Schönstatt - Begegnungen

Das christlich-soziale Prinzip bei Franz von Baader

Vorstellung der Doktorarbeit von P. Erwin Hinder

Überarbeiteter und erweiterter Vortrag beim Empfang der Promotionsurkunde am 21.07.00

Meine Doktorarbeit handelt also über "das christlich-soziale Prinzip". Max Weber, der bekannte Soziologe schrieb seiner Zeit (1894) eine Buchrezension unter der Titelfrage: "Was heißt christlich-sozial?". Eine Frage, die heute wohl noch ebenso aktuell ist wie damals. Dieses Thema behandle ich in meiner Arbeit im Hinblick auf einen originellen Denker aus der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts: Franz von Baader. Er versuchte nicht nur eine der frühesten Antworten auf die genannte Frage, sondern gilt sogar als Schöpfer dieser Wortverbindung "christlich-sozial", wie er auch vom "christlich-sozialen Prinzip" spricht. Trotz solcher Verdienste wird ein ansehnlicher Teil auch der gebildeten Leute erst um Auskunft über Franz von Baader bitten, wenn da eine Dissertation über ihn vorgestellt werden soll. Wer ist dieser aus mancherlei Gründen ziemlich im Schatten verbliebene und doch sehr beachtenswerte Mann?

Zur Person F. v. Baaders:

Er lebte von 1765-1841. In München geboren blieb er dieser seiner Heimatstadt zeitlebens verbunden, wohnte und arbeitete die meiste Zeit in ihr. In der Nachfolge seines Vaters, einem praktizierenden Arzt, studierte er in jugendlichem Alter Medizin an der Universität Ingolstadt (wo auch seine beiden Brüder studierten). Hier ergaben sich auch erste Kontakte mit Michael Sailer. Der Ausübung des Arztberufs war seine sensible Veranlagung nicht gewachsen. So wandte er sich dem Bergbau und Hüttenwesen zu, besuchte die für diesen Fachbereich berühmte Akademie Freiberg im sächsischen Erzgebirge (1788-92) und absolvierte ein 31/2 jähriges Praktikum in England und Schottland. 1796 kehrte er nach München zurück, wurde Bergmeister und avancierte zum Oberbergmeister im Dienste Bayerns, das ihn in den Adelsstand erhob. Über all diese Jahre hin widmete er sich nebenher als eigenwilliger Autodidakt geisteswissenschaftlichen wie auch praktischen Studien, deren Ergebnisse er auch fleißig in zahlreichen Artikeln und Schriften veröffentlichte. Dieser seiner Lieblingsbeschäftigung kam seine Frühpensionierung entgegen (im Alter von 55 Jahren wegen Umstrukturierungen im bayerischen Berbau). So arbeitete er sich im Geiste des deutschen Idealismus und der Romantik zu einem Universalgelehrten empor, der mit vielen Geistesgrößen seiner Zeit im Gespräch war. Als 1826 König Ludwig I. die Universität München (durch die Verlegung der Uni. v. Landshut) gründete, wurde Baader (auf Empfehlung Sailers) noch als Sechzigjähriger zum Honorarprofessor an sie berufen (wo mit ihm u. a. auch Joseph Görres, F.W. Schelling, Ignaz Döllinger wirkten). Eine zeitlang beteiligte er sich auch aktiv am Münchner Romantiker Zirkel ("Görres-Kreis") und dessen Zeitschrift "Eos".

Baader war verheiratet und hatte zwei Kinder, ein aktiver Laien-Christ, wie sie die stark katholisch und sozial geprägte Spätromantik unter den Intellektuellen hervorbrachte. Baader war ein sprühender Geist, griff engagiert und mit intelligenter Polemik in den Streit der Zeit ein. Görres nannte ihn ein "Blitzgenie", für den frühen Schelling war er "ein von Natur unterirdischer Mensch", "eine lebendige, stets bewegliche und vollständige Persönlichkeit des Erkennens". – Zum Gesamtbild ist auch seine Begabung fürs empirisch-praktische Forschen zu erwähnen. Er gründete(1808) eine Glashütte und erfand eine neue Methode zur Glasherstellung, für deren Patent ihm die Österreichische Regierung soviel zahlte, daß er sich davon ein Schlößchen in Schwabing kaufen konnte.

Zum Horizont seines Denkens:

Wie viele Denker seiner Zeit erstrebte Baader eine Deutung oder Theorie der Gesamtwirklichkeit (Koslowski). In diese sieht er den Menschen, um dessen Bestimmung es ihm geht, so eingebunden, daß er seine Ganzheit (von Leib/Seele/Geist) und erfüllte Freiheit nur gewinnt, wenn er seine Beziehungen nach allen Seiten aktiv auf ihre Har-monie hin gestaltet: Zu Gott, dem transzendenten Grund alles Endlichen, zu sich, zu den Mit-menschen und zur untermenschlichen Natur. Dabei gilt für ihn:

"Wie der Mensch mit Gott steht, so steht er mit sich, mit andern Menschen, mit seiner und der übrigen Natur. Ist er mit Gott gespannt (unfrei, entzweit), so ist er es mit sich, mit Andern, mit der Natur" (15, 469).

Die Grundkraft, aus der diese Beziehungen zu gestalten sind, ist die Liebe, die wir von Gott, dem Urquell aller Liebe, empfangen. In diesem Rahmen entwickelt er die für ihn zentrale Philosophie und Theologie ("religiöse Philosophie") der Gesellschaft.

Das christlich-soziale Prinzip als Prinzip der Liebe und der Freiheit.

In der christlich verstandenen Liebe sieht Baader im Kern das christlich-soziale Prinzip gegeben. Diese Liebe schließt wesensgemäß die Freiheit mit ein, denn aus freiem Wollen geht sie hervor und nur in der wechselseitig Freiheit lassenden Beziehung kann sie Bestand haben. Auch die Vernunft bzw. die Vernünftigkeit des Wollens sieht er als Mitbedingung echter Liebe, die eben mehr ist als Gefühl und Leidenschaft. Das Bedingungsverhältnis gilt für ihn aber auch umgekehrt: Den Zugang zu gültiger Erkenntnis von Sinnwahrheit findet die Vernunft erst durch Glaube und Liebe, deren geistige Grundeinstellung ihre Sehbedingung ausmacht. Dem "cogito, ergo sum" von Descartes setzt Baader sein "cogitor (a Deo), ergo sum" (12,338) entgegen: ich werde gedacht, ich weiss mich gesehen und erkannt, also bin ich. In gewisser Hinsicht setzt er dem noch zuvor die vorreflexive Erfahrung des Existenzgrundes "ich bin gewollt, werde geliebt, also bin ich" – bin zu freien Liebesantwort gerufen und befähigt (vgl. 1,370; Diss. 383).

Betrachten wir noch etwas näher seinen für das christlich-soziale Prinzip konstitutiven Freiheitsbegriff. Das gesellschaftliche Zusammenleben mit den von ihm geforderten Rücksichtnahmen ist eine der tiefgreifendsten Herausforderungen an den praktischen Vollzug der Freiheit, wodurch auch ihr grundsätzliches Verständnis geprägt wird. Der vordringende Frühliberalismus, dem Baader begegnete, betrachtete soziale Rücksichten und staatliche Regelungen vornehmlich als lästige Einschränkungen der primär beanspruchten individuellen Freiheit, nach eigener Willkür zu agieren. Deren Begrenzung sollte sich daher mit dem allernötigsten Minimum begnügen und dem einzelnen die maximal mögliche Independenz seines Handelns gewähren. Zur Grenzziehung gegen den "homo homini Lupus" akzeptierte diese liberale Position nur die negative Norm: "dem andern keinen Schaden zufügen". Gegen dieses Konzept einer interpersonal gesehen rein "negativen Freiheit" wehrt sich Baader vehement indem er seinen Freiheitsbegriff geradezu in die umgekehrte Richtung wendet: Menschen werden innerlich und äußerlich nur frei, indem sie einander freimachen, d.h. einander positiv beistehen, zur freien Entfaltung verhelfen.

Das "Gesetz des Freiwerdens durch Freimachung" besagt, "daß kein Seiendes für sich frei wird oder ist, was nicht ein von sich Unterschiedenes frei macht oder erhält" (14,481).
Oder in einer etwas konkreteren Formulierung meint er, " daß es keineswegs genügt, daß einzelne Korporationen oder Individuen sich einander nicht hindern, frei zu sein [voneinander], sondern, daß sie sich hierzu positiv zu helfen haben" (14,81).

Dabei mahnt er immer wieder, das "Frei-sein" von jemandem oder von etwas, nicht mit dem "Los-Sein" oder "Getrennt-sein" von ihm zu verwechseln – realisiert sich das Freisein der Partner doch gerade in der seinsgemäßen organischen Verbundenheit. "Alle wahre Freiheit hat ihre Legitimität nur in der wechselseitigen Befreiung der in den Bund getretenen zu erweisen" (G139). Damit erscheint soziale Freiheit bereits von ihrem Wesen her als Praxis der Liebe. Demzufolge ist es seine Überzeugung, daß mit dem Hauptgebot der Gottes und Nächstenliebe " das Christentum ... als das Prinzip der bürgerlichen Freiheit oder wechselseitigen Befreiung der Menschen voneinander sich erweist" (G210; vgl. Diss. S. 79).

In der Zusammenschau von Baaders Gesellschaftslehre qualifiziere ich diese Freiheit mit dem neuerdings in verschiedenen Anwendungen aufgekommenen Begriff "kommunikativ", so daß man sagen kann "kommunikative Freiheit" stellt für ihn ein wesentliches Moment im Leitbild einer christlich geprägten Gesellschaft dar (vgl. Diss. 403f).

In sachlicher Nähe zum hier Thematisierten trägt eine Neuerscheinung von H. Bedford-Strohm den Titel: "Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit", Gütersloh 1999. Weiter zurückliegend ist mir der Ausdruck in Michael Theunissens Interpretation von Hegels Freiheitsbegriff aufgefallen: "Kommunikative Freiheit bedeutet, daß der eine den anderen nicht als Grenze, sondern als Bedingung der Möglichkeit seiner eigenen Selbstverwirklichung erfährt", und daß "Hegel ein In-Beziehung-Sein geltend [macht], das als Im-Anderen-bei-sich-selbst-Sein Freiheit und als Bei-sich-selbst-Sein im Anderen Liebe ist." In: M. Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt 1980 (stw 314), S. 46 u. 48f. (Vgl. Diss. 404 Anm. 2). Hierzu läßt sich zwischen den Zeitgenossen Hegel und Baader auch eine Brücke der Inspiration vermuten.

Mit dem längeren Untertitel, den ich meiner Arbeit gab, wollte ich eine Definition des christlich-sozialen Prinzips geben. Das zuletzt Gesagte erklärt ihren Schluß: daß dieses Prinzip den "Sozialorganismus kommunikativer Freiheit" hervorbringt.

Zum volleren Verständnis von Baaders Begriff der Freiheit und der zu ihr komplementären Liebe müßte man noch einen Blick auf seine athropologische Grundlegung werfen, auf die hier nur kurz hingewiesen werden kann. Das Realisieren zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher Freiheit setzt die "innere Freiheit" der beteiligten Subjekte voraus, die für Baader wiederum mit dem Erlangen der Liebesfähigkeit zusammenfällt. Sie resultiert nach ihm aus der Versöhnung und schöpferischen Verbindung der durch die (Erb-)Sünde entzweiten, d.h. vereinseitigten Urstrebungen der Hingabe und der Selbstbehauptung. Statt echter "Demut" wird aus dem entzweiten Hingabedrang "Servilismus", knechtisches Verhalten und satt "Erhabenheit" (gesunder Stolz, Ehrgefühl) wird aus dem isolierten Selbstsein-wollen "Hoffart", die sich gesellschaftlich in Herrschsucht, als "Despotimus" äußert. Statt dieser Fehlhaltungen, die das Sozialleben zersetzen, führt die Vermittlung der polaren Grundstrebungen zur Einheit von Demut und Erhabenheit in der Grundkraft der Liebe. Baader will plausibel machen, daß dieser aus innerer Versöhnung resultierende Gesinnungswandel zur sozialen Liebe nur mit göttlicher Hilfe durch die Vermittlung Jesu Christi als unserm Erlöser zu erlangen ist. Von dieser Tiefe her will er so den christlichen Charakter des Sozialprinzips begründen.

Damit wir mitvollziehen können, wie Baader die Wirkung des christlich-sozialen Prinzips weiter ausfaltet, seine gesellschaftsgestaltende Kraft auslegt, muß auch sein Begriff der Liebe noch etwas genauer betrachtet werden.

Auf einer ersten Ebene offenbart sich ihm die personale Liebe als ein Lebensvorgang, der die Liebenden, wie es offensichtlich ist, miteinander vereint, der aber zugleich, was nicht so offenkundig erscheint, die Eigenart und damit die Verschiedenheit der in Liebe verbundenen Personen verstärkt. Liebes-Einigung geht einher mit einem Prozeß der Differenzierung im Sinne einer intensivierten Personalisierung (die Baader auf seine Weise auf den Begriff bringt). Diese Sicht vertritt Baader auch aus dem Zusammenhang seiner umfassenderen Philosophie des Lebens, in der er herausstellt, daß das Vieleins eines lebendigen Organismus "nur unterscheidend sich eint, nur einend sich unterscheidet" (2,275) (vgl. Lambert Philosophie des Gebets, S. 30-42; diese Sicht Baaders zitiert Greshake: Der dreieine Gott, S.196). Statt Einebnung also optimale Profilierung der originellen Persönlichkeiten in ihrer Einigung zum "Wir" kraft der christlich verstandenen Liebe. Es gilt: "Je inniger die Verbindung ist, desto lebendiger tritt die Persönlichkeit hervor"! (8,73). Das Urbild dafür erkennt Baader im dreieinen Gott (vgl. ebd.; Diss. S. 67). Mit diesem Ansatz überwindet er zum vornherein die in der Neuzeit virulenten einseitigen Verabsolutierungen von Person (Individualismus) oder Gemeinschaft (Kollektivismus).

In der Weiterführung dieses Ansatzes sieht er auch die Lösung des gesellschaftlichen Problems der sozialen Ungleichheit, die nicht pauschal ungerechter Benachteiligung angekreidet werden kann, sondern auch eine unaufhebbare, augenfällige Realität darstellt. Bei allem notwendigen und möglichen Ausgleich im Namen der Gerechtigkeit bleiben unter uns Menschen soziale Unterschiede, die vielen auf den ersten Blick "ärgerlich" erscheinen, angefangen mit der Ungleichheit der Potenzen von Mann und Frau, alsdann von Erwachsenen und Kindern, "Hohen und Niedrigen" als im Vergleich zueinander Reichen und Armen, Herrschenden und Dienenden, Hochbegabten und minder Begabten usf. Die soziale Liebe vermag diese Verhältnisse innerlich (psychisch) und im äußeren Verhalten in versöhnte und fruchtbare Beziehungen zu erheben indem sie vor allen den "Großen" die Demut und den "Kleinen" den Stolz ihrer Würde bewahrt, die einen nicht "despotisch" und die andern nicht "servil" werden läßt. Der in einer Hinsicht reiche Mensch ist in einer anderen arm und umgekehrt der arme reich. Die einander würdigende Ungleichheit ermöglicht gerade den einander beschenkenden Lebensaustausch, aus dem das Glück der Liebe entspringt.

Die im Rahmen der elementaren Personenbeziehung aufgewiesene Komplementarität von Einigung und Unterscheidung überträgt Baader auch auf die umfassendere gesellschaftliche Ebene. Auf ihr soll beleuchtet werden, wie das christlich-soziale Prinzip in seiner Dynamik von Liebe und Freiheit das Verhältnis zwischen Großgesellschaften (des Staats, der Völker) und den in ihnen bestehenden und sich entwickelnden "Subsozietäten" von innen heraus strukturiert.

Der liberale Staat tendierte auf die exklusive Rechtsbeziehung zwischen der Regierungsmacht und den einzelnen Bürgern. Alle staatsunabhängigen Körperschaften, gesellschaftliche Zwischenglieder aufgrund freier Zusammenschlüsse verschiedenster Art (Berufsstände, Genossenschaften, Kulturvereine usf. und insbesondere auch die autonom und überstaatlich organisierte katholische Kirche) waren ihm nicht genehm.
Vereint mit der ganzen Bewegung der "Sozialromantik" und ihrem Sinn für organisch gewachsene Lebensgebilde (gegen bloß rational geplante Mechanismen) stritt Baader um den Erhalt staatsfreier Korporationen, denen er eine notwendige, die Freiheit sichernde Funktion, zuerkannte, war doch der isolierte einzelnen gegenüber dem mächtigen Staatsapparat zu wehrlos.

"Wenn die Aktion der obersten Macht unvermittelt auf das Individuum fällt, so wirkt sie notwendig erdrückend oder despotisch auf dasselbe, nicht aber, wenn dieses Individuum dieselbe Aktion als Glied eines Standes oder einer Korporation, somit vermittelt, erfährt" (5,290 vgl. Diss. S. 91f.)

So lieferte er durchdachte Begründungen zu Lebenswert und soziologischer Funktion von solch freier, innergesellschaftlicher Gliederung. Sie fußen im wesentlichen auf der schon namhaft gemachten Doppelwirkung der Liebe. Gegenüber großen Gesellschaftsgebilden sieht er sie dahingehend potenziert, daß in diesen ihr Streben zur Differenzierung, das dem Streben zur Vereinigung quasi dialektisch entgegenläuft, nicht nur, oder gar nicht unmittelbar die einzelnen Personen profiliert, sondern im Verein mit den Vorgegbenheiten menschlich-sozialer Existenz die erwähnte Aufgliederung in zahlreiche kleinere Gemeinschaften verschiedener Art und Umfänglichkeit hervorbringt und fördert. So begreift er in origineller Weise auch hier die Liebe sowohl als die vereinende als auch die zugleich "gliedernde" Kraft der Gesellschaft. "Die Liebe ist das eigentliche, organisierende oder gliedernde, die Mannigfaltigkeit oder Fülle in Einheit haltende, diese in Fülle verbreitende Prinzip" (14,85).

Und gerade dieses die Sozietät strukturierende Zusammenspiel von Vereinen und Gliedern, wie es aus dem christlichen Geist hervorgeht, begründet in eminenter Weise die Freiheit des sozialen Lebens. So sieht er es mit andern "organisch" denkenden Romantikern:
"Die Freiheit des sozialen Lebens ist so wie die des organischen Lebens überhaupt nur durch Gliederung (subordinierende und koordinierende Korporation) bedungen, und Fr. Schlegel bemerkt mit Recht, daß das sozial bildende, organisierende Prinzip kein anderes als das christliche, als das Innungsprinzip par excellence, ist" (G 240f).

Unerlöste, triebhafte "Liebe" vereint zwar konkrete Gruppen, trennt sie aber oft ebenso aggressiv von den fremden "Anderen". Die christliche Liebe ist demgegenüber zwar von universaler Weite, die keinen Menschen ausschließt, doch erstrebt sie auch keine uniforme Einheit. Sie realisiert sich konkret, eben in den geschöpflichen und geschichtlichen Kontexten (Familien, Interessengruppen, Völker usf.), bleibt aber zu den andern Gruppen offen: Sie trennt nicht, sondern "gliedert" – Glieder bleiben dem Ganzen verbunden. Zur wahren Liebe gehört auch die Ehrfurcht vor dem andern, die Achtung der Mitmenschen auch anderer Gruppen. Sie bejaht damit auch deren Eigenstand und will deren Originalität bewahrt sehen. Somit unterstützt die zur Einheit drängende Liebe zugleich auch die Verschiedenheit. Sie bestätigt und produziert selbst die vielfältige Untergliederung jeder größeren Gesellschaftseinheit, insbesondere diejenige des Staats, in dem Baader die wesentlich "politische Sozietät" sieht. Man könnte auch so sagen: Die aus natürlichen Antrieben sich bildenden gesellschaftlichen Gruppierungen (die von sich aus die Gesamtsozietät eher spalten) wollen je von der christlichen Freiheit und Liebe beseelt werden, damit sie einerseits in ihrer Gruppe zusammenhalten und zugleich auch die anderen Zusammenschlüsse bejahen und darüber hinaus offen und solidarisch bleiben zur je umfassenderen Sozietät der Nation, des Völkerbundes von Europa (von dem die Romantiker damals träumten) bis hin zur Menschheit insgesamt.

Damit sind die Themen des konkretisierenden zweiten Hauptkapitels meiner Arbeit angezeigt: Föderative Sozietäts-Gestaltung. Ich gebrauche hier für Baaders Konzept der Gesellschaftsgestaltung das Wort "föderativ", weil ich im Begriff des Föderalismus seine beiden eben umrissenen Komponenten der Untergliederung und der einigenden Solidarität – durch den im Wort (foedus) enthaltenen Bundesgedanken – miteinander verbunden sehe. Ausfaltend geht es um die korporativ gegliederte und gleichzeitig solidarisch geeinte Sozietät.

Insofern das christlich-soziale Prinzip die gesellschaftliche Gliederung aktiviert, die innerstaatlichen, gemeinschaftlichen Zwischenglieder fördert, sieht Baader in ihm eine teleologische Wirkkomponente am Werk, für die sich die Bezeichnung Korporationsprinzip nahe legt (die gemeinten Gemeinschaftsgebilde verallgemeinernd nennt Baader sie mit Vorzug "Corporationen" [in seiner Schreibweise mit "C"], spricht aber auch von Innungen, Assoziationen, Bünden, Ständen usw.).
Das komplementäre Streben nach Einigung und Zusammenhalt der Individuen und Gruppen, zur Eingliederung ins größere Ganze gründet im Solidaritätsprinzip.

An diesen Leitgedanken, wie sie sich aus der Analyse der Grundprinzipien (Hauptteil A.) ergeben haben, orientiert sich vorerst die weitere Ausarbeitung des christlich-sozialen Prinzips (Teil B.). Aus den Texten Baaders sucht sie zu erheben, wie er die Gestaltung der Gesellschaft aus dem Korporationsprinzip im Sinne der "gliedernden Liebe" (Kap. B.I.) und dem Solidaritätsprinzip im Sinne der vereinigenden Liebe (Kap. B.II.) näher bestimmt.

Diese Ausfaltung soll nur mit einigen Stichworten angedeutet werden:
Sie beginnt mit dem Kapitel über die "korporativ gegliederte Gesellschaft". Als erstes wird darin dargelegt, wie Baader die Korporationen dazu berufen sieht, "Träger des Geistes", "Schützer der Ehre" (ihrer Glieder), "Garanten der Freiheit" und unentbehrliche "Organe sozialer Dienste" zu sein. Nach der Bestimmung dieser Grundfunktionen wird die Bedeutung der ihm wichtigen konkreten Gesellschaftsglieder umrissen.
Die Eigenstand beanspruchende Gliederung der Gesellschaft beginnt mit Ehe und Familie (naturrechtlich und religiös-christlich gefordert), setzt sich nach Baader fort in Geburts- und Berufs-Ständen. Er verteidigt in konservativer Art die traditionellen Stände, ohne sich aber auf ihre Unveränderlichkeit festzulegen (wie seine Initiative für die Proletarier zeigt). Es geht im primär darum, daß das Gliederungsprinzip realisiert wird. Eine besonders herausragende Rolle kommt nach ihm der Kirche als "exemplarische Korporation" zu. Sie ist eine übernationale, weltständische Innung, ein Freiwilligkeits-Bund ohne zwingende Regierungsgewalt und steht im Dienste des menschgewordenen Gottes, "der höchsten Idee". Sie ist in sich selber nochmals korporativ bewegt, besonders durch die neben der hierarchischen Struktur (Diözese – Gemeinde) auflebenden Orden und Genossenschaften. Darum wirkt sie in der Verteidigung ihrer notwendigen Freiheit gegenüber dem Staat als Ferment und Wegbereiterin auch bürgerlicher Korporationen. Baader nennt sie daher "Corporation mère" (G273).
Nicht nur innerkirchlich, sondern auch "in bezug auf [bürgerliche] Sozialformen zeigt sich das christliche Prinzip allein wahrhaft befreiend, weil organisierend im tiefsten Sinne, darum der Bildung von Innungen, Korporationen, Ständen etc. günstig, hiermit die Sklavenlust sowie die Despotenlust tilgend" (2,289; Diss. S. 102). "Die Kirche als Korporation aller Korporationen [muß] diese alle begründen und assekurieren" (4,124).

In die Nähe der Kirche rücken die damals von Baader mehr erst postulierten als schon bestehenden internationalen "Korporationen des Geistes" nämlich der Wissenschaft und der Kunst (neben derjenigen der Religion, realisiert in der katholischen Weltkirche). Er wünschte sich einen Bund der je selbständigen "weltständischen" Vereinigungen der Priester, der Gelehrten und der Künstler (vgl. Diss. S. 108f.).

Das Kapitel über die "solidarisch geeinte Gesellschaft" (B.II.) beschäftigt sich weniger mit der Solidarität innerhalb der je besonderen Gemeinschaften (die schon durch die Einigungswirkung der Liebe zur Sprache kam), als vielmehr mit den nötigen und je eigengeprägten Solidaritätsbünden zwischen den Sozialpartnern innerhalb einer Sozietät beziehungsweise zwischen (Teil-)Sozietäten als selbständigen Partnern.

Bedeutsam ist, wie Baader seiner Zeit voraus das Verhältnis von Kirche und Staat als ein Bündnis freier Partner sehen möchte. Wichtig ist ihm die Solidarität von Regierung und Volk: nicht gegen-, sondern nur miteinander können sie das gemeinsame Wohl fördern. Und: Auch das Volk ist der Regierung gegenüber eine Repräsentation, eine Stimme Gottes. Im weiteren geht es um die Solidarität der verschiedenen Stände, und Korporationen und Gesellschaftsgruppen, um einen anzustrebenden Solidaritätsbund der kulturellen Weltinstitute wie auch der Völker untereinander, insbesondere der Nationalstaaten Europas.

In den Rahmen dieser Vision der verschiedenen Bündnisse gehört auch Baaders Anliegen einer solidarischen Einbindung der "Proletairs", zu welchen in seiner Zeit durch die aufkommende Industrialisierung die ausgebeuteten Lohnarbeiter geworden sind. Ihre elende Lage schürte den bösen Zwiespalt zwischen den Gesellschaftsklassen der armen Fabrikarbeiter und der reichen Kapitalisten als Fabrikherren. Zu dieser damals brisant gewordenen "sozialen Frage" der Industriearbeiter und eines schwelenden Klassenkampfs veröffentlichte Baader eine bemerkenswerte Stellungnahme, in der er mit der tieferen Deutung der Problemlage auch neue Lösungswege andachte. Es ist hervorzuheben, daß er damit schon 1834/35, mehr als ein Jahrzehnt vor Marx, auf die Not der "Proletarier" aufmerksam machte und als erster nicht nur ihre karitative (von Seiten der Kirche geübte) Linderung, sondern eine mit Hilfe des Staats herbeizuführende strukturelle Reform forderte, die den Arbeitern zu einem gerechten Lohn sowie zu angemessener Sicherheit und Würde eines Standes verhilft.

Die Grundanliegen der so umrissenen Sozialprinzipien der Solidarität und der korporativen Gliederung, in dem sachlich auch das später so genannte "Subsidiaritätsprinzip" enthalten ist, gingen als Erbe der romantischen Sozialtheorie auch in die spätere katholische Soziallehre ein. Die Begründungsansätze mit weitreichenden Konsequenzen für die Zielbilder gingen jedoch auseinander: Baader baute auf das Prinzip der christlichen Liebe – die katholische Soziallehre setzte (ausgehend von einem christlichen Menschenbild) auf die einklagbare Grundforderung der Gerechtigkeit, die im politischen Diskurs jedermann (auch Nichtchristen) durch naturrechtlich (seinsphilosophisch) begründete Vernunftargumente vermittelbar sein sollte. Beachtenswert erscheint mir, daß die vorliegende Herausarbeitung deutlich werden läßt, wie man von den zwei verschiedenen Ansätzen her zu den genannten, wenigstens in analoger Weise gleichgerichteten Sozialprinzipien gelangen kann: indem sie das eine mal durch philosophisch-theologische Reflexion als Konsequenzen der christlich verstandenen Liebe, das andere mal als naturrechtliche begründete ethische Forderungen sozialer Gerechtigkeit aufgewiesen werden.

Damit ist ein grundlegender Bereich der Auswirkungen des christlich-sozialen Prinzips skizziert. Doch zu seiner umfassenden Bestimmung fehlen noch einige seiner wichtigen Anwendungsfelder: So die Bedeutung des Prinzips für die Gestaltung der Wirtschaft (C.). Im Zusammenhang damit seine Rolle bei der Vermittlung menschlicher Kommunikation durch den Austausch materieller Gaben, der vom Handel mit Wirtschaftsgütern tiefer, bzw. höher führt zum persönlichen Einanderbeschenken bis zur gottmenschlichen Gabe der Eucharistie (D.). Und dann reflektiert Baader vor allem auch wie eine Sozietät mit ihren Lebenskräften und Strukturen im Fortgang der Zeit besteht und sich entwickelt (E.).

Im wirtschaftlich-humanen Bereich legt er besonderes Gewicht auf die Sozialverpflichtung des Eigentums, das er in einem sehr weiten Sinn versteht: Auch was ich vom Schöpfergott an Gaben empfangen habe, was mir durch Lebensumstände als "Talent" zufiel, ist bis zu einem gewissen Grade dem Gemeinwohl tributpflichtig, indem ich sie auch zu Gunsten meiner Nächsten, meiner engeren und weiteren Sozietät einsetze.

Gegenüber der zunehmenden Anonymisierung der Dienstleistungen und des wirtschaftlichen Güterverkehrs reklamiert er deren Dienlichkeit und heilsame Funktion zur Vermittlung personaler, ganzheitlicher, den Warenaustausch einbeziehender Kommunikation. "Gaben", selbst als Produkte die verkauft und gekauft werden, symbolisieren dem Empfänger den Geber. Besonders ereignet sich dieser Austausch beim gemeinsamen Mahl. Solch ganzheitlich vermittelte Gemeinschaft steigert sich nach Baader bis zur intensiven, "leibhaften Communio" (Teil D). Den höchsten Modellfall dafür sieht er im Sakrament der Eucharistie, in dem der Gottmensch sich selber in der materiellen Gabe des Brotes verschenkt und durch sie das Kommunizieren mit ihm und untereinander vermittelt. Auf niederer Ebene müßten wir, wie Baader meint, durch all unseren vielfältigen Güteraustausch in analoger Weise personale Beziehungen stiften und erhalten: Damit käme "das universale eucharistiche Prinzip" zum Tragen.

Das "christlich-soziale Prinzip" besteht in der christlich (durch Christus und die ihm in der Kirche angeeinten Christen) vermittelten Grundkraft der Liebe, insofern sie die Gesellschaft in den dargelegten Weisen gestaltet. Dabei macht der Untertitel der Dissertation darauf aufmerksam, daß sie nicht nur das "Gestaltungsprinzip" in Bezug auf die konstant bleibenden Formen der Gesellschaft, sondern auch deren "Evolutionsprinzip" ist (Teil E.).

Es ist der positive Verlauf des gesellschaftlichen Lebens in der geschichtlichen Zeit, der seiner organischen Fortentwicklung und seinen situativen Anforderungen entspricht, den Baader mit dem (religionsphilosophisch-geistesgeschichtlich verstandenen) Begriff der Evolution belegt. Er sieht also die Evolution einer Sozietät in deren organischem Wachstumsvorgang, der von ihren Subjekten in bewußt abwägender, die Zeit deutender Weise voranzubringen ist. Evolution richtet sich gegen konservative Versteinerung wie revolutionäre Auflösung. Sie fordert die ständige Vermittlung von Vergangenheit und anstehender Zukunft, von Bewahrung und Erneuerung, von liebender Rücksicht auf die Vorfahren und Verantwortung für die Nachkommen. Nach der Vorstellung Baaders kann das der Mensch nur leisten aus dem Standpunkt einer überzeitlichen Gegenwart: aus gläubiger, von Liebe bewegter Transzendenzerfahrung in Gebet und Tat, im Anschluß an Christus als das "Prinzip aller Entwicklung oder Aufsteigung" (5,364; Diss. S. 277). Das zeigt uns die dynamische, bis in die Endzeit hinzielende Dimension des christlich-sozialen Prinzips.

"So, wie für das Geschöpf eine Geschichte entstand, [ist] auch Gott aus Liebe zum Geschöpf in diese Geschichte eingegangen und [hat] sich selber als Evolutionsprinzip derselben, als leitender Genius der Menschheit und als ihr oberstes Gestirn kund gegeben" (14,111; Diss. S. 279).

Nach diesem Durchgang durch die verschiedenen Aspekte in Baaders Begriff des christlichen Sozialprinzips werfe ich in meiner Arbeit einen Blick auf das Ganze seiner "religiösen Sozialphilosophie" (Teil F.) mit einem besonderen Augenmerk auf ihren theologischen Charakters. Dessen Eigenart sehe ich in einer nicht institutionellen, sondern einer auf das Ideal der liebebeseelten "Communio" ausgerichteten "inneren Ekklesialisierung" der weltlichen Gesellschaft.

Von diesem Gesamtblick her skizziere ich im letzten Hauptteil (G.) mit Baader verglichene Grundzüge der nach ihm einsetzenden Geschichte der katholischen Soziallehre und der sie begleitenden Entwürfe zu einer speziellen Sozialtheologie, um zuletzt vor allem in der kirchlichen Lehre der Gegenwart manche bemerkenswerte Parallelen zu seinen sozialtheologischen Ansätzen aufzuzeigen:

Von Franz Baader zum II. Vatikanischen Konzil.

Die vergleichbaren Punkte gründen weitgehend im neu gesehenen Verhältnis von Kirche und Welt, das mit der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes zum Durchbruch gekommenen ist.

Der Schluß enthält beiläufig Hinweise auf persönliche Motivationen und empfangene Anstöße zu dieser Arbeit. Die Hauptintention war, in komprimierter Form eine abschließende Zusammenfassung von Baaders Gedanken des "christlich-sozialen Prinzips" vorzulegen, indem ich seine im Untertitel versuchte Begriffsbestimmung expliziere:

Das christlich-soziale Prinzip besteht in der christlich vermittelten Grundkraft der Liebe
als Gestaltungs- und Evolutions-Prinzip eines Sozialorganismus kommunikativer Freiheit.

 

Als Buch erschienen


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