P. Elmar Busse •
Wenn man mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse der Kommunikationswissenschaft oder der Keyword-Recherche aus dem Marketing an die Veröffentlichungen über P. Josef Kentenich geht, dann findet man als Bildmarke oder Logo Kentenich den schneeweißen Rauschebart, als Keywords: „baldige Heiligsprechung“, „immer“, und seit 2020: „Missbrauch“. Wir möchten in der folgenden Artikelserie einen anderen Blick auf Kentenich werfen– weder den auf den Nikolaus mit Rauschebart noch den auf den Heiligsprechungskandidaten, aber auch nicht den auf den des Machtmissbrauchs oder geistlichen Missbrauchs Verdächtigten. —
Diese Texte entstanden vor circa 30 Jahren. Der lange Atem der Kirche, die in Jahrhunderten atmet, erlaubt es uns, diese Texte mit leichten Aktualisierungen wieder zur Diskussion zu stellen. Wir erhoffen uns, jenseits der gängigen Attributionen, einen neuen, lebendigen Blick auf die vielschichtige Gründergestalt zu ermöglichen und dadurch die Neugier zu wecken, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen. Wir meinen: Es lohnt sich!
Der Panama-Kanal und die Malaria
Als in den 80er Jahren des vorletzten Jahrhunderts die Franzosen unter der Leitung des Ingenieurs Lesseps den Panama-Kanal bauen wollten, starben täglich vierzig bis fünfzig Arbeiter an Seuchen, vor allem an Malaria und Gelbfieber. Als noch Fehlspekulationen und Betrügereien dazukamen, mussten die Franzosen den Kanalbau abbrechen und verkauften um ein Butterbrot die Rechte zum Kanalbau an die USA.
Diese beauftragten den Militärarzt William Crawford Gorgas mit der Bekämpfung der Seuchen in diesem Gebiet. Aufbauend auf den Forschungsergebnissen des Italieners Grassi über die Malaria und aufgrund eigener Forschungen 1898 bei der Gelbfieber-Epidemie in Kuba wusste er um die Gefährlichkeit der Ägyptische Tigermücke (Gelbfieber) und der Anopheles-Mücke (Malaria).
Als er 1904 den Auftrag bekam, die beiden Seuchen in der Panama-Kanalzone zu bekämpfen, ließ er sämtliche stehenden Gewässer, vom unscheinbaren Tümpel und Graben bis zu Sümpfen, den Lieblingsbrutplätzen der Moskitos, mit einem Gemisch aus Petroleum, Asphaltöl und Karbolsäure, das die Mückenlarven nach dem Ausschlüpfen tötete, besprühen. Trinkwasser durften die Kanalarbeiter nur aus Wasserleitungen entnehmen, die eilends gelegt wurden. Auch den Bau einer sanitären Abwasserkanalisation setzte Gorgas bei der amerikanischen Regierung durch. Schließlich ließ Gorgas, die am Anfang und Ende des Kanals gelegenen vor Schmutz und Nässe triefenden Städte Colon und Ciudad de Panama gründlich reinigen, schlammige Straßen pflastern oder aufschütten, die überall herumliegenden übelriechenden, Fäulnis bergenden Kehrichthaufen beseitigen, die Krankenhäuser und öffentlichen Gebäude mit Moskitonetzen ausstatten und auch die Wohnungsfenster und Türen im gesamten Kanalbereich mit dünnmaschiger Drahtgaze versehen. Nach Sonnenuntergang, wenn die Mücken zu stechen beginnen, hatte sich jedermann in seinen Drahtkäfig zu begeben, wo er zwar in frischer Luft, aber doch sicher vor dem Zugriff der Mücke war. Doktor Gorgas‘ Bemühungen waren erfolgreich. Schon nach einem Jahr waren die Malaria und das Gelbfieber in der Kanalzone so weit bezwungen, dass wieder mit dem Bau der Wasserstraße begonnen werden konnte.
Wenn wir die Baugeschichte des Panama-Kanals betrachten, dann wird deutlich, dass nicht die technischen Schwierigkeiten der Bauausführung das Hauptproblem waren, sondern das mörderische Klima, genauer: die Krankheitserreger, die in diesem Klima gedeihen konnten. Nachdem dieses Problem gelöst war, konnte man auf die alten Pläne zurückgreifen.
Die Diagnose des Seelenarztes Kentenich
Wir können Pater Kentenich auch als Erforscher und Bekämpfer eines Krankheitsbazillus bezeichnen. Immer wieder wurde er mit Gläubigen konfrontiert, die trotz umfangreichen religiösen Wissens in ihren religiösen Lebensvollzügen, das heißt im Glaubenkönnen, Vertrauenkönnen, Liebenkönnen, seltsam unbeholfen und kraftlos wirkten. Dieselben Leute hatten häufig auch große Probleme, einen persönlichen Zugang zu Maria zu finden. Als Vorbild konnten sie sie verehren und akzeptieren, aber zu ihr beten, sie bitten, ihr Beiträge zum Gnadenkapital schenken — da bekamen sie Angst, Christus könne zu kurz kommen.
Für einen seelisch gesunden Menschen, der in einem Netz herzlicher personaler Beziehungen aufgewachsen ist, ist diese Fragestellung nicht nachvollziehbar. Sagt doch Christus selbst: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40) Das heißt doch, dass Christus jede Liebe, die wir einem Menschen, also auch Maria, schenken, so betrachtet, als würde sie ihm geschenkt. Wenn Christus selbst darin kein Problem sieht, ja im Gegenteil, uns geradezu dazu auffordert, die Menschen zu lieben und dadurch unsere Liebe ihm zu zeigen, warum machen dann Gläubige, oft auch Priester und Religionslehrer, daraus ein Problem?
Schon frühzeitig aufmerksam geworden auf diese Problematik, sprach Pater Kentenich häufig darüber, wie Wissen zum Lieben werden kann, wie der weite Weg vom Kopf zum Herzen gegangen werden kann. Erst auf seinen Weltreisen nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er im Vergleich mit anderen Kulturen den seelisch-geistigen Krankheitsbazillus näher bestimmen und sprach seitdem vom „mechanistischen Denken“.
In einem Brief an die deutschen Bischöfe 1949 gebraucht er einen drastischen Vergleich: Er schrieb von der „Atombombe im Reich des geistig-sittlich-religiösen Lebens“. Was verstand er darunter? Mechanistisches Denken trennt zwischen Gott und Welt, zwischen Gott und Wissenschaft, zwischen Sonntagsglaube und Alltagsleben, zwischen Denken und Fühlen. Es kann Lebensprozesse nicht in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit erfassen.
Zwei entgegengesetzte Mentalitäten
Der Gegensatz zwischen den vom mechanistischen Denken befallenen Theoretikern und Ideologen und dem Gründer Schönstatts, dem es um die ehrfürchtige Beobachtung und Unterstützung von Lebensprozessen ging, ist ähnlich krass, wie sich einmal der französische Insektenforscher Jean-Henri Fabre (*1823, + 1915) im Vergleich mit seinen Kollegen beschrieb. Er selbst stöberte, bewaffnet mit Knotenstock und Lupe, bei sengender Hitze in der Landschaft herum, hockte vor Erdlöchern, um mit grenzenloser Geduld die erstaunlichen Verhaltensmuster der Insektenwelt zu beobachten. Er urteilt über seine Kollegen und deren Methoden in den Laboratorien: „Ihr weidet das Tier aus, und ich studiere es lebend; ihr macht aus ihm ein Ding des Schreckens und Mitleids, ich mache, dass man es liebgewinnt; ich arbeite unter freiem Himmel, beim Gesang der Zikaden; ihr unterwerft die Zelle und das Protoplasma den Reagenzien; ihr erforscht den Tod; ich erforsche das Leben.“
Diese zwei grundverschiedenen Mentalitäten und Denkstrukturen finden nur schwer zueinander. Pater Kentenich beobachtete, dass das mechanistische Denken auf dem Weg war, zum beherrschenden Lebensgefühl in Deutschland und in Europa zu werden. Und er musste gleichzeitig feststellen, dass die offizielle Kirche diese Probleme weder in ihrer Tragweite sah noch in ihrer Pastoral genügend berücksichtigte. Die Warnung Pater Kentenichs brachte keine Wende in der Seelsorge. Während seiner bald folgenden vierzehnjährigen Trennung von seiner Gründung entwickelten sich die Verhältnisse in Deutschland so, wie es Pater Kentenich befürchtet hatte. 1961 schrieb er in einer Studie:
„Wer in seinem Leben zumal in Kindheit und Wachstumszeit, viel Liebesmangel und Liebeshunger aushalten musste, wird für gewöhnlich das ganze Leben hindurch an Liebesfähigkeit krank bleiben. Nicht umsonst spricht man heute allenthalben von der Kontaktnot, Kontaktschwäche oder der Kontaktunfähigkeit des modernen Menschen. Sie ist nicht nur eine ansteckende Krankheit gewöhnlicher Art, sie muss als eine schreckliche Seuche gebrandmarkt werden, die sich nicht nur im Verkehr der Menschen untereinander, sondern auch im geheiligten Schoss der Familie einnistet und überall Unheil anrichtet. Wie häufig muss man gestehen, dass heutige Eltern bereits Kinder von liebesgestörten Eltern sind. Da braucht man sich kaum zu wundern, wenn ihre eigenen Kinder in der strömenden Tiefe ihres Wesens nicht mehr liebesmächtig sind, sondern oft nur noch die rührend unbeholfenen Gebärden der Liebe versuchen. … Gewiss gibt es noch zahlreiche Ehe- und Familieninseln, wo die Verhältnisse günstiger gelagert sind.“
Die Therapie des Seelenarztes Kentenich
Pater Kentenich blieb nicht bei der Diagnose stehen. Er selbst hatte als Jugendlicher unter seiner Kontaktnot und unter der Sucht, alles bis ins Letzte sezieren und anzweifeln zu müssen, gelitten. Er hatte aber auch an sich selbst erfahren, wie heilsam die Bindung an die Gottesmutter, den ganz heilen Menschen, war. Die Weihe an sie war der Ausweg aus der Sackgasse des Zweifelns und Grübelns.
Was er selbst als heilsam erfahren hatte, das gab er weiter, als er 1912 die Verantwortung für die geistliche Entwicklung der Jungen übernahm, die sich in Schönstatt auf das Priestertum vorbereiteten. Im seelischen Wachstum der Schüler konnte er beobachten, dass sein persönliches Schicksal keine Ausnahme war. Auch bei den Schülern konnte er einen engen Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Marienliebe und der positiven Entwicklung ihrer Persönlichkeit beobachten.
Als Josef Engling, einer dieser Schüler, als Soldat in Frankreich am 4. Oktober 1918 durch eine Granate getroffen stirbt, ist das für Pater Kentenich wie eine göttliche Bestätigung seines neuen-alten Weges: Bindung an die Gottesmutter macht heil und führt zur Heiligkeit. Dieser Qualitätsbeweis des neuen Weges der Christusnachfolge, den er aufzeigt, ist für Pater Kentenich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten eine Stütze angesichts der vielen Zweifel und Verdächtigungen, die seinem neuen Weg vor allem aus traditionellen kirchlichen Kreisen entgegengebracht werden.
Den tiefen liegenden Grund, warum Maria so segensreich wirken kann, findet er in der Glaubensaussage: Maria ist ohne Erbsünde empfangen. Sie ist der einzige vor- und voll erlöste und deshalb ganz heile Mensch. Deshalb hat sie auch keine Kontaktnöte weder zu ihrem eigenen Innern noch zu den Mitmenschen noch zu Gott.
Das Liebesbündnis mit ihr und das tägliche Leben aus diesem Liebesbündnis machen uns ihr ähnlich. Auf dieser Grundlage des Liebesbündnisses entwickelt Pater Kentenich in den folgenden Jahren eine Spiritualität, die großes Gewicht auf die ganzmenschliche Bindungs- und Beziehungsfähigkeit legt: Werktagsheiligkeit ist die gottgefällige Harmonie zwischen ganzheitlicher Gott-, Werk- und Menschengebundenheit in allen Lagen des Lebens.
Und so ist es ihm ein wichtiges Anliegen, dass sich die Menschen an das kleine Kapellchen binden können, dass es für sie zur Heimat wird. So ist er offen, dass sich die Menschen an ihn persönlich binden können bis in die kleinsten Fäserchen ihres Herzens.
Einerseits ist er ein Mann der großen Pläne, der kühnen Träume, des weiten Horizontes, aber er weiß und fühlt, dass die Verwirklichung aus vielen kleinen und kleinsten Schritten besteht. Deshalb widmet er den Kleinigkeiten so viel Aufmerksamkeit, ohne dabei ein Kleinigkeitskrämer zu werden. So schafft er die Voraussetzungen auf der zwischenmenschlichen Ebene, dass Kontaktnot, die Unfähigkeit zu lieben, die seelische Behinderung, sich nicht genügend auf andere einzulassen, mangelndes Vertrauen, mit einem Wort, der Krankheitsbazillus des mechanistischen Denkens überwunden werden können. Ist der Mensch seelisch gesund, dann ist er auch offen für Gott, dann kann er sich auch für das Reich Gottes engagieren, dann ist er auch belastbar.
Kommen wir auf unser Anfangsbild zurück: Die Verdienste des Arztes William Crawford Gorgas lagen nicht darin, dass er den Panama-Kanal gebaut hat, sondern dass er die Ursachen für das mörderische Klima richtig diagnostizierte und Lebensbedingungen schuf, unter denen sich der großartige Traum vom Kanal zwischen den Ozeanen verwirklichen ließ. Die Amerikaner verehren ihn als den „größten Praktiker der Tropenmedizin“.
Großartige Pläne für die Erneuerung der Kirche sowie für die Beseelung und Vermenschlichung der Welt durch die Kirche hat es in den letzten Jahrzehnten genug gegeben. Sie scheiterten häufig, weil sie für den mechanistisch angekränkelten Menschen eine Überforderung darstellten. Der Praktiker — nicht der Tropenmedizin — aber der Christusnachfolge, Joseph Kentenich, hat eine Bewegung ins Leben gerufen, die in einem marianischen Klima vom mechanistischen Denken befreien kann.
P. Joseph Kentenich, Aus dem Amerikabericht von 1948, zitiert nach Herta Schlosser, Der neue Mensch – die neue Gesellschaftsordnung, S. 193.