Veröffentlicht am 2016-07-16 In Kampagne, Werke der Barmherzigkeit

Auf den Spuren von Papst Franziskus in der Villa 31

ARGENTINIEN, von Maria Fischer •

„Heute werde ich 40“, sagt freudestrahlend eine viel jünger aussehende Frau. Auf ihrem Schoß sitzen ihre beiden jüngsten Kinder. Und noch ehe wir das Geburtstagsständchen anstimmen können, überrascht sie alle Anwesenden mit der Verkündigung: „Und jetzt heiraten wir…“ Von der Treppe draußen, wo sich die Mehrheit der Männer herumdrückt, hört man ein etwas weniger kräftiges: „Ja, es ist wahr, wir werden heiraten.“ Der spontane Applaus ist kräftig und ehrlich. „Weißt du, er war Alkoholiker“, sagt Cristina, Missionarin der Kampagne, die mich zu dieser beeindruckenden Begegnung, dem Höhepunkt meines Besuchs in Argentinien, eingeladen hatte.

„Wir sind seit über 20 Jahren zusammen“, erzählt sie, „und wir haben wirklich viele schöne und schreckliche Zeiten erlebt, aber wir sind zusammen geblieben. Er hat getrunken, viel getrunken. Aber ich habe mir gesagt: ich lasse mich doch von einer Flasche, die nichts sagen kann, nicht unterkriegen! Ich kann reden und ich habe geredet und bin bei ihm geblieben. Und der hat aufgehört, er trinkt nicht mehr, und schon lange!“ Inzwischen ist er hereingekommen, sitzt auf dem Fußboden vor seiner Frau, schaut strahlend zu ihr herauf und sagt: „Ich trinke nicht mehr. Wir haben das geschafft.“ Und jetzt wollen sie heiraten. Ich schaue auf die Pilgernde Gottesmutter auf dem einfachen Tisch. Sie ist der Mittelpunkt dieses Treffens im zweiten Stock einer armseligen Behausung in der Villa 31, und ich sage ihr: „Du hast gewonnen.“

Amoris Laetitia: Hier versteht man, was Papst Franziskus damit meint

„Lange Zeit glaubten wir, dass wir allein mit dem Beharren auf doktrinellen, bioethischen und moralischen Fragen und ohne dazu anzuregen, sich der Gnade zu öffnen, die Familien bereits ausreichend unterstützten, die Bindung der Eheleute festigten und ihr miteinander geteiltes Leben mit Sinn erfüllten. Wir haben Schwierigkeiten, die Ehe vorrangig als einen dynamischen Weg der Entwicklung und Verwirklichung darzustellen und nicht so sehr als eine Last, die das ganze Leben lang zu tragen ist. Wir tun uns ebenfalls schwer, dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle  Schemata auseinanderbrechen.  Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen“(AL 37). Wie viel Liebe, wie viel Opfer, wie viel Überwindung, wie viel Treue in dieser Beziehung, in der die beiden Partner jetzt das Ehesakrament wünschen. Wie viel menschliche Größe und wie viel Offenheit für die Gnade.

„Der Blick Christi, dessen Licht jeden Menschen erleuchtet (vgl. Joh 1,9; Gaudium et spes, 22), leitet die Pastoral der Kirche gegenüber jenen Gläubigen, die einfach so zusammenleben oder nur zivil verheiratet oder geschieden und wieder verheiratet sind. In der Perspektive der göttlichen Pädagogik wendet sich die Kirche liebevoll denen zu, die auf unvollkommene Weise an ihrem Leben teilhaben: Sie bittet gemeinsam mit ihnen um die Gnade der Umkehr, ermutigt sie, Gutes zu tun, liebevoll füreinander zu sorgen und sich in den Dienst für die Gemeinschaft, in der sie leben und arbeiten, zu stellen […] Wenn eine Verbindung durch ein öffentliches Band offenkundig Stabilität erlangt – und von tiefer Zuneigung, Verantwortung gegenüber den Kindern, von der Fähigkeit, Prüfungen zu bestehen, geprägt ist –, kann dies als Chance gesehen werden, sie zum Ehesakrament zu begleiten, wo dies möglich ist“ (AL 78).

Ich hatte diese Abschnitte von Amoris Laetitia vorher gelesen. Verstanden habe ich sie in diesem Moment in der Villa 31, wo Kardinal Bergoglio mit strahlenden Augen in Erinnerung ist als einer, der zugehört und die Menschen hier immer wieder besucht und viele von denen, die an diesem kühlen Abend rund um die Pilgernde Gottesmutter von Schönstatt sitzen, getauft, gefirmt und getraut hat.

„Wir auch.“ Während ich an Amoris Laetitiae denke und aufrichtig dieses Paar bewundere, das noch nicht verheiratet ist, aber vielleicht mehr erprobte Treue bewiesen hat als viele „reguläre“ Ehepaare, hätte ich beinahe die nächste Verkündigung verpasst. „Wir auch.“ Das sind die Gastgeber, die Besitzer dieser Wohnung, die sie immer schon hochherzig für die Treffen der Schönstätter zur Verfügung gestellt haben, wobei sie selbst sich dann jedes Mal schleunigst aus dem Staub gemacht hatten. Schon seit geraumer Zeit bleiben sie da. „Wir auch.“ Und jetzt wollen auch sie heiraten. „Aber nicht an unserem Datum“, protestieren andere. „Wir … also, wir wollen nämlich auch heiraten, auch im Juli…“

„Sie sind mir zuvorgekommen“, sagt Cristina später. „Ich hatte schon daran gedacht, dass ich irgendwann einmal über Ehe reden möchte, aber sie sind mir zuvorgekommen. Das ist die Pilgernde Gottesmutter… Sie wirkt wirklich Wunder.“ Am Ende des Treffens waren wir Zeugen der Ankündigung von fünf Paaren, die das Ehesakrament wünschen.

Die Pilgernde Gottesmutter in der Villa 31

Villa 31 ist ein Elendsviertel in Buenos Aires, im Stadtteil Retiro, direkt hinter dem zentralen Omnibusbahnhof und in der Nähe der wichtigsten Bahngleise. Über 40.000 Menschen leben hier, etwa die Hälfte sind Argentinier, gefolgt von Paraguayern, Bolivianern und Peruanern.

Die Pilgernde Gottesmutter kam durch eine Missionarin aus Paraguay, die auf der Suche Arbeit nach Buenos Aires kam, in die Villa. Dort eroberte sie ein Herz nach dem anderen. Kinder, Jugendliche, Männer und Frauen haben das Liebesbündnis geschlossen. Sie arbeiten im Moment für einen Bildstock der Gottesmutter von Schönstatt. Die Villa 31 gehört ihr… An diesem Abend hat Adela, Stadträtin der Villa 31 und Koordinatorin der Schönstätter, uns am Eingang zur Villa abgeholt. Christina White besucht die Schönstätter hier schon seit einiger Zeit, mit ihr machten sie eine Wallfahrt zum Stadtheiligtum Confidentia, und am 18. Oktober wollen sie zum Vater-Heiligtum in Florencio Varela fahren. Mit Adela gehen wir durch die Straßen der Villa, über die Kardinal Jorge Mario Bergoglio so oft gegangen ist, diese Straßen mit dem Geruch von Armut, Gewalt, Drogen, Verzweiflung und tausenden von Geschichten des Kampfes um ein Leben in Würde, in Glück, im Glauben… Wir klettern über die steilste und abenteuerlichste Treppe meines Lebens hinauf in den zweiten Stock, wo uns gut vierzig Menschen, Erwachsene und Kinder, erwarten.

Cristina nutzt die Anwesenheit ihrer „deutschen Freundin“ und bittet sie, ihre Geschichten mit der Pilgernden Gottesmutter zu erzählen.  Schon bei der ersten bekomme ich die Antwort auf die Frage, die ich bei der Hochzeitsankündigung gestellt hatte: „Pilgernde Gottesmutter, wie machst du das?“

„Dieses Kind lag im Sterben“, erzählt eine junge Mutter. Gehirnhautentzündung. „Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht und gebetet, gebetet, gebetet, alle haben wir gebetet…“ Mit Tränen in den Augen erzählt sie, wie die ganze Gemeinschaft um die Fürbitte der Gottesmutter von Schönstatt gebetet hat. Und hier ist das Mädchen mit einem ansteckenden Lächeln in seinem hübschen Gesicht… So macht das die Pilgernde Gottesmutter. Sie beweist ihnen einfach, dass sie sie liebt. Sehr. Sie wirkt ganz einfach Wunder der Gnade.

Eine Geschichte folgt auf die andere, weit über eine Stunde lang zwischen Mate, Tränen und Gelächter, Geschichten von Heilungen, Bekehrungen, einem Platz in einer guten Schule für ein Kind, einer geretteten Beziehung, von Momenten von Gefahr, von Taufen, Kommunion, Firmungen, Liebesbündnis, Hochzeiten. Am Ende des Abends waren es fünf Paare, die ihre kirchliche Hochzeit ankündigten und dabei mein verrückter Wunsch, jetzt in diesem Moment Papst Franziskus hier zu haben und alle Synodenväter und alle Verantwortlichen der Familienpastoral weltweit…

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Gottesmutter, lass jede Familie das Paradies des Reiches Gottes in ihrem Haus erfahren

Und dann kommt der zweite Teil – jetzt wird der Rosenkranz gebetet. Die Kinder beten vor und das berührt sehr tief. Kinder im Alter von 6, 7, 8 Jahren, die mit Andacht, Ernst und Freude die Vaterunser und Ave Maria beten. Ein elfjähriges Mädchen wiederholt nach jedem Gesätz ein einfaches, starkes Gebet: „Gottesmutter, lass jede Familie das Paradies des Reiches Gottes in ihrem Haus erleben, damit jedes Haus geeint und unter deinem Schutzmantel ist.“ Wir berühren das Geheimnis des Wirkens der Pilgernden Gottesmutter in der Villa 31. Nach dem Rosenkranz beten wir für Papst Franziskus. Ich bin sicher, dass er oft für seine Leute aus der Villa 31 betet.

Wir schließen den Abend mit einem reichhaltigen, leckeren Abendessen; keine Ahnung, wie und wann das für so viele Leute gekocht worden ist…

Es ist fast Mitternacht, als wir in einem von Adela organisierten Auto zurückfahren über diese Straßen der Villa 31 mit dem Geruch von Heiligtum.

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Original: Spanisch. Übersetzung: Maria Fischer, schoenstatt.org

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