Veröffentlicht am 2015-10-21 In Schönstätter

Herausgefordert

Die Geburt ihres ersten Kindes vor 42 Jahren hat das gesamte Leben von Familie V. aus der Familienbewegung Schönstatts in Deutschland in völlig andere Bahnen gelenkt, als sie sich erträumt hatten. Ihr Sohn Martin wurde mit einer Fehlbildung der Wirbelsäule geboren und leidet an einer geistigen Behinderung. Der Vater berichtet über den Familienalltag, der bis heute immer wieder Entscheidungen fordert und das Gottvertrauen prüft •

Warum wir?

Es gibt Ereignisse im Leben, die fordern uns heraus, die verändern alles. Wenn diese oft leidvollen Dinge eintreten, fragen wir uns: Warum das jetzt? Warum ich? Warum wir?

Die Worte des Arztes trafen mich damals wie ein Hammerschlag: „Ihr Sohn wird nie laufen können. Er ist querschnittsgelähmt mit allen Folgen. Ein Teil der Wirbelsäule ist nicht geschlossen. Wir nennen das „Spina bifida“. Die offene Stelle am Rücken haben wir jetzt operativ verschlossen, zur Ableitung des Hirnwassers benötigt er zu einem späteren Zeitpunkt noch ein spezielles Pumpsystem.“ Wir waren geschockt, fassungslos, hilflos und unendlich traurig. Und die Fragen kamen: warum grade wir? Warum bekommen Andere gesunde Kinder? Wir hörten das Schreien der Neugeborenen auf der Station. Das tat entsetzlich weh, vor allem meiner Frau.

In den Tagen darauf versuchten wir uns gegenseitig Mut zu machen: Zusammen schaffen wir das. Wir sind ja stark, unsere Liebe macht uns stark. Bald kam auch der Gedanke: Vielleicht hat Gott ja Menschen gesucht, denen er dieses Kind anvertrauen wollte, und die Wahl ist dann auf uns gefallen.

Nichts ist selbstverständlich

Und so trat Gott für uns konkret in unser Leben. Sein Anspruch an uns war zwar eine Herausforderung, aber wir wollten sie annehmen. Unser Sohn sollte all unsere Liebe bekommen, die er braucht, um glücklich zu sein.

Zunächst stabilisierte sich die Gesundheit unseres Kindes. Nachdem Martin aus der Klinik entlassen war, wurde er an seinem Namenstag getauft. Immer wieder gab es kritische Momente und sein Leben hing an einem „seidenen Faden“. Zu der körperlichen Behinderung kam eine geistige Entwicklungsstörung mit Epilepsie hinzu. Immer wieder erlebten wir unsere Hilf- und Machtlosigkeit.

Spätestens da wurde der Glaube unsere große Stütze. Wir begannen mit- und füreinander zu beten, auch als Ehepaar. Selbst in fast aussichtslosen Situationen traten manchmal unerwartete Wendungen ein. Für uns waren selbst die kleinsten positiven Schritte in der Entwicklung unseres Sohnes Zeichen Gottes, denn für uns war nichts mehr selbstverständlich. Das Vertrauen in Gottes Führung wuchs. Wir waren einfach nur dankbar und hofften weiter. Es gab Menschen, die uns zuhörten, und die sagten, wir beten für euch. Das machte uns Mut und gab uns Kraft.

Wir konnten ein geräumiges, barrierefreies Haus erwerben, das genau auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten war. In dieses Haus zogen dann auch die Großeltern mit ein, in eine eigene Wohnung. Das war ursprünglich nicht so geplant, erwies sich aber in der Folgezeit als eine große Hilfe. Wir konnten ihnen Martin anvertrauen, um dann auch einmal etwas für uns zu unternehmen. Meine Eltern halfen meiner Frau auch bei den vielen Fahrten zu Ärzten und Therapeuten.

Als Martin dann in den Kindergarten für Kinder mit Behinderungen kam, wurde es bei uns zu Hause einfacher. Da kam der Gedanke auf, er solle kein Einzelkind bleiben. Unser Kinderarzt machte uns Mut und wies darauf hin, dass sich seine Fehlbildung nur in den seltensten Fällen wiederholen könnte. So bekamen wir in der Folgezeit noch drei weitere Kinder, und wir konnten auch die großen Gefühle, die mit der Geburt von gesunden Kindern verbunden sind, nacherleben. Die häufigste Frage, die uns in diesem Zusammenhang gestellt wurde war: Habt ihr keine Angst? Ja, wir hatten Angst, bei jeder weiteren Schwangerschaft. Doch das Vertrauen darauf, dass wir die Hilfe bekommen, die wir brauchten, war stärker und half uns, diese Ängste und Sorgen zu bewältigen.

Der besondere Familienalltag

Neben der Versorgung und der Erziehung der gesunden Kinder blieb die Versorgung und Pflege unseres Sohnes, der mit der Zeit immer größer und schwerer wurde. An Ausruhen und Entspannen war kaum zu denken. Wir waren gefordert, oft auch überfordert. Martin lebt heute wie damals in seiner eigenen Welt. Durch die geistige Behinderung konnte er sich nicht so schnell auf Veränderungen einstellen und sei es nur, wenn er pflegerisch versorgt werden sollte und gerade dabei war, etwas zu spielen. Da reagierte er oft aggressiv und brauchte immer eine gewisse Zeit, um sich wieder zu beruhigen. Als Einschränkung haben wir auch erlebt, dass wir nicht immer alles gemeinsam als Familie unternehmen konnten. Damit aber alle Kinder auf ihre Kosten kamen, haben wir uns als Eltern oft aufgeteilt. Der eine Partner übernahm die drei Mädchen, der andere kümmerte sich um Martin.

Wir nutzten alle Hilfe, die angeboten wurde. In den Ferien suchten wir entsprechende Unterkünfte, so dass wir Martin mitnehmen konnten. Unsere anderen Kinder sagen heute, dass sie trotz allem eine unbeschwerte Kindheit hatten. Sicher registrierten sie, dass bei uns einiges anders lief als in „normalen“ Familien, aber das störte sie nicht. Martin ist für sie immer noch der große Bruder. Als unsere Töchter später Verantwortung übernehmen konnten, schoben sie Martin in die Stadt zum Eis essen oder gingen gemeinsam mit ihm ins Kino. Sie blieben auch ruhig, selbst wenn ihn die Epilepsie fast aus dem Rollstuhl warf. Wir ermutigten unsere Kinder, ihre Freunde und Freundinnen mit zu uns nach Hause zu bringen. So war unser Haus immer ein Haus der offenen Tür. Unsere Kinder wissen, dass Menschen auch anders sein können und haben gelernt, mit solchen andersartigen Menschen ohne Berührungsängste umzugehen.

Das Loslassen tat weh

Nach der Schule wollte keine Werkstatt Martin übernehmen. Uns war aber klar, dass wir keine Ganztagsbetreuung unseres Sohnes schaffen und dabei den mittlerweile schulpflichtigen Mädchen gerecht werden können. Als wir endlich eine Einrichtung, gefunden hatten, war es nicht leicht für uns. Wir hatten zunächst doch viele Vorbehalte und Bedenken. Wird er sich dort zurechtfinden? Wird das Betreuungspersonal mit ihm klarkommen? Das Loslassen fiel uns schwer und wir mussten Gelassenheit üben und immer wieder vertrauen, dass es gut wird. Martin in fremde Hände zu geben war immer ein schmerzlicher Prozess. Seine vielen Krankenhausaufenthalte haben bei ihm bleibende Ängste hinterlassen, bis heute.

Martin hängt mit einer kindlichen Liebe immer noch an Mama und Papa, obwohl er inzwischen 42 Jahre alt ist. Er kommt in der Einrichtung für pflegebedürftige behinderte Menschen recht gut zurecht und genießt Freiheiten, die wir ihm zu Hause nicht ermöglichen können. So oft es geht besuchen wir ihn oder holen ihn für ein paar Tage nach Hause.

Gott greift ein

Unser Sohn ist im Grunde ein fröhlicher Mensch und dafür lieben ihn alle. Seine Geschwister wissen ihn zu nehmen und machen sich viele Gedanken, wie sie ihn immer wieder glücklich machen können.

Wenn wir zurück blicken, war die Geburt dieses besonderen Kindes ein Schlüsselerlebnis für uns. Durch Martin hat Gott an unsere Tür geklopft. Er hat uns eingeladen ihm zu folgen, und wir haben uns darauf eingelassen. Heute sind wir überzeugt: Gott greift ein. Er ruft uns in seine Nähe. Er will verändern, er liebt uns, er will das Beste für uns. Wir sind vielen Menschen begegnet, die mit uns gehen und uns mittragen. Wir haben gelernt, als Eheleute miteinander zu reden und unser Leben gemeinsam zu reflektieren. Das gibt uns Kraft für unseren Alltag und hilft uns, mit den Sorgen und Belastungen besser umzugehen und trotz allem ein glückliches Ehepaar zu bleiben.

M. V.

Martin mit seinen Schwestern

Quelle: Unser Weg, Zeitschrift der Schönstatt-Familienbewegung in Deutschland, www.unserweg.com

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