Veröffentlicht am 2015-09-26 In Franziskus - Botschaft

Träume, dass die Welt mit dir anders sein kann! Träume, dass du, wenn du dein Bestes gibst, dazu beitragen wirst, dass diese Welt anders wird!

PAPST FRANZISKUS IN KUBA – MISSIONAR DER BARMHERZIGKEIT •

Von der Kathedrale in La Habana aus ging der Heilige Vater zum Kulturzentrum Félix Varela, wo ihn bei strömendem Regen Tausende von Jugendlichen erwarteten – Katholiken, Gläubige anderer Konfessionen, Nichtgläubige … Und wieder ließ sich Franziskus von den Zeugnissen anregen, legte seine vorbereitete Rede beiseite und improvisierte, diesmal zu den beiden Themen: Träumen und Hoffnung.

Vollständiger Text:

Ihr steht, und ich sitze. Was für eine Schande! Doch ihr sollt wissen, warum ich mich gesetzt habe: weil ich mir einige Notizen gemacht habe zu dem, was unser Kamerad gesagt hat, und darüber möchte ich sprechen. Ein Wort ist mit besonderem Nachdruck gefallen: träumen. Ein lateinamerikanischer Schriftsteller hat gesagt, dass wir Menschen zwei Augen haben: eines aus Fleisch und eines aus Glas. Mit dem fleischlichen Auge sehen wir das, was wir erblicken, mit dem Glasauge sehen wir das, was wir erträumen. Schön, nicht wahr?

In die Objektivität des Lebens muss die Fähigkeit zu träumen eindringen. Und ein junger Mensch, der nicht zu träumen vermag, befindet sich in der „Klausur“ seiner selbst, ist in sich selbst eingeschlossen. Jeder träumt manchmal Dinge, die nie eintreffen… Doch träume von ihnen, ersehne sie, suche Horizonte ab, öffne dich, öffne dich für Großes! Ich weiß nicht, ob man in Kuba das Wort gebraucht, aber wir Argentinier sagen: „No te arrugues!“ Nicht den Mut verlieren, öffne dich! Öffne dich und träume! Träume, dass die Welt mit dir anders sein kann! Träume, dass du, wenn du dein Bestes gibst, dazu beitragen wirst, dass diese Welt anders wird! Vergesst das nicht, träumt! Manchmal entgleitet es eurer Kontrolle, und ihr träumt allzu sehr, und dann schneidet euch das Leben den Weg ab. Macht nichts, träumt! Und erzählt eure Träume! Erzählt, sprecht von den großen Dingen die ihr ersehnt, denn je größer die Fähigkeit zu träumen ist, umso länger ist die Strecke, die du gegangen bist, wenn dich das Leben auf halbem Weg zurücklässt. Darum vor allem träumen!

Du hast da einen kleinen Satz gesagt, den ich hier schriftlich in deinem Beitrag hatte, aber ich habe ihn unterstrichen und einige Notizen dazu gemacht: dass wir den aufzunehmen und zu akzeptieren wissen, der anders denkt als wir. Tatsächlich sind wir manchmal verschlossen. Wir begeben uns in unsere kleine Welt: „Entweder ist es so wie ich will, oder es ist nichts zu machen.“ Und du bist noch weiter gegangen: dass wir uns nicht in die „Konventikel“ der Ideologien oder in die „Konventikel“ der Religionen einschließen sollen. Dass wir wachsen mögen angesichts der Individualismen. Wenn eine Religion zum Konventikel wird, verliert sie das Beste, was sie besitzt, verliert sie ihr eigentliches Wesen, nämlich Gott anzubeten, an Gott zu glauben. Dann ist sie ein Konventikel. Ein Konventikel aus Worten, aus Gebeten, aus einem „ich bin gut, ihr seid schlecht“, aus moralischen Prinzipien. Und wenn ich an meiner Ideologie, meiner Denkweise festhalte und du an deiner, dann schließe ich mich in diesen Konventikel der Ideologie ein.

Offenes Herz, offener Geist. Wenn du anders denkst als ich, warum sollten wir nicht darüber sprechen? Warum streiten wir immer über das, was uns trennt, über das, worin wir uns unterscheiden? Warum reichen wir uns nicht die Hand in dem, was wir gemeinsam haben? Wir sollten den Mut fassen, über das zu sprechen, was wir gemeinsam haben. Und danach können wir über das sprechen, was uns unterscheidet und worin wir unterschiedlicher Ansicht sind. Ich sage aber: sprechen. Ich sage nicht: streiten. Ich sage nicht: uns verschließen. Ich sage nicht: „tratschen“, um dein Wort zu gebrauchen. Das ist aber nur möglich, wenn ich über das zu sprechen vermag, das ich mit dem anderen gemeinsam habe, über das, was uns befähigt, gemeinsam zu arbeiten. In Buenos Aires war eine Gruppe junger Universitätsstudenten dabei, in einer neuen Pfarrei in einer sehr, sehr armen Zone einige Pfarrsäle zu bauen. Und der Pfarrer sagte mir: „Kommen Sie doch einmal an einem Samstag, dann stelle ich sie Ihnen vor.“ Samstags und sonntags arbeiteten sie an dem Bau. Es waren Jungen und Mädchen von der Universität. Ich kam und sah sie, und sie wurden mir vorgestellt: „Das ist der Architekt, er ist Jude; dieser ist Kommunist, der hier ist praktizierender Katholik, dieser ist…“ Alle waren verschieden, aber alle arbeiteten gemeinsam für das Gemeinwohl. Das bedeutet soziale Freundschaft, das Gemeinwohl suchen. Die soziale Feindschaft zerstört. Und durch die Feindschaft wird eine Familie zerstört. Durch die Feindschaft wird ein Land zerstört. Durch die Feindschaft wird die Welt zerstört. Und die größte Feindschaft ist der Krieg. Und heute sehen wir, dass die Welt dabei ist, sich durch den Krieg zu zerstören. Denn sie sind unfähig, sich an einen Tisch zu setzen und miteinander zu sprechen: „Gut, verhandeln wir. Was können wir gemeinsam tun? Worin werden wir nicht nachgeben? Aber lasst uns keine Menschen mehr töten!“ Wenn es Spaltung gibt, gibt es Tod. Gibt es den Tod in der Seele, denn wir töten die Fähigkeit, Einheit zu bilden. Dann töten wir die soziale Freundschaft. Und das ist es, worum ich euch heute bitte: Seid fähig, soziale Freundschaft zu bilden!

Dann habe ich ein weiteres Wort unterstrichen, das du gesagt hast. Das Wort „Hoffnung“. Die Jugendlichen sind die Hoffnung eines Volkes. Das hören wir überall. Doch was ist Hoffnung? Bedeutet es, Optimisten zu sein? Nein. Der Optimismus ist eine seelische Verfassung.. Wenn du morgen mit Leberschmerzen aufwachst, bist du kein Optimist, dann siehst du alles schwarz. Die Hoffnung ist mehr. Die Hoffnung ist geduldig. Die Hoffnung versteht zu leiden, um einen Plan voranzubringen, sie weiß sich aufzuopfern. Bist du fähig, dich für eine Zukunft zu opfern, oder willst du nur die Gegenwart leben, und die nächsten Generationen sollen sehen, wie sie zurechtkommen? Die Hoffnung ist fruchtbar. Die Hoffnung schenkt Leben. Bist du imstande, Leben zu schenken, oder bist du ein geistig steriler Junge bzw. ein geistig steriles Mädchen, unfähig Leben für die anderen zu schaffen, unfähig, soziale Freundschaft zu schaffen, unfähig, Heimat zu schaffen, unfähig, Großes zu schaffen? Die Hoffnung ist fruchtbar. Die Hoffnung widmet sich der Arbeit.

Hier möchte ich ein sehr schwerwiegendes Problem erwähnen, das zurzeit in Europa erlebt wird: die Menge der jungen Menschen, die keine Arbeit haben. Es gibt Länder in Europa, in denen vierzig Prozent der Jugendlichen unter fünfundzwanzig Jahren arbeitslos sind. Ich denke da an ein bestimmtes Land. In einem anderen sind es siebenundvierzig Prozent, in einem anderen fünfzig. Ein Volk, das sich nicht darum kümmert, den Jugendlichen Arbeit zu geben, ein Volk – und wenn ich „Volk“ sage, dann sage ich nicht „Regierung“ –, das ganze Volk, das sich nicht um die Menschen kümmert, darum, dass diese Jugendlichen Arbeit haben: Es ist klar, dass ein solches Volk keine Zukunft hat.

Die Jugendlichen werden zu einem Teil der Wegwerfkultur. Und wir wissen alle, dass heute in diesem Reich des „Götzen Geld“ Dinge weggeworfen werden und Menschen weggeworfen werden. Kinder werden weggeworfen, weil man sie nicht will, oder man tötet sie vor der Geburt. Die Alten werden weggeworfen – ich spreche von der Welt allgemein –, die Alten werden weggeworfen, weil sie nichts mehr produzieren. In einigen Ländern gibt es ein Euthanasiegesetz, aber in vielen anderen gibt es eine verborgene, verhüllte Euthanasie. Die jungen Menschen werden weggeworfen, weil man ihnen keine Arbeit gibt. Was bleibt dann einem Jugendlichen ohne Arbeit? In einem Land, in einem Volk, das keine Arbeitsmöglichkeiten für seine Jugend erfindet, bleiben diesem jungen Menschen nur, der Sucht zu verfallen oder seinem Leben selbst ein Ende zu bereiten oder aber herumzulaufen auf der Suche nach Streitkräften, die alles zerstören und Kriege anzetteln. Diese Wegwerfkultur bekommt uns allen schlecht, sie nimmt uns die Hoffnung. Und Hoffnung ist das, was du für die Jugendlichen gefordert hast: Wir wollen Hoffnung. Eine Hoffnung, die geduldig, arbeitsam und fruchtbar ist; die uns Arbeit gibt und uns vor der Wegwerfkultur errettet. Und diese Hoffnung versammelt, sie ruft alle zusammen, denn ein Volk, das sich selbst „zusammenzurufen“ weiß, um auf die Zukunft zu schauen und soziale Freundschaft zu bilden – wie du gesagt hast, auch wenn man unterschiedliche Ansichten hat –, ein solches Volk hat Zukunft.

Wenn ich einem jungen Menschen ohne Hoffnung begegne – ich habe es schon einmal gesagt –, dann ist das für mich ein „pensionierter“ Jugendlicher. Es gibt junge Menschen, die anscheinend mit zweiundzwanzig Jahren in Pension gehen. Das sind Jugendliche mit einer existentiellen Traurigkeit. Es sind Jugendliche, die ihr Leben einem prinzipiellen Defätismus verschrieben haben. Jugendliche, die klagen, Jugendliche, die vor dem Leben fliehen. Der Weg der Hoffnung ist nicht leicht, und man kann ihn nicht alleine gehen. Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das besagt: „Wenn du schnell gehen willst, geh‘ allein; wenn du aber weit kommen willst, dann gehe in Begleitung.“ Und ich bitte euch, junge Kubaner, dass ihr, auch wenn ihr unterschiedliche Denkweisen habt, auch wenn ihr unterschiedlicher Ansichten seid, in Begleitung geht, gemeinsam, auf der Suche nach der Hoffnung, auf der Suche nach der Zukunft und der Noblesse der Vaterlandes.

Wir haben mit dem Wort „träumen“ begonnen, und ich möchte mit einem anderen Wort schließen, das du gesagt hast und das ich oft gebrauche: „die Kultur der Begegnung“. Bitte, dulden wir keine Spaltung untereinander. Gehen wir in Begleitung, vereint! In wechselseitiger Begegnung, auch wenn wir unterschiedlich denken, unterschiedlich empfinden. Doch es gibt etwas, das uns überragt, und das ist die Größe unseres Volkes, die Größe unseres Vaterlandes, diese Schönheit, diese süße Hoffnung des Heimatlandes ist es, zu der wir gelangen müssen. Vielen Dank.

Gut, ich verabschiede mich mit den besten Wünschen für euch. Ich wünsche euch… alles, was ich euch gesagt habe. Ich wünsche es euch. Ich werde für euch beten. Und ich bitte euch, für mich zu beten. Und wenn jemand unter euch keinen Glauben hat – und nicht beten kann, weil er nicht glaubt –, dann möge er mir wenigstens Gutes wünschen. Gott segne euch, er führe euch auf diesem Weg der Hoffnung zu einer Kultur der Begegnung – unter Vermeidung jener „Konventikel“, von denen unser Kamerad gesprochen hat. Gott segne euch alle!

Text der vorbereiteten Ansprache

Alle Texte (zusammengestellt mit kurzer Zusammenfassung von Radio Vatikan)

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