Veröffentlicht am 2019-07-02 In Haus Madre de Tuparenda, Kentenich

Kentenich-Pädagogik an der Peripherie (4)

Kentenich-Pädagogik an der Peripherie, P. Pedro Kühlcke •

Freiheit im Gefängnis, ist das möglich? Ja, sagte Pater Kentenich. Und bewies es. Ja, sagt P. Pedro Kühlcke und beweist es: im Jugendgefängnis von Itauguá, wenige Kilometer vom Heiligtum von Tuparenda entfernt. Die vielleicht noch kühnere Frage wurde ihm vor einigen Monaten von schoenstatt.org gestellt:  Kentenich-Pädagogik an der Peripherie, ist das möglich? Ja, antwortet er, und er zeigt es erneut im Jugendgefängnis, in diesem letzten Teil seiner Reflexion in Bezug auf Bindungs- und Bündnispädagogik. Wenn es an dieser Peripherie möglich ist, sollte es auch an anderen möglich sein. Und sogar in Schönstatt. —

Wir veröffentlichen diesen Beitrag in einer Zeit großer wirtschaftlicher Schwierigkeiten für dieses großartige Modell von Kentenich-Pädagogik an der Peripherie, diesem Modell namens Casa Madre de Tupãrenda –  ein starker Appell an die Solidarität der Schönstätter in aller Welt aus solidarischer Verbundenheit im Liebesbündnis. Leben wir Kentenich-Pädagogik nicht nur an der Peripherie, sondern auch im Zentrum, in Schönstatt.

 

Bindungspädagogik

Wir machen noch einen Schritt! Bindungspädagogik: Hier sprechen wir über die Gruppe, die Gemeinschaft … In dieser Welt, in der wir heute leben, ist es sehr schwierig, gute Christen zu sein, die Gebote zu erfüllen und Kinder Gottes zu sein, wenn wir allein sind und die ganze Welt gegen uns zu spielen scheint. Es ist sehr wichtig, eine Gruppe zu haben und zu erkennen, dass ich nicht die einzige verrückte Person bin, die sich von allen anderen unterscheidet, sondern dass wir gemeinsam für diese Ideale kämpfen.

Was sagt uns Pater Kentenich?

„Verstehen Sie, was man unter Bindungspädagogik versteht? Das ist eine Pädagogik, die überaus sorgfältig achtet, dass der ganze Bindungsorganismus anerzogen wird.“[1]

Was ist dieser ganze Bindungsorganismus? Pater Kentenich sagt weiter: „Nun gibt es beim Bindungsorganismus einen natürlichen und einen übernatürlichen Organismus.“ Natürlich: alles, was von dieser Welt ist – übernatürlich: alles, was mit dem Himmel zu tun hat.  „Ferner können wir unterscheiden erstens ideenmäßige Bindungen, zweitens lokale Bindungen, drittens personale Bindungen.“ In einem anderen Text Sagt Kentenich:

„Nach Gottes Absicht sollte normalerweise ein Kind in einem abgerundeten Bindungsorganismus aufwachsen.  Es soll in lokale, personale und ideelle Gebundenheiten hineinwachsen.”[2]

Ich denke, das ist heutzutage das große Drama. Viele werden ohne solche Bindungen geboren und großgezogen und sind daher unfähig, selbst Bindungen aufzubauen. Zum Beispiel die „Liebe wie im Fernsehen“: große Liebe, für immer und ewig zusammen – und wie lang dauert das „für immer“?  Vielleicht ein halbes Jahr, und Schluss ist mit dem „für immer“. Warum? Da gibt es viel Instinkt, gibt es viele körperliche Beziehung, aber es gibt keine Möglichkeit tiefer Bindung… Weil ich das nie gelernt habe, weil sich nie jemand tief mit mir verbunden hat und weil ich durch die Welt laufe wie ein Gummiball, der überall hin hüpft oder in eine Ecke geschmissen wird. Und in den Tiefen meiner Seele eine ungeheure Einsamkeit.

Pater Kentenich sagt, wir müssen Wurzeln schlagen. Was mit euch passiert, als ihr zum ersten Mal des Heiligtums von Tupãrenda hier betreten habt? Einige der Anwesenden antworten: Ich war ergriffen; ich habe Ruhe und Frieden gespürt; es tut gut; hier habe ich beten können wie nirgendwo anders Das ist es, was wir Gnade der Beheimatung nennen. Man betritt das Heiligtum und es ist schön, dort zu sein, ich kann beten, ich kann um Vergebung bitten, ich fühle so etwas wie den Himmel. Und selbst wenn wir sehr weit weg wohnen und um 7 Uhr morgens mit dem Bus fahren müssen, um nicht zu spät für die 9-Uhr-Messe zu sein, machen wir das! Warum? Weil wir, ohne uns dessen richtig bewusst zu sein, anfangen, uns mit einem konkreten Ort zu verbinden, an dem wir uns zu Hause fühlen. Lokale Gebundenheit, Bindung an Orte:Wie gut tut es, wenn ich das Gefühl habe, ein Zuhause gefunden zu haben, das Heiligtum mein Zuhause ist, mein Haus, und ich nicht mehr wie ein Gummiball durch die Welt hüpfe.

Bindung an Ideen: „Ich möchte ein guter Profi sein, ich möchte meinen Kindern die Familie geben, die ich nie hatte, ich möchte der beste Vater der Welt für meine zukünftigen Kinder sein.“ Da habe eine Idee, die mir Kraft gibt, mein persönliches Ideal ─ alles, worüber wir vorher gesprochen haben.

Und auch die Bindung an Menschen. Wenn etwa jemand anfängt, bei einem bestimmten Priester zu beichten und Vertrauen fasst, wenn er merkt, wie sein Herz sich öffnet und ich das sagen kann, was ich noch nie jemandem gesagt habe, und wenn es mir gefällt, mit dem pa’i Oscar[3] zu reden, und wieder und wieder mit ihm rede, und ich so einen Weg beginne, dann fange ich an, mich zu verwurzeln. Oder zum Beispiel die Verbindung zur eigenen Familie … Einer der jungen Leute im Gefängnis sagte mir mit großem Schmerz: „Ich habe meine Mutter mehr geliebt als alle anderen. Als ich 12 Jahre alt war, starb meine Mutter an Krebs und ich blieb allein zurück. Aber ich habe sie immer im Herzen!“ Nachdem man Schmerz und all das herausbrechende Leid aufgenommen hat, kann man erklären: „Weißt du, deine Mama passt vom Himmel aus auf dich auf und vom Himmel aus möchte sie stolz auf dich sein.“ Die Bindung an eine bestimmte Person, in diesem Fall seine verstorbene Mutter, motiviert ihn, sich zu ändern und etwas zu tun.

Ich würde auch aus persönlicher Erfahrung sagen: Eines der Dinge, die die Jungs im Gefängnis am meisten schätzen, ist, dass wir jeden Samstag hingehen. Seit mehr als vier Jahren gehen wir ins Gefängnis, ohne einen einzigen Samstag zu verpassen – bei  Sturm, bei  Regen, bei Hitze, in den Ferien; manchmal fehlt der eine oder der andere kann nicht, aber jeden Samstag sind wir da. Und natürlich müssen wir immer Snacks und Gitarren mitbringen und eine Menge Dinge zum Teilen. Manchmal haben wir etwas und manchmal haben wir nichts. Oft gehe ich auch unter der Woche hin, denn die Zeit reicht nie für die Menge Jungen, die reden und beichten wollen, und dann kommt immer die Frage: „Was bringt ihr nächsten Samstag zu essen?“ Dann scherze ich schon mal und sage: „Nächsten Samstag gibt es nur galleta hatã [4] und Wasser, wir haben kein Geld„, und die Jungs lachen. Aber schon mehrmals haben sie mir geantwortet: „Ist egal, pa’i! Auch wenn ihr nichts mitbringen könnt, wichtig ist, dass ihr kommt.“ Trotz allem, was viele dieser jungen Leute bereits getan haben, sind sie sehr schüchtern. Aber manchmal hat am Ende unseres Besuches jemand den Mut, sich das Mikrofon zu schnappen und zu sagen: „Ich möchte Ihnen im Namen aller von uns danken, weil Sie immer kommen und uns nicht alleine lassen.“

Das ist Bindungspädagogik: Bindungen schenken, Freundschaft schenken … die Namen kennen! Mir fällt es wahnsinnig schwer, mir Namen zu merken, und im Gefängnis sind es viele, und immer kommen neue dazu. Aber ich habe mir vorgenommen: Ich muss die Namen der Jugendlichen behalten! Wenn ich plötzlich einen grüße und sage: Hallo Victor –  “Pa’i, che ndaha’ei Víctor!”[5], , und er ärgert sich fast, kann doch nicht sein, dass der pa’i meinen Namen verwechselt! So wichtig ist das persönliche Kennen, die persönliche Bindung. Genau das meint Pater Kentenich mit Bindungspädagogik.

Wisst ihr, wie schlimm es ist, wenn wir ein Treffen der Gruppe haben und drei sind nicht dabei? „Wir können das Treffen nicht machen, weil drei fehlen! Nächstes Mal müssen wir unbedingt alle da sein!“ Warum? Es gibt eine Bindung, wir müssen zusammen sein. Aber dann sage ich euch: „Nein, es müssen nicht alle da sein. Es müssen diejenigen da sein, die da sein wollen; und auch wenn drei fehlen, haben wir das beste Treffen des Jahres, und die drei, die nicht da sind, verpassen was!“ Eine Bindung, keine Abhängigkeit. Diese innere Freiheit ist auch sehr wichtig. „Wir sind eine Gruppe, und wir müssen alle bei allem dabei sein.“ – „Nein, wir sind eine Gruppe freier Menschen, die sich frei dafür entschieden, zusammen zu sein!“ Manchmal entscheiden sich einige frei dafür, nicht mehr dabei zu sein, aber wir sind trotzdem Freunde und ärgern uns nicht.

In der Gefängnispastoral und auch hier in der Casa Madre de Tupãrenda  betonen wir immer: Unsere eigene innere Freiheit gegenüber den Jugendlichen ist sehr wichtig! Wir können nur unsere Hand anbieten. Wenn der junge Mann sie ergreifen will, ist das seine Entscheidung. Wenn er sie wieder loslässt, ist es seine Entscheidung. Wenn er wieder Drogen nehmen will, wenn er sich verlieren und zerstören will, ist es seine Entscheidung. Aber wenn der junge Mann wieder auftaucht und unsere Hand wieder ergreifen will: Hier ist unsere Hand! Bindungspädagogik, aber mit viel innerer Freiheit.

El P. Kentenich spricht auch vom „übernatürlichen Bindungsorganismus“.Ich werde jetzt in diesem Teil nicht weiter darauf eingehen, weil ich euch viel über die Wichtigkeit von allem Religiösen, „Übernatürlichen“ im Gefängnis erzählt habe: Beichten,  Sakramente, Sonntagsmesse … Aber ein sehr wichtiger Teil hat mit dem letzten Teil unseres Vortrags zu tun:

 

Bündnispädagogik

Nun, das klingt jetzt sicher für euch alle vertraut: Mit wem schließen wir das Bündnis? Zuallererst mit der Gottesmutter, mit Maria!

Wie ich schon sagte, geben wir Maria im Gefängnis einen besonderen Titel: Maria ist „die Mutter, die uns nie verlässt“. Den Jungen dort sagen wir: „“Schau dir das Leben Jesu an: Maria war immer bei ihrem Sohn, sie hat ihn nie verlassen. Als er geboren wurde, als er aufwuchs, als er erzogen wurde … Selbst als sie ihn ausschimpfen musste, weil er in Jerusalem geblieben ist, ohne wenigstens eine WhatsApp zu schicken: „Mami, ich bin im Tempel geblieben!“ – Maria hat nicht das geringste Problem, ihn auszuschimpfen: „Dein Vater und ich haben dich drei Tage lang gesucht!‘, aber immer mit Liebe und mit Festigkeit. Auch in einem der schönsten Momente im Leben Jesu, als er bei der Hochzeit in Kana ein tolles Fest feierte: Da war Maria. Und im schwersten Moment, als er am Kreuz starb und fast alle seine Freunde ihn verließen, war da seine Mutter María. Maria hat ihren Sohn Jesus niemals verlassen! “

Jugendliche im Gefängnis lieben es, das zu hören. Viele von ihnen sind immer wieder verlassen worden: der Vater war irgendwie nie vorhanden, die Mutter ging zum Arbeiten nach Spanien und kam nie wieder. Oder die Mutter war mit dem gerade aktuellen Freund zusammen, die Beziehung mit dem „Stiefvater“ funktionierte nicht und die Mutter schmiss den Jungen daraufhin aus dem Haus. Oder die Mutter ist umgekommen. Oder war eine drogenabhängige Jugendliche, als das Kind auf die Welt kam, um das sie sich nie gekümmert hat. So viel Schmerz, so viel Abwesenheit, so viel Einsamkeit! Bündnispädagogik bedeutet dann, ihnen sagen zu können: „Du hast eine Mutter im Himmel, eine Mutter, die immer da ist, eine Mutter, die dich nie im Stich lässt! Jeden Abend kannst du sie bitten, dich in den Arm zu nehmen. Und jede Nacht und jeden Morgen kannst du sie bitten, dich zu einem guten Kind Gottes zu erziehen. Und du kannst ihr immer dein Mühen, dich zu ändern, schenken: „Mama Maria, heute nehme ich keine Drogen!“

Wenn die Jugendlichen endlich aus dem Gefängnis kommen und einige von ihnen in die Casa Madre de Tupãrenda,  haben sie sehr viel Freude daran, wenn wir dienstags im Heiligtum zusammen die heilige Messe feiern. An einem Dienstag hat sich aus irgendeinem Grund alles mehr in die Länge gezogen, und so habe ich gesagt: „Also gut, wir haben keine Zeit mehr, heilige Messe im Heiligtum zu feiern, beten wir also zusammen hier am Bildstock der Casa Madre.“ Einer der Jungen wurde richtig zornig und sagte laut: „Nein, ich will nicht hier beten, ich will ins Heiligtum gehen!“ – und betete nicht mit. Warum? Weil da eine Bindung an die Gottesmutter im Heiligtum gewachsen war. Vielleicht werden diese Jungen nie formell das Liebesbündnis schließen – mit schwarzem Anzug und roter Krawatte auf den Knien vor dem Altar, wie die Mannesjugend, aber da ist ein Bündnis!

Also, die Schönstatt-Pädagogik, reine Theorie? Oder lohnt es sich, sie genauer kennenzulernen? Hat sie etwas mit unserer Realität zu tun? War Pater Kentenich ein Genie? Dinge, die er vor über 80 Jahren gesagt hat, leben wir heute. Dinge, die vielleicht niemand zuvor in dieser Weise dargestellt hat – und wir haben das Privileg, all das zu leben! Wenn ihr also viel Geld und viel Zeit habt, kauft euch dieses Buch, die Pädagogischen Texte, um die Pädagogik Pater Kentenichs zu studieren und anzuwenden, es lohnt sich!

 

 

Transkription des gesprochenen Wortes: Tita Andras und José Argüello.
Überarbeitung und Ergänzung von P. Pedro Kühlcke

Original: Spanisch. Übersetzung: Maria Fischer @schoenstatt.org

 

[1]    King, 443. Dort auch die folgenden Zitate.
[2]    King, 445.
[3] Berater der SMJ von Tupãrenda
[4]    altes trockenes Brot
[5] „Ich bin nicht Victor!“

Kentenich-Pädagogik an der Peripherie (3)

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Freiheit im Gefängnis?

SOS Casa Madre de Tupãrenda – damit 22 Jugendliche die erste echte Chance ihres Lebens nicht verlieren!

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