Veröffentlicht am 2019-12-22 In Franziskus - Botschaft, Franziskus - Initiativen und Gesten

Wenn ich diese Schwimmweste und das Kreuz anschaue …

PAPST FRANZISKUS UND MIGRANTEN, Redaktion•

Am Ende der Audienzen am 19. Dezember, wenige Tage vor Weihnachten, traf der Heilige Vater die Flüchtlinge, die vor kurzem dank der humanitären Korridore aus Lesbos gekommen waren, und ließ am Eingang des Apostolischen Palastes vom Patio del Belvedere aus ein Kreuz zum Gedenken an die Migranten und Flüchtlinge aufstellen. —

Papst Franziskus traf im Cortile del Belvedere im Vatikan die  neulich aus Lesbos durch die humanitären Korridore des apostolischen Almosenwesens und der Gemeinschaft Sant’Egidio nach Rom gekommenen Flüchtlinge.

Der Ort ist bewusst gewählt: Hier gehen die Staatschefs zu ihren Audienzen beim Papst vorbei.

Franziskus hat in seinem Instragram- und Twitter-Account am gleichen Tag geschrieben,  dass er beschlossen habe, „diese Rettungsweste, ‚gekreuzigt‘, auszustellen, um alle an den unausweichlichen Einsatz zur Rettung aller Menschenleben zu erinnern, denn das Leben eines jeden Menschen ist kostbar in den Augen Gottes“. „Der Herr wird uns darüber zur Rechenschaft ziehen, wenn das Gericht kommt“, sagte er.

 

Nachfolgend veröffentlichen wir die Rede, die der Papst an die Anwesenden während des Treffens gerichtet hat, in eigener Übersetzung, da eine offizielle seitens des Vatikan (noch) nicht vorliegt:

Ansprache des Heiligen Vaters

Dies ist die zweite Schwimmweste, die ich geschenkt bekommen habe. Die erste wurde mir vor einigen Jahren von einer Gruppe von Seenotrettern gegeben. Sie gehörte einem Mädchen, das im Mittelmeer ertrunken ist. Ich habe es den beiden Unterstaatssekretären der Sektion für Migranten und Flüchtlinge des Dikasteriums für den Dienst der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung gegeben. Ich sagte ihnen: „Das ist eure Mission!“ Damit wollte ich das unvermeidliche Engagement der Kirche unterstreichen, das Leben von Migranten zu retten, damit sie dann aufgenommen, geschützt, gefördert und integriert werden können.

Diese zweite Weste, die erst vor wenigen Tagen von einer anderen Gruppe von Rettern abgegeben wurde, gehörte einem Migranten, der im vergangenen Juli auf See verschwand. Niemand weiß, wer er war oder wo er herkommt. Es ist nur bekannt, dass seine Weste am 3. Juli 2019 an bestimmten geographischen Koordinaten im zentralen Mittelmeer treibend gefunden wurde. Wir stehen vor einem weiteren, durch Ungerechtigkeit verursachten Tod. Ja, denn es ist die Ungerechtigkeit, die viele Migranten dazu zwingt, ihr Land zu verlassen. Es ist die Ungerechtigkeit, die sie dazu zwingt, die Wüsten zu durchqueren und in den Gefangenenlagern Misshandlungen und Folter zu erleiden. Es ist die Ungerechtigkeit, die sie ablehnt und sie auf See sterben lässt.

Die Weste „trägt“ ein Kreuz aus farbigem Harz, das die spirituelle Erfahrung, die ich in den Worten der Helfer festgehalten habe, ausdrücken soll. In Jesus Christus ist das Kreuz die Quelle des Heils, „Torheit für die, die verloren gehen“, sagt der heilige Paulus, „aber für die, die gerettet werden, ist es die Kraft Gottes“ (1 Kor 1,18). In der christlichen Tradition ist das Kreuz ein Symbol des Leidens und des Opfers und gleichzeitig der Erlösung und des Heils.

Ich habe beschlossen, diese Rettungsweste hier zu zeigen, „gekreuzigt“ an diesem Kreuz, um uns daran zu erinnern, dass wir unsere Augen offen haben müssen, unsere Herzen offen haben müssen, um jeden an die zwingende Verpflichtung zu erinnern, jedes menschliche Leben zu retten, eine moralische Pflicht, die Gläubige und Nicht-Gläubige gleichermaßen vereint.
Dieses Kreuz ist transparent: es stellt eine Herausforderung dar, genauer hinzuschauen und immer die Wahrheit zu suchen. Das Kreuz leuchtet: es will unseren Glauben an die Auferstehung, den Triumph Christi über den Tod, ermutigen. Auch der unbekannte Migrant, der in der Hoffnung auf neues Leben starb, hat an diesem Sieg teil. Die Helfer erzählten mir, wie sie von den Menschen, die sie retten können, Menschlichkeit lernen. Sie haben mir offenbart, wie sie in jeder Mission die Schönheit wiederentdecken, eine große Menschheitsfamilie zu sein, vereint in universeller Brüderlichkeit.

Ich habe beschlossen, diese Rettungsweste hier zu zeigen, „gekreuzigt“ an diesem Kreuz, um uns daran zu erinnern, dass wir unsere Augen offen haben müssen, unsere Herzen offen haben müssen, um jeden an die zwingende Verpflichtung zu erinnern, jedes menschliche Leben zu retten, eine moralische Pflicht, die Gläubige und Nicht-Gläubige gleichermaßen vereint.

Wie können wir den verzweifelten Schrei so vieler Brüder und Schwestern nicht hören, die sich lieber einer stürmischen See stellen würden, als langsam in libyschen Gefangenenlagern, Orten der Folter und schändlicher Sklaverei zu sterben? Wie können wir gleichgültig bleiben gegenüber den Misshandlungen und der Gewalt, deren Opfer die Unschuldigen sind, und sie der Gnade skrupelloser Menschenhändler ausliefern? Wie können wir wie der Priester und der Levit im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,31-32) „vorübergehen“ und uns für ihren Tod verantwortlich machen? Unsere Faulheit ist eine Sünde!

Ich danke dem Herrn für all jene, die sich entschieden haben, nicht gleichgültig zu bleiben und die ihr Bestes tun, um dem Unglücklichen zu helfen, ohne sich zu viele Fragen darüber zu stellen, wie oder warum sie auf ihrem Weg auf diesen armen, halbtoten Mann gestoßen sind. Man löst das Problem nicht dadurch, dass man Rettungsschiffe festsetz! Wir müssen uns ernsthaft für die Räumung der Gefangenenlager in Libyen einsetzen und alle möglichen Lösungen bewerten und umsetzen. Wir müssen die Menschenhändler, die die Migranten ausbeuten und misshandeln, anprangern und verfolgen, ohne Angst davor, dass sie ihre Kollaboration und Komplizenschaft mit den Institutionen aufdecken. Wirtschaftliche Interessen müssen beiseite gestellt werden, damit die Person, jeder Mensch, dessen Leben und Würde in den Augen Gottes wertvoll sind, im Mittelpunkt steht. Wir müssen helfen und retten, denn wir alle sind für das Leben unseres Nächsten verantwortlich, und der Herr wird uns am Tag des Gerichts darum bitten, darüber Rechenschaft abzulegen. Danke.

Nun, wenn man auf diese Weste schaut und auf das Kreuz schaut, soll jeder in der Stille beten.

Der Herr segne euch alle.

 

Fotos und Video: Vatican Media

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