Veröffentlicht am 2020-07-01 In Neue Gesellschaftsordnung, Themen - Meinungen

Die (un)erstrebenswerte Schönstatt-Utopie

Gonzalo Génova, Madrid, Spanien •

Die Bedeutung, die wir gemeinsam der Utopie geben, ist ambivalent. Einerseits bedeutet Utipie das Projekt einer erstrebenswerten Gesellschaft („eine neue Gesellschaftsordnung“), auch wenn dies schwierig oder unmöglich zu erreichen ist. Auf der anderen Seite haben Gesellschaften, die so getan haben, als hätten sie die Utopie erreicht, Merkmale, die sie offen gesagt sehr unerwünscht machen, vor allem wegen ihrer starken Tendenz zum Totalitarismus. Wenn wir heute also von Utopie sprechen, ist das Gefühl, das sie hervorruft, eher bittersüß: entweder Misstrauen gegenüber einem entmenschlichenden totalitären Projekt oder Frustration angesichts eines unerreichbaren Projekts, für das sich die Mühe nicht lohnt.  —

Eine neue Gesellschaftsordnung: danach streben wir, dafür sind wir geboren.
Josef Kentenich, Texte zum 20. Januar
Der Begriff „Utopie“ wurde vom Heiligen Thomas Morus erfunden, dem berühmten Humanisten und Politiker im England Heinrichs VIII., der 1535 als Lordkanzler des Königreichs als Märtyrer starb und des Hochverrats angeklagt wurde, weil er im Zuge der Entstehung der anglikanischen Kirche den antipapistischen Eid nicht geleistet hatte.

Utopia ist in der Tat der Titel seines berühmtesten Werkes, das 1516 veröffentlicht wurde und in dem er eine imaginäre Insel mit einem perfekten politischen, sozialen und rechtlichen System beschreibt, auf der Frieden und Gerechtigkeit herrschen. Morus prägte diesen griechischen Begriff für die Insel – was wörtlich Ou-topia (Οὐτοπεία) Nichtort, Nirgendwo – bedeutet, um eine ideale und daher nicht existierende Gesellschaft zu bezeichnen. Das Werk ist von Platons Republik inspiriert, die ebenfalls eine idealisierte Gesellschaft beschreibt. Im Laufe der Zeit ist der Begriff als Synonym für Perfektion oder unerreichbares Ziel populär geworden, obwohl Morus ihm diese Nuance in seinem Werk nicht explizit zuschreibt.

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Projekte, die enden – und Projekte, die nie enden

Bei menschlichen Projekten, die zuallererst durch ihren Zweck oder ihr Ziel definiert werden, können wir zwischen solchen unterscheiden, die einen spezifischen, geschlossenen Zweck haben, und solchen, deren Zweck immer offen bleibt. Bei den ersteren ist es möglich zu überprüfen, ob ihr Zweck erfüllt wurde, ob das Projekt zum Erfolg geführt hat. Man könnte sagen, das Paradigma eines geschlossenen Projektes ist die Konstruktion einer Maschine oder eines technologischen Gerätes. Ein wesentlicher Teil jedes Ingenieurprojekts besteht darin, eine Qualitätskontrolle durchführen zu können, d.h. zu überprüfen, ob das Gerät den Erwartungen entspricht, die an es gestellt wurden, ob es die zu Beginn des Projekts festgelegten Ziele erfüllt. Wenn das Projekt abgeschlossen ist, bleibt die Aufgabe, es an Ort und Stelle zu halten, damit es sich nicht verschlechtert: Die Straße bleibt auch bei Benutzung in gutem Zustand, das Kraftwerk produziert weiterhin Energie, der Tisch wackelt nicht.

Es gibt aber auch andere Arten von Projekten, die nicht a priori einen perfekt definierten und geschlossenen Zweck haben. Dies ist jedoch bis zu einem gewissen Grad paradox, denn wenn ich nicht überprüfen kann, ob die Ziele des Projekts erreicht wurden, in welchem Sinne kann ich dann sagen, dass es ein Projekt gibt? Wohin gehe ich, wenn ich keine Möglichkeit habe, zu überprüfen, ob ich angekommen bin?

Ich denke, es lohnt sich, diese Schwierigkeit näher zu untersuchen, denn die wichtigsten „Projekte“, mit denen wir es zu tun haben, sind genau solche, die offen sind. Um den Unterschied deutlicher zu sehen, denken wir an ein pädagogisches Projekt, das in der Unterweisung in bestimmten Fertigkeiten besteht: Da die Ziele des Projekts klar sind, ist es möglich, formell zu bewerten, ob die Schülerinnen und Schüler diese erreicht haben oder nicht, das hei’t, ob sie bereits „kompetent“ sind: Sie haben gelernt, Auto zu fahren, eine bestimmte Kategorie mathematischer Probleme zu lösen, diese gymnastische Übung durchzuführen. Andererseits kann man bei einem ganzheitlichen Bildungsprojekt – das nie nur Instruktion ist – nicht sagen, dass das Ziel erreicht ist, denn wir sind immer offen für weiteres Wachstum.

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Das Ziel persönlicher und sozialer Projekte

Etwas ganz Analoges geschieht bei einem persönlichen, familiären oder gemeinschaftlichen Projekt: das persönliche Ideal, das wir als Schönstätter suchen und formulieren, das Ehe-Ideal oder das Gemeinschafts-Ideal sind keine in diesem Leben, in der Zeit der Geschichte erreichbaren Ziel. Und dies kann uns helfen zu verstehen, dass das Ideal einer perfekten Gesellschaft, einer „neuen sozialen Ordnung“ – die notwendigerweise die christlich-ökologische Perspektive einschließen wird – innerhalb der Geschichte auch nicht erreichbar sein wird. Aber ist es dann nicht frustrierend, ein Ziel vorzuschlagen, von dem man weiss, dass es nie erreicht werden wird? Warum sollte man sich anstrengen?

 

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Betrachten wir es anders

Wenn wir die Gesellschaft selbst, die Gesamtheit der sozialen Strukturen, als ein von uns projektiertes, entworfenes und gebautes Artefakt mit überprüfbaren Zielen betrachten, als wäre sie eine Maschine (social engineering), was wird dann geschehen, wenn wir diese Ziele erreicht haben? Es scheint klar zu sein: so wie es bei mechanischen Artefakten geschieht, wird es notwendig sein, eine strenge Qualitätskontrolle aufrechtzuerhalten, damit die Gesellschaft innerhalb der Grenzen dessen bleibt, was projiziert wird. Es würde das Ende der Geschichte sein, das Einfrieren der Zeit, die Beseitigung aller menschlichen Kreativität, der Tod des Geistes. Wir haben es in so vielen bereits klassischen Werken der Belletristik gesehen, die die Dystopie (ein Begriff, der bewusst als Antonym zur Utopie erfunden wurde) zeigen: Schöne neue Welt von Aldous Huxley; 1984 von George Orwell; Fahrenheit 451 von Ray Bradbury.

Mit anderen Worten: Der Versuch, eine soziale Utopie innerhalb der Geschichte zu erreichen, kann die Falle der totalitären Unterdrückung der Freiheit nicht vermeiden. Utopie zu erreichen, bedeutet, in eine Dystopie zu verfallen. Die Unerreichbarkeit des Ziels ist daher nicht etwas Negatives, sondern etwas Positives, denn sie lässt die Tür offen für eine kontinuierliche Verbesserung, als Frucht der freien menschlichen Initiative, hin zu einem Ziel, das immer „meta-„, „jenseits“ ist.

 

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Utopie ist daher nicht erstrebenswert: entweder weil sie unerreichbar und frustrierend ist, oder weil sie erreichbar und totalitär ist. Aber als Inspiration ist die Utopie in der Tat erstrebenswert.

Mit anderen Worten: Selbst wenn das Ziel unerreichbar ist, gibt die Utopie die Richtung vor, in die man gehen soll. Wir können uns verbessern, wir können wachsen, wir können uns dem Ziel nähern, auch wenn es nie ganz „unser“ sein wird: Die Fülle, zu der wir berufen sind, bleibt immer offen, wie der Horizont, auf den wir immer zugehen, ohne ihn je zu erreichen. Die Verbesserung ist real, wenn auch nie vollständig und perfekt, deshalb gehen wir weiter. Die perfekte Gesellschaft, die „neue Gesellschaftsordnung“, ist in dieser Welt, innerhalb der Geschichte, nicht erreichbar. Sie ist außerhalb der Zeit, „bei Gott“ (apud Deum).

 

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Original: Spanisch. Übersetzung: Maria Fischer @schoenstatt.org

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