Veröffentlicht am 2020-04-09 In Solidarisches Liebesbündnis in Zeiten von Coronavirus, Themen - Meinungen

Karfreitag – der Preis der Versöhnung

MEDITATION ZUM KARFREITAG 2020, P. Elmar Busse •

Viele von Ihnen haben vielleicht vor der Schließung der Läden noch Spiele gekauft, um die Zeit mit den Kindern in den eigenen vier Wänden schön zu gestalten. Manche holen auch die Kartons mit den Riesenpuzzles mit 1500 oder mehr Teilen aus dem Regal, für die man sich noch nie die Zeit genommen hatte. Puzzle – ein Klassiker. Wir sind aber nicht nur mit Puzzeln beschäftigt, wenn wir Bildkärtchen zusammenfügen. Weil wir Sinnsucher sind, steckt in jedem von uns die Sehnsucht, aus den vielen kleinen Puzzle-Erlebnissen eines jeden Tages ein großes Ganzes mit Sinn zusammenzusetzen. Der strategische Nachteil: Wir haben kein Gesamtbild, was aus den Einzelteilen zusammengesetzt werden könnte. Wir sind auf Intuition, auf Ahnungen angewiesen. Auch am Karfreitag 2020. Wie an jedem Karfreitag, wenn wir fragen: Was für einen Sinn machte das qualvolle Sterben Jesu?—

Älteren Generationen ist der Sinnschlüssel des Opfers oder der Sühne noch vertraut. Diese Sinnschlüssel haben nur die verhängnisvolle Nebenwirkung, dass Gott-Vater in schlechtes Licht gerückt wird: Hat er so etwas nötig? Pater Kentenich, der ein ausgesprochener Liebhaber der Freiheit war, ließ diese traditionellen Sinnschlüssel durchaus gelten, aber sah im Karfreitagsgeschehen die Vereinbarkeit von der Ehrfurcht Gottes vor der Freiheit, die er dem Menschen gegeben hatte, und seiner Allmacht, die er in den Dienst seiner unendlich barmherzigen Liebe gestellt hatte.

„Ich lasse mir die Liebe zu Dir von keinem kaputtmachen – erst recht nicht von Dir!“

„Ich lasse mir die Liebe zu Dir von keinem kaputtmachen – erst recht nicht von Dir!“ – So schrie eine Frau ihren Mann an. Worum es eigentlich ging und was der Anlass dieses eskalierenden Streites eigentlich war – daran konnten sich beide nicht mehr erinnern.

Ist das nicht eine wunderbare Aussage, die diese Frau ihrem Mann an den Kopf geschleudert hatte? Was ihr da so spontan rausgerutscht war, zeugte von einer inneren Freiheit und Selbständigkeit. In der Verliebtheitsphase hatten beide auf die Vorzüge, auf die tatsächlichen und die vermeintlich vorhandenen reagiert, weil jeder davon träumte, den Märchenprinzen oder die Märchenprinzessin gefunden zu haben. Der sprichwörtliche Funke war übergesprungen. Aber beiden war schon vor der Hochzeit klar geworden, dass Liebe etwas anderes ist als Verliebtheit. Letztere begnügt sich mit dem Reagieren, aber reife Liebe hat etwas mit Entscheidung zu tun. „Ich will dich lieben, achten und ehren.“ – Das wollten sie sich am Traualtar versprechen. Und im Jugend-Bibelkreis war ihnen das Wort Jesu von der Feindesliebe stark in die Seele gefallen: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.“ (Mt 5,44-47)

Also nicht im Reagieren steckenbleiben, sondern proaktiv sein. Das war das neue Wort, das damals in die Jugendclique zum Modewort geworden war.

Feindesliebe in den eigenen vier Wänden?

Dann kam der Ehevorbereitungskurs. Innerlich zu bejahen, dass die Ehe der alltägliche Trainingsraum für die Feindesliebe sein sollte – das verschlug doch beiden zunächst den Atem. Doch es war auch schnell nachvollziehbar: Der, der mir am nächsten steht, wird auch der sein, der mich am häufigsten und vielleicht auch am tiefsten verletzt. Das ist nun mal  der Preis für körperlich-seelische Nähe.

Es ist ähnlich wie in der Tanzstunde: Man tritt sich beim Paartanz auf die Füße – gar nicht mal, weil man böse ist und dem anderen wehtun möchte, sondern aus Ungeschicklichkeit, mangelnder Flexibilität und mangelnder Koordinierung der Füße und Beine.

Wer nach einer Verletzung durch den Partner sich gleich in die Opferrolle flüchtet und aus dem Opfersein moralischen Gewinn herauslutscht, dem fällt es schwerer, dem anderen zu vergeben und in der Beziehung sozusagen den Reset-Knopf zu drücken.

Vergeben fällt leichter, wenn man den Selbstheilungskräften der Seele traut. Denn diese hat sie, genau wie der Körper. Wenn ich als Kind mir das Knie aufgeschlagen hatte, wurde die Wunde desinfiziert und je nach Größe mit einem Pflaster oder einem Verband versorgt. Wenn nach ein paar Tagen das Pflaster abgemacht wurde, dann war es für mich verlockend, den Schorf von der Wunde zu kratzen. Dann fing die Wunde wieder an zu bluten. Wenn ich dabei erwischt wurde, bekam ich was auf die Finger: „Lass das! Sonst holst Du Dir mit deinen dreckigen Fingernägeln noch eine Blutvergiftung!“ Tatsächlich war nach einiger Zeit das Knie verheilt. Den Selbstheilungskräften der Seele trauen und nicht im Selbstmitleid steckenbleiben und immer wieder die alte Wunde aufreißen aus verletztem Gerechtigkeitssinn oder was es auch gewesen sein mag.

Wer den Selbstheilungskräften seiner Seele traut, darf erleben, dass Wunden vernarben.

Die Initiative an sich reißen

„Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halt ihm auch die andere hin.“ oder „Wenn einer dich zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, gehe zwei mit ihm.“ – Da sagt Jesus nicht: „Lass dir immer alles gefallen!“, sondern Jesus sagt in dem Moment, dass es Situationen gibt, in denen man eindeutig in der Opferposition ist oder eindeutig die eigene Ohnmacht spürt und nicht angreifen bzw. weglaufen kann.

Diese Ohnmacht nagt an deinem Selbstwertgefühl und du fragst dich, wie du aus dieser Situation herauskommen kannst. Da gibt es nur eine Möglichkeit, nämlich reiße die Initiative an dich, d. h. die Initiative geht vom Täter auf das Opfer über. Du hast nur die Möglichkeit, mehr zu tun in die Richtung, aus der der Druck geschieht, aber nicht in die entgegengesetzte. Wenn du mehr tust als das, wozu du gezwungen wirst, geht die Initiative auf dich über.

Gereon Goldmann, der Lumpensammler von Tokio, ist öfters  mit einer Sparbüchse in eine Hafenspelunke zum Sammeln gegangen. Einmal hat ihn jemand angespuckt. Er blieb ganz ruhig und meinte: „Das war für mich, und jetzt will ich noch etwas für meine Armen!“ Der andere war so verdattert, dass er tatsächlich etwas spendete. Das ist keine Schwäche, das ist Stärke, so reagieren zu können.

Oder im Prozess Jesu: „Hab’ ich unrecht geredet, dann weis es mir nach, hab’ ich recht geredet, warum schlägst du mich?“ Das Leiden Jesu können wir nicht interpretieren als: Da ließ sich einer immer alles gefallen. – Sonst hätte er früher nicht ausweichen können, das hat er ja auch gemacht; oder durch geschickte Fragen die Leute aufs Glatteis geführt.

„Projekt Erlösung gescheitert. Ihr seid zu blöd dazu.“

Der große Konflikt, den Jesus hatte, war, „Was mache ich jetzt als Gottes Sohn, als Erlöser, wenn die Menschen mich ablehnen?“  Er hätte ja  – wir spielen das mal durch – an Gründonnerstag sagen können: „Projekt Erlösung gescheitert. Ihr seid zu blöd dazu. Jetzt mach ich mit euch noch ein Abschiedsmahl und dann ab in den Himmel. Macht doch euren Dreck hier allein…“

Das wäre denkbar gewesen. Dann wäre aber die Dummheit und Bosheit der Menschen stärker gewesen als das JA Gottes zu den Menschen, diese seine Erlösungsbereitschaft. In dem Moment hat Christus keine andere Wahl mehr, wollte er seinen Erlösungsplan aufrechterhalten. Er wollte beweisen: Meine Liebe ist größer als eure Dummheit und Bosheit! Aber gleichzeitig hält er den Respekt vor der Freiheit des Menschen aufrecht. Dazu hat sich Gott verpflichtet, als er den Menschen am Schöpfungsmorgen Freiheit gegeben hat. Dann muss er sie auch respektieren.

Unter diesen Umständen blieb Christus nichts anderes übrig als zu akzeptieren, dass er körperlich vernichtet wird. Ihr könnt mich ablehnen, ihr könnt mich töten, aber ihr könnt eines nicht: Ihr schafft es nicht, dass ich NEIN zu euch sage. Das ist der tiefe Sinn. Das JA Gottes ist stärker als die Bosheit und Dummheit der Menschen.

Er kann nicht anders als JA zum Menschen sagen. Dieses JA Gottes respektiert gleichzeitig in großer Ehrfurcht die Freiheit, die Gott dem Menschen gegeben hat.

In dem Moment, in dem der sündige Mensch Gott ablehnt, lässt Jesus eben nicht seine Allmacht spielen und offenbart seine Herrlichkeit. So hätten es die Pharisäer gern gehabt: „Steig herab vom Kreuz, dann wollen wir gerne an dich glauben.“ Machs uns doch möglichst billig. Manipulier uns doch! Das macht Jesus nicht, und damit hat er uns erlöst.

Stärker als die Dummheit und Bosheit der Menschen

Sein JA zu uns war stärker als die Dummheit und Bosheit der Menschen. Mit seinem durchgehaltenen JA hat er eine Brücke gebaut über den Abgrund des NEIN, von dem wir uns mal mehr, mal weniger stark umgeben fühlen. „Das Ich, das wahrhaft liebt, geht aus sich heraus, um bei Gott und bei seinem Nächsten zu wohnen, und erst dann ist es wirklich zu Hause. Wo dies geschieht, sind wir aus dem Land der Ichbezogenheit über die Brücke in das Land der echten, erfüllenden Großherzigkeit gegangen“ (Miroslav Volf).[i] Solche Momente gehören auch zur Vergebung. Vergeben tut auch weh. Das JA zu dem aufrecht zu erhalten, der mich verletzt, das ist nichts für schwache Typen. Das tut weh! Aber wir müssen uns sagen: „Das halt ich aus. Ich lasse mich von dir nicht in die Defensive treiben.“

Kommen wir wieder zurück zu dem Aufschrei am Anfang: „Ich lasse mir meine Liebe zu Dir von keinem kaputtmachen, erst recht nicht von Dir!“

Am Karfreitag dürfen wir mit Staunen und Schaudern neu zur Kenntnis nehmen, mit welcher Radikalität und mit welcher inneren Freiheit Jesus das verwirklicht hat.Paulus kann im Römerbrief drastisch formulieren: „Wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden.“ (Röm 5,20) Und für die, die sich selbst ihr Versagen nicht verzeihen können, schreibt Johannes: „Denn wenn das Herz uns auch verurteilt – Gott ist größer als unser Herz, und er weiß alles.“ (1 Joh 3,20)

Es gibt keine Alternative zur Vergebung, wenn Zukunft möglich sein soll. Nur wer vergeben kann, kann auch treu sein, d.h. sein JA vom Anfang auch durchhalten.

So ist das Gedenken am Karfreitag geprägt von dem hohen Preis, den Gott bereit war zu zahlen, um sein JA zu uns Menschen durchzuhalten.
Und der Karfreitag ist eine Ermutigung: Mit seiner Unterstützung, mit seiner Gnade sind auch wir in der Lage, unser JA durchzuhalten und immer wieder zu erneuern. „Verdient hast du es nicht, aber brauchen tust du es!“ – Dieser Kommentar begleitete die Umarmung, die eine Mutter ihrem kleinen Übeltäter schenkte. Damit hatte er nicht gerechnet.

Eine neue Kultur der Barmherzigkeit

Der Theologe Reinhold Bärenz erzählt ein Erlebnis aus seiner Kindheit: Als Achtjährigen schickte ihn seine Mutter in den Dorfladen zum Einkauf. In der Warteschlange im Laden stand er neben dem Korb mit den Zuckerbrotstückchen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und steckte ein Stückchen in seine Hosentasche. Es fiel nicht auf. Zu Hause legte er seinen Schatz aufs Nachtschränkchen. Völlig unerwartet trat die Mutter ein, ihr Blick fiel auf das Gebäckstück und sofort kam die Frage: „Woher hast Du das?“ – Da konnte er nicht anders als ihr die Wahrheit zu sagen. Die Mutter darauf: „Das musst du sofort zu Paula – so hieß die Ladeninhaberin – zurückbringen.“ Der Weg zurück zum Laden war unendlich lang. Er wartete bis die letzten Kunden den Laden verlassen hatten. Dann betrat er den Laden. Vor Paula stehend  öffnete er seine rechte Hand mit dem Zuckerbrotstück und streckte sie ihr hin. Dabei waren seine Augen auf den Boden gerichtet. Dann schaute er zu Paula auf, wie sie reagieren würde. Paula trat hinter ihrem Ladentisch hervor, fasste ihn an der linken Hand und führte ihn schweigend zum Tatort. Dann nahm sie selber ein zweites Stück Zuckerbrot, legte es in seine linke Hand, und führte die beiden Hände des Jungen zusammen. Eine Geste, die ihm bestens vertraut war aus der Zeit, als seine Mutter ihn beten lehrte. – Reinhold deutete dieses Erlebnis als überraschende Erfahrung, dass die Gnade Gottes keine Grenzen kennt.[ii]

Kentenich umschreibt eine solche Erfahrung mit: „Die Bruchstelle in der Natur wird zur Einbruchstelle der Gnade.“

Lassen wir uns also von dem radikalen JA des Gottmenschen, wie es am Karfreitag sichtbar wurde, berühren und ermutigen! Die Ehe ist tatsächlich der alltägliche Raum der Feindesliebe. Die Frucht dieses Trainings ist eine größere innere Freiheit, die Überwindung des Selbstmitleids und eine neue Kultur der Barmherzigkeit. Dieses Mikroklima in unseren eigenen vier Wänden tut letztendlich allen gut, uns den Bewohnern, aber auch den Gästen,die uns hoffentlich bald wieder besuchen dürfen.

Foto: Cathopic

[i] Miroslav Volf, Umsonst. Geben und Vergeben in einer gnadenlosen Kultur. Brunnen-Vlg Wetzlar 2012, S.64.
[ii] Reinhold Bärenz, Wann essen die Jünger? Die Kunst gelassener Seelsorge. Herder-Vlg. Freiburg 2008, S.12f.

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