Schnittblumen Anschnitt

Veröffentlicht am 2023-05-28 In Kentenich

Ein anderer Blick auf Pater Kentenich: Schnittblumen-Experte

P. Elmar Busse •

Wenn man mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse der Kommunikationswissenschaft oder der Keyword-Recherche aus dem Marketing an die Veröffentlichungen über P. Josef Kentenich geht, dann findet man als Bildmarke oder Logo Kentenich den schneeweißen Rauschebart, als Keywords: „baldige Heiligsprechung“, „immer“, und seit 2020: „Missbrauch“. Wir möchten in der folgenden Artikelserie einen anderen Blick auf Kentenich werfen– weder den auf den Nikolaus mit Rauschebart noch den auf den Heiligsprechungskandidaten, aber auch nicht nur den auf den des Machtmissbrauchs oder geistlichen Missbrauchs Verdächtigten. —

Nach der sehr positiven Resonanz auf vor ca. 30 Jahren verfasste und leicht aktualisierte Texte von P. Elmar Busse hat ihn dazu motiviert, im gleichen Stil weitere „andere Blicke“ auf Pater Kentenich vorzustellen, verfasst in diesem Jahr 2023. Wir erhoffen uns auch mit diesen neuen Texten, jenseits der gängigen Attributionen einen neuen, lebendigen Blick auf die vielschichtige Gründergestalt zu ermöglichen und dadurch die Neugier zu wecken, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen. Wir meinen: Es lohnt sich!

Verwelkt

Ein paar Tage nach meinem Geburtstag musste ich die Rosen aus den geschenkten Blumensträußen herausziehen, weil sie vertrocknet waren. Die oberen grünen Blätter zerbröselten regelrecht unter meinen Fingern, die Blütenblätter hingen schlaff herab. Und da sah ich auch schon die Ursache: An den Schnittflächen der Rosenstiele hatte sich eine schleimige Schicht gebildet, die verhinderte, dass die Blumen das Wasser aus der Vase aufnehmen konnten. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Schließlich war meine Mutter eine gelernte Gärtnerin und hatte uns schon als Kinder darauf hingewiesen, dass man Blumen immer wieder neu anschneiden sollten: harte Stängel schräg und weiche Stängel gerade. Das hatte ich tatsächlich aus Bequemlichkeit nicht getan und musste nun mit den Folgen leben.
Aber nicht nur Schnittblumen können ein solches Problem haben. Auch über die Seele kann sich eine solche Schleimschicht legen, so dass das, was die Seele nährt, nicht mehr „durchkommen“ kann.

Der geistig-seelische Stoffwechsel

Der inzwischen 96jährige Benediktiner David Steindl-Rast aus Wien hat ein Buch mit vielen Erinnerungen aus seinem Leben überschrieben: „Durch dich bin ich so ich.“ Die Botschaft kommt deutlich rüber: Erst in der Begegnung mit anderen Menschen, erst durch diesen geistig-seelischen „Stoffwechsel“, der sich bei jeder echten Begegnung vollzieht, kann die Seele leben, kann sie atmen, kann sie wachsen. Der jüdische Philosoph Martin Buber, der bei seinen Großeltern aufgewachsen war, weil sich die Eltern hatten scheiden lassen, war zutiefst enttäuscht, als er dann mit 16 eine Begegnung mit seiner Mutter hatte. Er nannte dieses Gespräch später „Vergegnung“ (ein Wort, das im Duden nicht vorkommt, aber dessen Bedeutung sich jedem sofort erschließt). Menschen, die daran leiden, dass sie nicht mit anderen in Kontakt treten können, nennen wir kontaktunfähige Menschen. Es ist, als ob sie auf dem „Aufnahmeorgan“ ihrer Seele eine solche Schleimschicht haben wie die Rosen an den Schnittstellen ihrer Stängel.

Aber auch Menschen, die mehr in ihre Fassade investieren als in ihr wahres Ich, haben eine solche Blockade, nur ist diese mehr in ihr Inneres verlagert. Denn ständig quält sie die Frage: Wenn die anderen wüssten, wie ich wirklich bin, würden sie mich dann auch noch wertschätzen oder gar lieben? Die empfangene Wertschätzung dringt nicht zum Personenkern durch und kann diesen demzufolge auch nicht stärken.

Wir sind nicht zum Robinson Crusoe geschaffen. Wir sind soziale Wesen. Der isolierte Mensch verkümmert, seine Seele vertrocknet buchstäblich.

Seelennarkose

Aber nicht nur in ganz alltäglichen Begegnungen, sondern auch im Umgang mit Leid kann es zu Strategien kommen, die den Menschen letztlich isolieren und damit die Seele austrocknen lassen.

Wenn eine traurige Nachricht unsere Seele trifft, können wir durchaus auf „bewährte“ Schmerzvermeidungsstrategien zurückgreifen. Die einfachste ist die Verharmlosung: „Na, so schlimm ist es doch nicht!“; manche stürzen sich in blinden Aktionismus, der aber nichts mit einer möglichen Lösung des Problems zu tun haben muss; manche greifen zur Flasche oder gar zu Drogen und betäuben sich – das ist schon wesentlich bedenklicher. Manche verabschieden sich von ihrem fühlenden ICH und richten sich dauerhaft in ihrem analysierenden ICH ein. Ich erinnere mich an eine Frau, die nach einigen vertrauensbildenden Gesprächen endlich mit jemandem darüber sprechen konnte, dass ihr älterer Bruder sie mehrmals sexuell missbraucht hatte. Aber sie erzählte es in einem so ausdruckslosen Tonfall, als ginge es nicht um sie, sondern um eine andere Person. Es dauerte einige Gespräche, bis sie endlich mit ihrem Schmerz und ihrer Wut auf den Bruder in Kontakt kam und diese auch laut äußern konnte. Endlich konnte sie schreien und weinen! Endlich wurde ihr versteinertes Gesicht lebendig.

Wenn ein Kind ins Waisenhaus muss

Auch der sensible Junge Josef Kentenich, den die Mutter aus wirtschaftlichen Gründen mit achteinhalb Jahren ins Waisenhaus nach Oberhausen bringen musste, griff unbewusst zur Schmerzvermeidungsstrategie: Wenn Trennung so weh tut, dann ist es doch besser, ich lasse nie mehr jemanden nah an mich heran, dann kann es auch keinen Trennungsschmerz mehr geben.

Diese auf den ersten Blick so schlüssige Strategie hatte aber die verhängnisvolle „Nebenwirkung“, dass der Schüler und Student Kentenich an furchtbarer Einsamkeit litt. Er hatte aufgrund seiner Intelligenz zwar viele Bewunderer aber keine Freunde. Und er wusste auch nicht, warum diese emotionale Barriere vor seelischer Nähe in ihm war.

Erst viele Jahre nach seiner Heilung, die er dem Wirken der Gottesmutter zuschrieb und die er zeitlich rund um seine Priesterweihe ansiedelte, konnte er das Vorher und das Nachher reflektieren. Jedenfalls haben wir erstmals von 1955 ein Selbstzeugnis von ihm über seine seelischen Probleme als Jugendlicher und junger Erwachsener.

In einem Brief an den Präfekten der Marianischen Kongregation, Josef Fischer, schrieb er andeutungsweise im Dezember 1915:
„Darf ich einmal ein wenig den Schleier von meiner Vergangenheit lösen? Vor meinem Eintritt ins Noviziat bis zu meiner Priesterweihe und noch etwas darüber hinaus hatte ich ständig die wahnsinnigsten Kämpfe zu bestehen. Von innerem Glück und Zufriedenheit nicht die geringste Spur. Wurde von meinem Seelenführer nicht verstanden und hatte bei meiner ungesunden rationalistisch-skeptischen Gedankenrichtung nur geringen übernatürlichen Halt. Das waren wahnsinnige innere und äußere, will sagen geistige und dazu noch körperliche Leiden. Vielleicht erzähle ich Ihnen später mehr davon. Hätte ich diesen ganz und gar anormalen Werdegang nicht durchgemacht, ich hätte Euch nicht das sein können, was ich Euch kraft meiner Stellung sein soll und zu sein mich bemühte. Machen Sie die Anwendung auf Ihren Zustand und auf Ihre Zukunft. Sie verstehen aber auch mein volles und inniges Interesse an den Phasen Ihrer Kämpfe.“ [aus „Mein lieber Präfekt! Briefe an Josef Fischer aus der Gründungszeit Schönstatts“ Patris, Vallendar-Schönstatt 2018, S.80f]

Vorschaltwiderstand

Wer es weniger mit den Blumen hat und keinen grünen Daumen, dafür aber mit technischen Geräten auf Du und Du steht, der kann sich vielleicht noch an die analogen Spannungsmessgeräte erinnern. Da konnte man mit demselben Gerät Spannungen von 1000 Volt und Millivolt messen. Es kam nur darauf an, welchen so genannten Vorschaltwiderstand man eingeschaltet hatte. Klar, wenn man den Messbereich 1kV eingeschaltet hatte und die Prüfstäbe an eine 1,5V-Batterie gehalten hatte, dann gab es keinen Ausschlag des Zeigers. Aber wenn man den Prüfbereich 10V eingeschaltet hatte, dann konnte man genau die 1,5V ablesen.

Manche Menschen haben als Schmerzvermeidungsstrategie, weil sie viel Schlimmes erlebt haben, einen hohen „Vorschaltwiderstand“ vor ihre Seele geschaltet. Das lässt das Schlimme weniger schmerzlich wirken. Das Problem aber ist, auch positive Gefühle als Reaktion auf etwas Schönes können kaum aufkommen.

Der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Verhaltensforscher Konrad Lorenz brachte 1973 ein Buch auf den Markt: „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“. Darin schreibt er:
Vorgänge, die die Menschheit gefährden, sind – so Konrad Lorenz – „… der Schwund aller starken Gefühle und Affekte durch Verweichlichung. Fortschreiten von Technologie und Pharmakologie fördern eine zunehmende Intoleranz gegen alles im geringsten Unlust Erregende. Damit verschwindet die Fähigkeit der Menschen, jene Freuden zu erleben, die nur durch herbe Anstrengung beim Überwinden von Hindernissen gewonnen werden kann. Der naturgewollte Wogengang der Kontraste von Freud und Leid verebbt in unmerklichen Oszillationen namenloser Langeweile.“ (S. 107)

Das ist Inscriptio

Wenn wir diese Analyse von Konrad Lorenz auf uns wirken lassen, dann fällt ein neuer Blick auf die bedingte Kreuzesliebe, die Pater Kentenich in Anlehnung an Augustinus „Inscriptio“ nennt. Wenn ich mein Herz in das Herz Jesu „hineinschreibe“ und wenn Jesu sein Herz in mein Herz „hineinschreibt“, dann werde ich gleichsam hineingezogen in das Leben und Schicksal Jesu.

Paulus kann das klassisch ausdrücken:
„Wisst ihr denn nicht, dass wir, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden ja mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir, so wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln. Wenn wir nämlich mit der Gestalt seines Todes verbunden wurden, dann werden wir es auch mit der seiner Auferstehung sein. Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde, sodass wir nicht mehr Sklaven der Sünde sind. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. Wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Denn durch sein Sterben ist er ein für alle Mal gestorben für die Sünde, sein Leben aber lebt er für Gott. So begreift auch ihr euch als Menschen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus.“ (Röm 6,3-11) Man beachte vor allem die „Mit“-Aussagen!

Und im Galaterbrief beschreibt er seine enge Verbundenheit mit dem Leben und Schicksal Jesu so: „Ich bin mit Christus gekreuzigt worden. Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Was ich nun im Fleische lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.“ (Gal 2,19f)

Diese seelische Verbundenheit mit Christus wirkte sich sogar psychosomatisch aus, dass sich die Wundmale Christi an seinem Körper herausbildeten: „In Zukunft soll mir niemand mehr solche Schwierigkeiten bereiten. Denn ich trage die Leidenszeichen Jesu an meinem Leib.“ (Gal 6,17) Auch der hl. Franziskus, der Kapuzinerpater Pio (+1968) und Therese Neumann von Konnersreuth (+1962) hatten diese Stigmata, um nur drei aus der Vielzahl zu nennen, an denen man dieses Phänomen beobachten konnte.

Pater Kentenich wies immer wieder darauf hin, dass eine der Konsequenzen der Erbündelosigkeit Mariens ihr reiches Gemütsleben war. Das bedeutete allerdings auch, dass sie das Todesleiden ihres Sohnes auf Golgotha sehr intensiv miterlebt und miterlitten hat. Schon die Weissagung des greisen Simeon deutete darauf hin: „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen. So sollen die Gedanken vieler Herzen offenbar werden.“ (Lk 2,35) In den Kreuzwegbetrachtungen zur XIII. Station aus Dachau schreibt Pater Kentenich: Seitdem die zweite Eva [gemeint ist Maria] dich ließ sterben, versteht sie jedes Leid der Adamserben und ist mit mütterlichem Sinn bedacht, dass für’s Erlösungswerk es reicher macht.“ [ Gebetesammlung „Himmelwärts“ S. 87]

Die Hornhaut von der Seele raspeln

Das seelische „Voltmeter“ kann also ganz heftig nach der Schmerzensseite ausschlagen, weil es empfindlich eingestellt ist. Aber so ein seelisches „Voltmeter“ kann auch nach der Glücksseite heftig ausschlagen. Auch hier wieder unser Gewährsmann Paulus: „Wir verkünden, wie es in der Schrift steht, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.“ (1 Kor 2,9)

Wollen wir also ein intensives Leben führen, dann kommt es darauf an, dass wir immer wieder die „Hornhaut“ von unserer Seele raspeln – um ein weiteres Bild zu gebrauchen und immer wieder den Mut haben, durch den Feuerring des Schmerzes durchzugehen ohne uns zu betäuben, zu rationalisieren, zu verharmlosen oder sonstige Schmerzvermeidungsstrategien anzuwenden. Leben in der Nachfolge Christi ist nichts für Feiglinge. Aber es wird ein erfülltes Leben gewesen sein, wenn wir zurückblicken.

Wenn Sie also demnächst mal wieder bei einem frisch gekauften Rosenstrauß die Schnittflächen neu anschneiden, dann halten Sie kurz inne und fragen sich, wie die Schnittstellen ihrer Seele aussehen und ob vielleicht auch da mal wieder die verschleimte Schnittstelle abgeschnitten werden muss.

Schnittstelle

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