Veröffentlicht am 2019-05-25 In Kentenich, Kolumne - Ignacio Serrano del Pozo, Themen - Meinungen

Die Mission des 31. Mai – mehr als ein Schlagwort: eine Antwort genau für heute

Ignacio Serrano del Pozo, Chile •

Ignacio Serrano del Pozo

Ich habe diese Kolumne über das Gedenken des 31. Mai geschrieben, wobei ich versuche, diesen Meilenstein Schönstatts nicht so sehr im Rückblick auf das historische Geschehen, sondern aus der aktuellen Krise der Kirche zu lesen. —

Zeit der Erinnerung und Zeit der Reflexion im Heute Schönstatts und der Kirche

Am kommenden 31. Mai feiern wir als Schönstatt-Bewegung 70 Jahre Mission, die Pater Kentenich uns vom Heiligtum in Bellavista anvertraut hat: einen Kreuzzug für organisches Denken, Leben und Lieben oder die vollkommene Wiederherstellung des natürlichen und übernatürlichen Bindungsorganismus, um es  in den klassischen Formulierungen zu benennen.

Es scheint mir nicht nur eine Gelegenheit zum Gedenken zu sein, sondern auch eine sehr gute Gelegenheit zum Nachdenken, d. h. zum Überdenken der Ideen, die in diesem neuen Gnadeneinbruch enthalten sind. Es kommt oft vor, dass Worte oder Formulierungen durch inflationären Gebrauch ihre Bedeutung oder Schlagkraft verlieren. Um eine Analogie zu verwenden, Es geht uns wie bei den  Sicherheitsanweisungen, die die Besatzung eines Flugzeugs jedes Mal gibt, wenn wir eine Reise antreten: Obwohl wir uns alle einig sind, dass dies wichtige, im Ernstfall überlebenswichtige Themen sind, haben wir sie so oft gehört, dass wir sie anhören, während wir auf dem Smartphone die letzten Mails checken,  ohne ihnen die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

Krisenzeit

Dieses Überdenken der Botschaft des Vaters und Gründers als charismatischer Vorschlag hat heute eine besondere Bedeutung, in einer Zeit, die von Machtmissbrauch und Vertrauenskrise innerhalb der Kirche und auch innerhalb der Schönstattfamilie geprägt ist, denn es verlangt zu prüfen, ob die Sendung des 31. Mai auch eine gültige Antwort für diese Kirche ist, die  in Schlangenlinien auf das Neue Ufer zusteuert. Wenn in den vergangenen Jahrzehnten eine unvollständige oder oberflächliche Lesung der Schlüsseltexte des Dritten Meilensteins nur als historische Ahnungslosigkeit und die mantrahafte Wiederholung der hier enthaltenen Kategorien als ausreichendes Wissen angesehen werden konnte,  so ist das nach dem, was wir als Weltkirche und als chilenische Kirche erlebt haben, nicht mehr möglich.

Mehr noch, wenn wir in dieser Zeit der Krise nicht danach streben, ein erneutes Verständnis und eine erneute Annahme des 31. Mai zu erreichen, wird uns die Schwere und Dringlichkeit der Krise dazu bringen, nach dem ersten Rettungring zu greifen, der auftaucht, sei es  Laiensynodalität, sei es Entmystifizierung des Klerus, sei es  transzendentale Meditation oder irgendetwas anderes, unabhängig davon, ob diese Strategien zu unserem Charisma passen oder nicht.

Sendungstreue

Mehr noch, wenn wir in dieser Zeit der Krise nicht danach streben, ein erneutes Verständnis und eine erneute Annahme des 31. Mai zu erreichen, wird uns die Schwere und Dringlichkeit der Krise dazu bringen, nach dem ersten Rettungring zu greifen, der auftaucht, sei es  Laiensynodalität, sei es Entmystifizierung des Klerus, sei es  transzendentale Meditation oder irgendetwas anderes, unabhängig davon, ob diese Strategien zu unserem Charisma passen oder nicht.

Ich möchte vielmehr anhand  drei konkreten Themen, die in der Mission von Bellavista enthalten sind, hetrachten, Themen, die auf dem Heilungsweg schönstättischer Prägung nicht vergessen werden dürfen, eben aus Treue zu demjenigen, der in „göttlicher Kraft“ alles riskiert und gegeben hat, um seine prophetische Botschaft zu künden.

 

Die Bedeutung des persönlichen Kontaktes

Mir scheint jedoch, dass es aus unserer charismatischen DNA heraus keine Möglichkeit gibt, auf den affektiven und effektiven Kontakt mit Menschenleben zu verzichten. Erstens, weil dies für uns im Mittelpunkt des Evangeliums steht: „Wenn jemand sagt: „Ich liebe Gott“ und gleichzeitig seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wenn man seinen Bruder, den man sieht, nicht liebt, kann man Gott nicht lieben, den man nicht sieht“ (Johannes 1,4-20).

Aber auch zweitens, weil Papst Franziskus selbst uns vor der Gefahr einer strikten, sterilen Religion gewarnt hat, die im Dienst einer bestimmten individuellen Erfahrung oder einer Reihe subjektiver Überlegungen steht. „Wenn jemand Antworten auf alle Fragen hat, zeigt er damit, dass er sich nicht auf einem gesunden Weg befindet; möglicherweise ist er ein falscher Prophet, der die Religion zu seinem eigenen Vorteil nutzt und in den Dienst seiner psychologischen und geistigen sinnlosen Gedankenspiele stellt. Gott übersteigt uns unendlich, er ist immer eine Überraschung, und nicht wir bestimmen, unter welchen geschichtlichen Umständen wir auf ihn treffen, denn Zeit und Ort sowie Art und Weise der Begegnung hängen nicht von uns ab. Wer es ganz klar und deutlich haben will, beabsichtigt, die Transzendenz Gottes zu beherrschen.  Genauso wenig kann man beanspruchen festzulegen, wo Gott nicht ist, weil er geheimnisvoll im Leben jeder Person anwesend ist, im Leben eines jeden, so, wie er will; wir können dies mit unseren vermeintlichen Gewissheiten nicht leugnen. Auch wenn jemandes Existenz eine Katastrophe gewesen sein sollte, auch wenn wir ihn von Lastern und Süchten zerstört sehen, ist Gott in seinem Leben da. Wenn wir uns mehr vom Geist als von unseren Überlegungen leiten lassen, können und müssen wir den Herrn in jedem menschlichen Leben suchen. Dies ist Teil des Mysteriums, das die gnostische Denkweise letztlich ablehnt, weil sie es nicht kontrollieren kann.“ (Gaudete et Exultate, 41, 42).

Darüber hinaus steht diese Forderung nach radikalen menschlichen Bindungen, die so tief sind, dass sie auf dieser Erde beginnen und nicht einmal im Himmel selbst enden („Wer zu unserem Herzen gekommen ist, ist gekommen, um zu bleiben“), schließlich im Mittelpunkt der Worte, die Pater Kentenich im Inneren des Heiligtums von Bellavista ausgesprochen hat: „Die Gottesmutter hat uns einander geschenkt. Wir wollen einander treu bleiben: ineinander, miteinander, füreinander im Herzen Gottes. Wenn wir uns dort nicht wiederfänden, das wäre etwas Schreckliches. Dort müssen wir uns wiederfinden! Sie dürfen nicht meinen: Wir gehen zu Gott, also verlassen wir einander. Ich will auch nicht bloß Wegweiser sein. Nein, wir gehen miteinander! Das ist auch die ganze Ewigkeit hindurch so. Was sind das für verkehrte Auffassungen, nur Wegweiser sein! Wir sind beieinander, um uns gegenseitig zu entzünden. Wir gehören einander für Zeit und Ewigkeit. Auch in der Ewigkeit sind wir ineinander. Es ist ein Liebesineinander von Mensch zu Mensch, ein ewiges Liebesineinander. Und ineinander und miteinander werden wir dann die liebe Gottesmutter und den dreifaltigen Gott anschauen.“ (Vortrag vom 31. Mai 1949).

Die Ablehnung minimalistischer Essentialismen

Die Krise, die wir erlebt haben, treibt uns zu einer zweiten Position, die in katholischen Kreisen oft gehört wird: der, nur zum Wesentlichen zu gehen und das scheinbar Periphere zu vermeiden.  Es geht darum, zu Christus und der Nacktheit seines Wortes zurückzukehren, ohne in seinen Botschaftern oder in den Kanälen, die seine Botschaft vermitteln, gefangen zu sein. Es geht darum, ob diese Haltung unserer Spiritualität gerecht wird, denn wenn nicht, dann endet sie damit, dass viele unserer wertvollsten Schätze als reines, verzichtbares Zubehör weggelassen werden: die Pädagogik des persönlichen Ideals und seiner Askese, die Arbeits- und Ausbildungsgemeinschaften, das Heiligtum selbst als konkreter Gnadenort und  Maria als Mutter und Erzieherin. War es nicht diese essentialistische Versuchung, die Josef Kentenich selbst in den 1930er Jahren in den liturgischen Kreisen und der deutschen Bibelbewegung wahrgenommen hat? Dort entdeckte er sogar den Keim des so genannten Bazillus des mechanistischen Denken, Lebens und Liebens, denn „sein separatistischer Geist zerreißt die Ideen des Lebens und macht diese Kreise unfähig, einer tiefen marianischen Hingabe ihren rechtmäßigen Platz in der vollen Entwicklung des katholischen Lebens zu geben“ (Josefsbrief, 1952).

Es ist auch wahr und richtig, dass diese Krise uns dazu drängt, viele Einstellungen und Strukturen loszuwerden, die eine Belastung sein könnten, die nur falsche Zusicherungen bietet. Wenn wir uns retten wollen, können und müssen wir viele Dinge wegwerfen, die zum Zeitpunkt eines Unfalls ihre Bedeutung verlieren, aber darunter dürfen nicht die Rettungswesten sein.

Bestätigung des Vaterprinzips

“Ich freue mich, in dieser Krise zu leben, die 70 Jahre nach dem 31. Mai stattfindet, denn jetzt ist es unmöglich, ein mittelmäßiger Schönstätter zu sein”

Aber drittens, und vielleicht am dramatischsten, ist es, dass die Machtmissbräuche der letzten Zeit das Prinzip der Autorität in Frage stellen und deren Demontage oder Abschaffung die einzige Alternative zu sein scheint, die in der Lage ist, eine neue Kirche aufzubauen, die horizontaler, brüderlicher und weniger missbräuchlich ist.

Die Frage ist, ob wir damit nicht sofort das zentralste Prinzip des Briefes vom 31. Mai angehen: die praktische Betrachtung, dass die menschliche Autorität transparent und repräsentativ für Gott den Vater ist.  Das ist zweifellos der schwierigste Teil der Mission, das zu akzeptieren, was der Gründer von Schönstatt vor 70 Jahren ausgesprochen hat. Ich wage sogar zu sagen, dass die gegenwärtige Krise es uns ermöglicht, uns ganz gut mit dem kanonischen Visitator Bischof Bernhard Stein, zu solidarisieren. Denn wenn wir es schnell analysieren, sollte man sagen, dass dieser Mann, der vorher als der unverständliche Bösewicht angesehen werden konnte, Kentenich vielleicht wirklich nur vor den Risiken warnte, die eine faszinierende Autorität seinen Anhängern auferlegen könnte, „bis hin, dass er für sich selbst den Platz Gottes beansprucht“.

Aber hier stellt sich erneut die grundlegende Frage: Darf diese Krise, entstanden aus den Schwächen und Sünden deren, die eine Form von Macht besitzen und sie schamlos missbrauchen,  uns dazu bringen, eines der Kernprinzipien der Botschaft von Schönstatt zu zerstören?Natürlich gibt es in dieser Frage eine Menge zu klären, zu studieren und (endlich) richtig anzuwenden: Wir müssen begreifen, was Autorität in der Perspektive Kentenichs bedeutet („Urheber des Lebens“, „Dienst an der Originalität des anderen“), sie immer aus dem Licht des Glaubens sehen und sie so aufzubauen, dass genügend Sicherungen der Machtentflechtung und Machtbegrenzung vorhanden sind („keine Forderung stellen, die die Autorität selbst nicht zu erfüllen gedenkt“, „Gehorsam in allem außer der Sünde“, „Ermutigung zu gesundem Freimut“, „Eingreifen nur, wenn es notwendig oder angebracht scheint“, und vieles mehr); aber das verdunkelt keineswegs die Tatsache, dass der 31. Mai  auf mehr väterliche Autorität und mehr kindliche Verknüpfung setzt; auf mehr, nicht weniger.

Es gilt das, was Pater Kentenich selbst in den letzten Jahren seines irdischen Lebens hervorgehoben hat: „Liebe zu einem Transparent Gottes (ist) also Mittel, Sicherung und Ausdruck der Liebe zum Himmelsvater. So müssen wir auch unser gegenseitigem Verhältnis auffassen. Hier haben Sie die große Gesetzmäßigkeit. Das ist nicht die Vergötzung einer Person, sondern die ‚Vergötzung‘ Gottes. Das ist nur ein Schutzmittel – eine Sicherung , ein Ausdruck und ein Mittel.“ (Vortrag für Mitglieder des Instituts der Frauen von Schönstatt, 1966).

Sind wir also bereit, trotz allem, was in der Vergangenheit geschehen ist, Gefahr zu laufen, den Grundsatz der Autorität auf der natürlichen Ebene durchzusetzen? Als Söhne und Töchter Kentenichs scheint es keine Alternative zu geben. Es geht um das Wagnis permanenter Spannungen, auf die genau diese im Heiligtum von Bellavista aufbewahrte Epistola perlonga hinweist.

Wenn das Flugzeug abstürzt, werden wir sicherlich die ganze Besatzung für das Geschehene verantwortlich machen wollen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es die Besatzung ist, die uns das Fliegen erst möglich macht. In gleicher Weise darf man sagen, dass eine starke Autorität sicherlich dazu führen kann, dass das Bewusstsein betäubt und die Freiheit zerstört wird, und wir haben dafür aktuelle Beispiele in Fülle zu Hand.

Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Wesen und ihre Sendung anders sind: die Gemeinschaft zu stärken, die Interessen der Gemeinschaft aufzunehmen, die Initiative anderer zu fördern, die Fähigkeit zum Denken und Handeln zu entwickeln und – vor allem – uns durch ihre Gegenwart und sein Handeln wieder mit Gott dem Vater selbst zu verbinden.

Pater Kentenich zitiert in seinem mythischen Brief die Worte von Pius XI.: „Ich freue mich, im zwanzigsten Jahrhundert zu leben, denn im zwanzigsten Jahrhundert ist es für den Christen unmöglich, mittelmäßig zu sein.“  Wir könnten diesen Ausdruck umschreiben, um heute zu sagen: „Ich freue mich, in dieser Krise zu leben, die 70 Jahre nach dem 31. Mai stattfindet, denn jetzt ist es unmöglich, ein mittelmäßiger Schönstätter zu sein.“

Über den Verfasser:

Schönstätter. Doktor der Philosophie an der Universität Navarra, Professor für Philosophie an der Adolfo Ibáñez Universität.  Fondecyt-Forscher,  Conicyt-Stipendiat. Direktor des Ausbildungsbereichs in Schule und Hochschule. Spezialist für moralische Erziehung und ethische Ausbildung. Fachgebiet: Grundlagen der Ethik, Zeitgenössische Anthropologische Probleme, Soziallehre der Kirche und Thomas von Aquin.

Vom selben Verfasser:

Drei Haltungen der Kindlichkeit gegenüber Pater Kentenich

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