Veröffentlicht am 2020-07-16 In Kentenich

Der Vater und Gründer und die Schönstattfamilie – Reflexionen über eine Krise

Von Rosario Zamora – Miguel González, 48. Kurs des Familienbundes der Region Chile-Bolivien •

Mehr als eine Woche ist vergangen, seit die schweren Vorwürfe gegen Pater Josef Kentenich in der deutschen Zeitung „Tagespost“ und auf der Seite des Vatkanisten Sandro magister veröffentlicht wurden. —

Vor diesen Ereignissen glaubten wir, dass wir in einer Familie lebten, die durch starke Fundamente vereint war, die auf einem gemeinsamen Verständnis der Geschichte und der Grundlagen der Bewegung beruhten. Auch wenn wir zu Tausenden über die ganze Welt verstreut waren, konnten wir uns eine Schönstattfamilie nennen, weil wir die Einheit in einem „gemeinsamen Mythos“ teilten.

Wie der israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem Buch: „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ schreibt, hat die soziologische Forschung gezeigt, dass die maximale „natürliche“ Größe einer vereinten Gruppe von Menschen etwa 150 Individuen beträgt. Die meisten Menschen können nicht mehr als 150 Menschen persönlich kennen oder mit ihnen nicht effektiv kommunizieren. Mit anderen Worten, es gibt Grenzen für die Größe der Gruppen von Menschen, die gebildet und zusammengehalten werden können, da sie sich dazu persönlich kennen müssen.

Wie haben wir es also geschafft, Staaten, Religionen oder Handelsgesellschaften zu bilden, die weit mehr Individuen zusammenbringen? Der Autor antwortet: „Eine große Zahl von Fremden kann erfolgreich zusammenarbeiten, wenn sie an gemeinsame Mythen glauben. Jede groß angelegte menschliche Zusammenarbeit – sei es ein moderner Staat, eine mittelalterliche Kirche, eine antike Stadt oder ein archaischer Stamm – baut auf gemeinsamen Mythen auf, die nur in den kollektiven Vorstellungen der Menschen existieren.“

Nach den ersten Informationen über die Forschungen von Alexandra von Teuffenbach scheint ein Teil unseres „Mythos“ zusammengebrochen zu sein, da es Elemente gibt, die vielen Mitgliedern unserer Gemeinschaft bis dahin unbekannt waren. Infolgedessen ist die Einheit nicht mehr so evident.

Unterschiedliche Positionen

Aus den neuen Informationen haben sich unterschiedliche Reaktionen innerhalb der Schönstattfamilie ergeben. Zwei radikal unterschiedliche Positionen wurden schnell umrissen und konsolidiert. Die eine bittet um Verzeihung dafür, dass relevante Informationen zurückgehalten wurden und nimmt eine kritischere Haltung gegenüber dem Gründer ein, während die andere vertritt, dass die Unterlassung von Informationen nicht gleichbedeutend mit einer Lüge und daher moralisch nicht vorwerfbar ist, und alle Worte und Handlungen von Pater Kentenich rechtfertigt.

Diese Dualität der Interpretationen hat sich im Familienbund, dem wir angehören, mit allen möglichen Nuancen wiederholt, begleitet von dem tiefen Schmerz derer, die ein ganzes Leben in der Bewegung gelebt haben und einen Grundpfeiler ihrer Existenz in Gefahr sehen.

Angesichts dieses düsteren Panoramas der Spaltung, die sich in den kommenden Monaten und Jahren angesichts der notwendigen Gründlichkeit, mit der die soeben angekündigte Historikerkommission arbeiten muss, noch radikaler ausprägen könnte, möchten wir einige Überlegungen zu den Elementen, die wir heute kennen, vorschlagen, da wir verstehen, dass dies der erste Teil eines langen Weges zur Wiedererkenntnis und Dekonstruktion unserer Geschichte ist[1].

Der „Kindesakt“

Im Laufe dieser schwierigen Woche konnten einige bisher unbekannte Aspekte geklärt werden. Im Respekt vor der Unschuldsvermutung gehen wir davon aus, dass Pater Kentenich immer in gutem Glauben gehandelt hat und dass die Erklärungen, die er im Text „Apologia pro vita mea“ anbietet, der Wahrheit entsprechen. Nach diesem – zumindest uns – erst kürzlich bekannten, obwohl in den sechziger Jahren verfassten Text hätte Pater Kentenich versucht, eine Marienschwester zu heilen, die an einer Zwangsstörung litt, die sie daran hinderte, ihren eigenen Körper anzunehmen, indem er dem „Kindesakt“, den die Marienschwestern vollziehen, eine zusätzliche Frage hinzufügte, die auf körperliche Intimität anspielen würde. Der Gründer hätte also nach seiner eigenen Interpretation angesichts seines Status als Vater und Erzieher in moralisch korrekter Weise gehandelt. Wer diesen Akt in Frage stellt, würde nach dem Text von Patricio Ventura (deutsche Übersetzung folgt) die organische Übertragung – das Bild Gottes im Gründer zu sehen – nicht verstehen und auf die mechanistische Mentalität zurückgreifen.

Die obige Erklärung ist jedoch äußerst problematisch. Erstens ist es eine Tatsache – denn sie hat den Gründer in einem Brief an den Vatikan dessen angeprangert –  dass sich die Schwester nicht nur nicht von ihrer Besessenheit befreit fühlte, sondern sich auch subjektiv zutiefst verletzt fühlte, so dass sie den Gründer des Missbrauchs bezichtigte. Die Person der Schwester, ihre Gefühle und ihr Leiden werden bei der Verteidigung, die der Gründer verfasst hat, nicht berücksichtigt, noch scheint sie für die wachsende Zahl der Verteidiger seines Handelns von Bedeutung zu sein. Dies kann und wird in seinem historischen Kontext verstanden werden, da in jenen Jahren ein Missbrauchsverständnis vorherrschte, das auf einer Vision von Gewalt und Schaden unter dem Gesichtspunkt von körperlicher Gewalt und Schmerz beruhte,[2], doch aus heutigem Verständnis erscheint es uns schwerwiegend, dass der Schaden durch die vom Opfer subjektiv erlebte sexuelle Grenzüberschreitung nicht berücksichtigt wurde [3].

Zweitens ist es angesichts der heutigen Missbrauchsparadigmen schockierend, dass der Gründer angesichts eines so schwerwiegenden Irrtums nicht das geringste Zeichen der Reue gezeigt hat. Denn die Haltung Kentenichs ist zwar verständlich, aber moralisch nicht zu rechtfertigen. So ist heute die große Mehrheit der Menschen der Meinung, dass niemand die Privatsphäre eines anderen verletzen darf. Der Vater und Gründer ist es auch nicht, selbst wenn er in bester Absicht gehandelt hat.

Das Angesicht Gottes

Damit kommen wir zu einer zweiten Dimension des Problems: die Ausübung der priesterlichen Vaterschaft in Beziehung zu den Marienschwestern. In zahlreichen Texten beansprucht der Gründer seine Rolle als Erzieher der Schwestern. Die letztendliche Grundlage dieser Rolle hat mit „organischer Übertragung“ zu tun: Der Gründer wäre für die Schwestern ein Transparent Gott. Dieses Prinzip hat jedoch seine Grenzen. Jesus sagt zu Philippus: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“. Als Christen und als Schönstätter streben wir danach, dass dieser Satz in uns Wirklichkeit wird. Aber nur Christus, das fleischgewordene Wort Gottes, kann diesen Satz mit völliger Berechtigung sagen. Es gibt eine unendliche Entfernung zwischen Gottvater und seinen Geschöpfen. Sicherlich können auch wir Träger der Liebe und Barmherzigkeit Gottes sein, aber niemals in vollkommener oder vollständiger Weise, sondern nur in dem Maße, wie es die menschliche Situation erlaubt. Diese Einschränkung gilt auch für alle Menschen, selbst wenn sie Heilige oder Gründer sind.

 Wie sieht das Frauenbild des Gründers aus?

Dazu müssen wir eine weitere besonders problematische Dimension der Angelegenheit hinzufügen. Im Text Apologia pro vita mea haben wir eine Textstelle gefunden, die für uns einen sehr problematischen Punkt im Denken des Gründers widerspiegelt, der für das vorliegende Problem besonders relevant ist:  “Es (die Anwesenheit des Vaters) gewährleistet bei einer in allen Weltteilen vertretenen weiblichen Familie, die alle apostolischen Arbeitsgebiete betreut, eine Weite und Großzügigkeit, zu der weibliche angeborene Enge gewöhnlich nicht fähig ist.“

Ist es notwendig zu zeigen, dass dieses Urteil zutiefst falsch ist und dass es zweifellos die Art und Weise bedingt, wie die väterliche Rolle bei den Frauen im Allgemeinen und bei den Marienschwestern im Besonderen ausgeübt wird? Von unseren modernen Paradigmen aus gesehen, verstehen wir diesen Gedanken als getreue Widerspiegelung eines historischen Machismus, den Tausende von Frauen in der heutigen Welt entschieden ablehnen wollen.

Der oben erwähnte Hintergrund gibt uns also einen Überblick über zwei schwerwiegende Fehler des Schönstattgründers. Erstens ein schwerwiegender Beurteilungsfehler bezüglich der Grenzen der priesterlichen Vaterschaft, der sogar als Gewissensmissbrauch angesehen werden könnte, ein sehr schwierig zu verfolgender Fehler, selbst nach dem geltenden Kirchenrecht; zweitens ein schwerwiegender Konzeptionsfehler bezüglich der weiblichen Intelligenz. Was hätte der Gründer von seinen Landsleuten Hanna Arendt, Edith Stein und Angela Merkel gehalten?

Zum Abschluss

Kehren wir nun zur Ausgangsdiagnose zurück, d.h. zu den beiden divergierenden Diagnosen über die Vorwürfe, die innerhalb der Schönstattfamilie bestehen. Die bedingungslose Rechtfertigung der Haltung Pater Kentenichs im „Kindeskat“, der heute in Frage steht, scheint die Unfähigkeit widerzuspiegeln, den Gründer nicht nur in seiner Größe, sondern auch in seinen Grenzen und seinem Irrtum zu sehen; mit anderen Worten, ihn in seiner Menschlichkeit zu sehen. Dem Gründer gegen alle Beweise einen unfehlbaren Charakter zuzuschreiben, kommt dem Personenkult und im Extremfall dem Götzendienst gefährlich nahe. Die gemäßigte Position hingegen erlaubt es uns, mit Joseph Kentenich, einem Mann aus Fleisch und Blut, zusammenzutreffen und in einen erwachsenen Dialog einzutreten. Wir laden alle Mitglieder der Schönstatt-Bewegung ein, darüber nachzudenken, wie man eine gesunde Beziehung zum Vater und Gründer der Schönstattfamilie aufbauen kann.

 

[1] Analytisch etwas rückgängig machen, um ihm eine neue Struktur zu geben, RAE.
[2] J. Murillo, “Abuso sexual, de conciencia y de poder: hacia una nueva definición”, Estudios eclesiásticos 95 (2020), 415-440.
[3] In der aktuellen Kriminalitätstheorie (Chile) werden als sexuelle Belästigung solche Vorgänge verstanden, die die Würde des Individuums beeinträchtigen, das einen traumatischen Eingriff in seine Intimität durch einen Dritten erleidet. Die strafrechtliche Beurteilung ist in den Ländern sehr unterschiedlich.

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