsbeziehung zwischen
der Regierungsmacht und den einzelnen Bürgern. Alle staatsunabhängigen
Körperschaften, gesellschaftliche Zwischenglieder aufgrund freier
Zusammenschlüsse verschiedenster Art (Berufsstände, Genossenschaften,
Kulturvereine usf. und insbesondere auch die autonom und überstaatlich
organisierte katholische Kirche) waren ihm nicht genehm.
Vereint mit der ganzen Bewegung der "Sozialromantik" und ihrem Sinn für
organisch gewachsene Lebensgebilde (gegen bloß rational geplante
Mechanismen) stritt Baader um den Erhalt staatsfreier Korporationen, denen
er eine notwendige, die Freiheit sichernde Funktion, zuerkannte, war doch
der isolierte einzelnen gegenüber dem mächtigen Staatsapparat
zu wehrlos.
"Wenn die Aktion der obersten Macht unvermittelt auf das Individuum
fällt, so wirkt sie notwendig erdrückend oder despotisch auf
dasselbe, nicht aber, wenn dieses Individuum dieselbe Aktion als Glied
eines Standes oder einer Korporation, somit vermittelt, erfährt"
(5,290 vgl. Diss. S. 91f.)
So lieferte er durchdachte Begründungen zu Lebenswert und soziologischer
Funktion von solch freier, innergesellschaftlicher Gliederung. Sie fußen
im wesentlichen auf der schon namhaft gemachten Doppelwirkung der Liebe.
Gegenüber großen Gesellschaftsgebilden sieht er sie dahingehend
potenziert, daß in diesen ihr Streben zur Differenzierung, das dem
Streben zur Vereinigung quasi dialektisch entgegenläuft, nicht nur,
oder gar nicht unmittelbar die einzelnen Personen profiliert, sondern
im Verein mit den Vorgegbenheiten menschlich-sozialer Existenz die erwähnte
Aufgliederung in zahlreiche kleinere Gemeinschaften verschiedener Art
und Umfänglichkeit hervorbringt und fördert. So begreift er
in origineller Weise auch hier die Liebe sowohl als die vereinende
als auch die zugleich "gliedernde" Kraft der Gesellschaft. "Die
Liebe ist das eigentliche, organisierende oder gliedernde, die Mannigfaltigkeit
oder Fülle in Einheit haltende, diese in Fülle verbreitende
Prinzip" (14,85).
Und gerade dieses die Sozietät strukturierende Zusammenspiel von
Vereinen und Gliedern, wie es aus dem christlichen Geist hervorgeht, begründet
in eminenter Weise die Freiheit des sozialen Lebens. So sieht er es mit
andern "organisch" denkenden Romantikern:
"Die Freiheit des sozialen Lebens ist so wie die des organischen Lebens
überhaupt nur durch Gliederung (subordinierende und koordinierende
Korporation) bedungen, und Fr. Schlegel bemerkt mit Recht, daß das
sozial bildende, organisierende Prinzip kein anderes als das christliche,
als das Innungsprinzip par excellence, ist" (G 240f).
Unerlöste, triebhafte "Liebe" vereint zwar konkrete Gruppen, trennt
sie aber oft ebenso aggressiv von den fremden "Anderen". Die christliche
Liebe ist demgegenüber zwar von universaler Weite, die keinen Menschen
ausschließt, doch erstrebt sie auch keine uniforme Einheit. Sie
realisiert sich konkret, eben in den geschöpflichen und geschichtlichen
Kontexten (Familien, Interessengruppen, Völker usf.), bleibt aber
zu den andern Gruppen offen: Sie trennt nicht, sondern "gliedert" – Glieder
bleiben dem Ganzen verbunden. Zur wahren Liebe gehört auch die Ehrfurcht
vor dem andern, die Achtung der Mitmenschen auch anderer Gruppen. Sie
bejaht damit auch deren Eigenstand und will deren Originalität bewahrt
sehen. Somit unterstützt die zur Einheit drängende Liebe zugleich
auch die Verschiedenheit. Sie bestätigt und produziert selbst die
vielfältige Untergliederung jeder größeren Gesellschaftseinheit,
insbesondere diejenige des Staats, in dem Baader die wesentlich "politische
Sozietät" sieht. Man könnte auch so sagen: Die aus natürlichen
Antrieben sich bildenden gesellschaftlichen Gruppierungen (die von sich
aus die Gesamtsozietät eher spalten) wollen je von der christlichen
Freiheit und Liebe beseelt werden, damit sie einerseits in ihrer Gruppe
zusammenhalten und zugleich auch die anderen Zusammenschlüsse bejahen
und darüber hinaus offen und solidarisch bleiben zur je umfassenderen
Sozietät der Nation, des Völkerbundes von Europa (von dem die
Romantiker damals träumten) bis hin zur Menschheit insgesamt.
Damit sind die Themen des konkretisierenden zweiten Hauptkapitels meiner
Arbeit angezeigt: Föderative Sozietäts-Gestaltung. Ich
gebrauche hier für Baaders Konzept der Gesellschaftsgestaltung das
Wort "föderativ", weil ich im Begriff des Föderalismus
seine beiden eben umrissenen Komponenten der Untergliederung und der einigenden
Solidarität – durch den im Wort (foedus) enthaltenen Bundesgedanken
– miteinander verbunden sehe. Ausfaltend geht es um die korporativ
gegliederte und gleichzeitig solidarisch geeinte Sozietät.
Insofern das christlich-soziale Prinzip die gesellschaftliche Gliederung
aktiviert, die innerstaatlichen, gemeinschaftlichen Zwischenglieder fördert,
sieht Baader in ihm eine teleologische Wirkkomponente am Werk, für
die sich die Bezeichnung Korporationsprinzip nahe legt (die gemeinten
Gemeinschaftsgebilde verallgemeinernd nennt Baader sie mit Vorzug "Corporationen"
[in seiner Schreibweise mit "C"], spricht aber auch von Innungen, Assoziationen,
Bünden, Ständen usw.).
Das komplementäre Streben nach Einigung und Zusammenhalt der Individuen
und Gruppen, zur Eingliederung ins größere Ganze gründet
im Solidaritätsprinzip.
An diesen Leitgedanken, wie sie sich aus der Analyse der Grundprinzipien
(Hauptteil A.) ergeben haben, orientiert sich vorerst die weitere Ausarbeitung
des christlich-sozialen Prinzips (Teil B.). Aus den Texten Baaders sucht
sie zu erheben, wie er die Gestaltung der Gesellschaft aus dem Korporationsprinzip
im Sinne der "gliedernden Liebe" (Kap. B.I.) und dem Solidaritätsprinzip
im Sinne der vereinigenden Liebe (Kap. B.II.) näher bestimmt.
Diese Ausfaltung soll nur mit einigen Stichworten angedeutet werden:
Sie beginnt mit dem Kapitel über die "korporativ gegliederte Gesellschaft".
Als erstes wird darin dargelegt, wie Baader die Korporationen dazu
berufen sieht, "Träger des Geistes", "Schützer der Ehre" (ihrer
Glieder), "Garanten der Freiheit" und unentbehrliche "Organe sozialer
Dienste" zu sein. Nach der Bestimmung dieser Grundfunktionen wird die
Bedeutung der ihm wichtigen konkreten Gesellschaftsglieder umrissen.
Die Eigenstand beanspruchende Gliederung der Gesellschaft beginnt mit
Ehe und Familie (naturrechtlich und religiös-christlich gefordert),
setzt sich nach Baader fort in Geburts- und Berufs-Ständen. Er verteidigt
in konservativer Art die traditionellen Stände, ohne sich aber auf
ihre Unveränderlichkeit festzulegen (wie seine Initiative für
die Proletarier zeigt). Es geht im primär darum, daß das Gliederungsprinzip
realisiert wird. Eine besonders herausragende Rolle kommt nach ihm der
Kirche als "exemplarische Korporation" zu. Sie ist eine übernationale,
weltständische Innung, ein Freiwilligkeits-Bund ohne zwingende Regierungsgewalt
und steht im Dienste des menschgewordenen Gottes, "der höchsten Idee".
Sie ist in sich selber nochmals korporativ bewegt, besonders durch die
neben der hierarchischen Struktur (Diözese – Gemeinde) auflebenden
Orden und Genossenschaften. Darum wirkt sie in der Verteidigung ihrer
notwendigen Freiheit gegenüber dem Staat als Ferment und Wegbereiterin
auch bürgerlicher Korporationen. Baader nennt sie daher "Corporation
mère" (G273).
Nicht nur innerkirchlich, sondern auch "in bezug auf [bürgerliche]
Sozialformen zeigt sich das christliche Prinzip allein wahrhaft befreiend,
weil organisierend im tiefsten Sinne, darum der Bildung von Innungen,
Korporationen, Ständen etc. günstig, hiermit die Sklavenlust
sowie die Despotenlust tilgend" (2,289; Diss. S. 102). "Die Kirche
als Korporation aller Korporationen [muß] diese alle begründen
und assekurieren" (4,124).
In die Nähe der Kirche rücken die damals von Baader mehr erst
postulierten als schon bestehenden internationalen "Korporationen des
Geistes" nämlich der Wissenschaft und der Kunst (neben derjenigen
der Religion, realisiert in der katholischen Weltkirche). Er wünschte
sich einen Bund der je selbständigen "weltständischen" Vereinigungen
der Priester, der Gelehrten und der Künstler (vgl. Diss. S. 108f.).
Das Kapitel über die "solidarisch geeinte Gesellschaft" (B.II.)
beschäftigt sich weniger mit der Solidarität innerhalb der je
besonderen Gemeinschaften (die schon durch die Einigungswirkung der Liebe
zur Sprache kam), als vielmehr mit den nötigen und je eigengeprägten
Solidaritätsbünden zwischen den Sozialpartnern innerhalb einer
Sozietät beziehungsweise zwischen (Teil-)Sozietäten als selbständigen
Partnern.
Bedeutsam ist, wie Baader seiner Zeit voraus das Verhältnis von
Kirche und Staat als ein Bündnis freier Partner sehen möchte.
Wichtig ist ihm die Solidarität von Regierung und Volk: nicht gegen-,
sondern nur miteinander können sie das gemeinsame Wohl fördern.
Und: Auch das Volk ist der Regierung gegenüber eine Repräsentation,
eine Stimme Gottes. Im weiteren geht es um die Solidarität der verschiedenen
Stände, und Korporationen und Gesellschaftsgruppen, um einen anzustrebenden
Solidaritätsbund der kulturellen Weltinstitute wie auch der Völker
untereinander, insbesondere der Nationalstaaten Europas.
In den Rahmen dieser Vision der verschiedenen Bündnisse gehört
auch Baaders Anliegen einer solidarischen Einbindung der "Proletairs",
zu welchen in seiner Zeit durch die aufkommende Industrialisierung die
ausgebeuteten Lohnarbeiter geworden sind. Ihre elende Lage schürte
den bösen Zwiespalt zwischen den Gesellschaftsklassen der
armen Fabrikarbeiter und der reichen Kapitalisten als Fabrikherren. Zu
dieser damals brisant gewordenen "sozialen Frage" der Industriearbeiter
und eines schwelenden Klassenkampfs veröffentlichte Baader eine bemerkenswerte
Stellungnahme, in der er mit der tieferen Deutung der Problemlage auch
neue Lösungswege andachte. Es ist hervorzuheben, daß er damit
schon 1834/35, mehr als ein Jahrzehnt vor Marx, auf die Not der "Proletarier"
aufmerksam machte und als erster nicht nur ihre karitative (von Seiten
der Kirche geübte) Linderung, sondern eine mit Hilfe des Staats herbeizuführende
strukturelle Reform forderte, die den Arbeitern zu einem gerechten Lohn
sowie zu angemessener Sicherheit und Würde eines Standes verhilft.
Die Grundanliegen der so umrissenen Sozialprinzipien der Solidarität
und der korporativen Gliederung, in dem sachlich auch das später
so genannte "Subsidiaritätsprinzip" enthalten ist, gingen
als Erbe der romantischen Sozialtheorie auch in die spätere katholische
Soziallehre ein. Die Begründungsansätze mit weitreichenden
Konsequenzen für die Zielbilder gingen jedoch auseinander: Baader
baute auf das Prinzip der christlichen Liebe – die katholische Soziallehre
setzte (ausgehend von einem christlichen Menschenbild) auf die einklagbare
Grundforderung der Gerechtigkeit, die im politischen Diskurs jedermann
(auch Nichtchristen) durch naturrechtlich (seinsphilosophisch) begründete
Vernunftargumente vermittelbar sein sollte. Beachtenswert erscheint mir,
daß die vorliegende Herausarbeitung deutlich werden läßt,
wie man von den zwei verschiedenen Ansätzen her zu den genannten,
wenigstens in analoger Weise gleichgerichteten Sozialprinzipien gelangen
kann: indem sie das eine mal durch philosophisch-theologische Reflexion
als Konsequenzen der christlich verstandenen Liebe, das andere
mal als naturrechtliche begründete ethische Forderungen sozialer
Gerechtigkeit aufgewiesen werden.
Damit ist ein grundlegender Bereich der Auswirkungen des christlich-sozialen
Prinzips skizziert. Doch zu seiner umfassenden Bestimmung fehlen noch
einige seiner wichtigen Anwendungsfelder: So die Bedeutung des Prinzips
für die Gestaltung der Wirtschaft (C.). Im Zusammenhang damit
seine Rolle bei der Vermittlung menschlicher Kommunikation durch den Austausch
materieller Gaben, der vom Handel mit Wirtschaftsgütern tiefer, bzw.
höher führt zum persönlichen Einanderbeschenken bis zur
gottmenschlichen Gabe der Eucharistie (D.). Und dann reflektiert Baader
vor allem auch wie eine Sozietät mit ihren Lebenskräften und
Strukturen im Fortgang der Zeit besteht und sich entwickelt (E.).
Im wirtschaftlich-humanen Bereich legt er besonderes Gewicht auf die
Sozialverpflichtung des Eigentums, das er in einem sehr weiten
Sinn versteht: Auch was ich vom Schöpfergott an Gaben empfangen habe,
was mir durch Lebensumstände als "Talent" zufiel, ist bis zu einem
gewissen Grade dem Gemeinwohl tributpflichtig, indem ich sie auch zu Gunsten
meiner Nächsten, meiner engeren und weiteren Sozietät einsetze.
Gegenüber der zunehmenden Anonymisierung der Dienstleistungen und
des wirtschaftlichen Güterverkehrs reklamiert er deren Dienlichkeit
und heilsame Funktion zur Vermittlung personaler, ganzheitlicher, den
Warenaustausch einbeziehender Kommunikation. "Gaben", selbst als Produkte
die verkauft und gekauft werden, symbolisieren dem Empfänger den
Geber. Besonders ereignet sich dieser Austausch beim gemeinsamen Mahl.
Solch ganzheitlich vermittelte Gemeinschaft steigert sich nach Baader
bis zur intensiven, "leibhaften Communio" (Teil D). Den höchsten
Modellfall dafür sieht er im Sakrament der Eucharistie, in dem der
Gottmensch sich selber in der materiellen Gabe des Brotes verschenkt und
durch sie das Kommunizieren mit ihm und untereinander vermittelt. Auf
niederer Ebene müßten wir, wie Baader meint, durch all unseren
vielfältigen Güteraustausch in analoger Weise personale
Beziehungen stiften und erhalten: Damit käme "das universale
eucharistiche Prinzip" zum Tragen.
Das "christlich-soziale Prinzip" besteht in der christlich (durch Christus
und die ihm in der Kirche angeeinten Christen) vermittelten Grundkraft
der Liebe, insofern sie die Gesellschaft in den dargelegten Weisen gestaltet.
Dabei macht der Untertitel der Dissertation darauf aufmerksam, daß
sie nicht nur das "Gestaltungsprinzip" in Bezug auf die konstant bleibenden
Formen der Gesellschaft, sondern auch deren "Evolutionsprinzip"
ist (Teil E.).
Es ist der positive Verlauf des gesellschaftlichen Lebens in der geschichtlichen
Zeit, der seiner organischen Fortentwicklung und seinen situativen Anforderungen
entspricht, den Baader mit dem (religionsphilosophisch-geistesgeschichtlich
verstandenen) Begriff der Evolution belegt. Er sieht also die Evolution
einer Sozietät in deren organischem Wachstumsvorgang, der von ihren
Subjekten in bewußt abwägender, die Zeit deutender Weise voranzubringen
ist. Evolution richtet sich gegen konservative Versteinerung
wie revolutionäre Auflösung. Sie fordert die ständige
Vermittlung von Vergangenheit und anstehender Zukunft, von Bewahrung und
Erneuerung, von liebender Rücksicht auf die Vorfahren und Verantwortung
für die Nachkommen. Nach der Vorstellung Baaders kann das der Mensch
nur leisten aus dem Standpunkt einer überzeitlichen Gegenwart: aus
gläubiger, von Liebe bewegter Transzendenzerfahrung in Gebet und
Tat, im Anschluß an Christus als das "Prinzip aller Entwicklung
oder Aufsteigung" (5,364; Diss. S. 277). Das zeigt uns die dynamische,
bis in die Endzeit hinzielende Dimension des christlich-sozialen Prinzips.
"So, wie für das Geschöpf eine Geschichte entstand, [ist]
auch Gott aus Liebe zum Geschöpf in diese Geschichte eingegangen
und [hat] sich selber als Evolutionsprinzip derselben, als leitender
Genius der Menschheit und als ihr oberstes Gestirn kund gegeben" (14,111;
Diss. S. 279).
Nach diesem Durchgang durch die verschiedenen Aspekte in Baaders Begriff
des christlichen Sozialprinzips werfe ich in meiner Arbeit einen Blick
auf das Ganze seiner "religiösen Sozialphilosophie" (Teil F.)
mit einem besonderen Augenmerk auf ihren theologischen Charakters. Dessen
Eigenart sehe ich in einer nicht institutionellen, sondern einer auf das
Ideal der liebebeseelten "Communio" ausgerichteten "inneren Ekklesialisierung"
der weltlichen Gesellschaft.
Von diesem Gesamtblick her skizziere ich im letzten Hauptteil (G.) mit
Baader verglichene Grundzüge der nach ihm einsetzenden Geschichte
der katholischen Soziallehre und der sie begleitenden Entwürfe zu
einer speziellen Sozialtheologie, um zuletzt vor allem in der kirchlichen
Lehre der Gegenwart manche bemerkenswerte Parallelen zu seinen sozialtheologischen
Ansätzen aufzuzeigen:
Von Franz Baader zum II. Vatikanischen Konzil.
Die vergleichbaren Punkte gründen weitgehend im neu gesehenen Verhältnis
von Kirche und Welt, das mit der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes
zum Durchbruch gekommenen ist.
Der Schluß enthält beiläufig Hinweise auf persönliche
Motivationen und empfangene Anstöße zu dieser Arbeit. Die Hauptintention
war, in komprimierter Form eine abschließende Zusammenfassung von
Baaders Gedanken des "christlich-sozialen Prinzips" vorzulegen, indem
ich seine im Untertitel versuchte Begriffsbestimmung expliziere:
Das christlich-soziale Prinzip besteht in der christlich vermittelten
Grundkraft der Liebe
als Gestaltungs- und Evolutions-Prinzip eines Sozialorganismus kommunikativer
Freiheit.
Als Buch erschienen
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