Veröffentlicht am 2016-07-10 In Was bedeutet das Jahr der Barmherzigkeit?

Barmherzigkeit – das geht um Leben und Solidarität mit allen

Von Bischof Francisco Pistilli von Encarnación, Paraguay •

Wenn man von Barmherzigkeit spricht, dann fängt man an, an viele Dinge zu denken… Ich möchte gerne von etwas ganz Konkretem in diesem Jahr sprechen, und zwar wie Gott selbst uns seit vergangenen Februar in Gleichklang mit dem Heiligen Jahr gebracht hat.

Wegen der Überschwemmungen des Río Paraguay und der vielen Ortschaften, die im Bereich von Pilar unter Wasser standen, bildete sich hier in Encarnación ein Team namens „Itapúa solidaria“,  solidarisches Itapúa, indem sich Initiativen der Regierung, der Stadt, des Rotary Club, der katholischen Kirche und zahlreicher evangelischer Kirchen bündelten.

Wir haben uns zusammengetan für eine solidarische Kampagne für die vielen Menschen, die ihre Häuser verloren hatten, die dringend Kleidung und Medikamente brauchten. Innerhalb weniger Tage zündete die Initiative bei den Bürgern, die sich in Bewegung setzten, und seit diesem Moment verwandelte sich der Saal des Bischofshauses in eine Empfangsstelle für jede Menge von Kleidung und Lebensmitteln.

Es gibt wunderbare Zeugnisse von den Leuten, die ihre Spenden brachten. Eine meiner schönsten Erfahrungen ist die von einem alten Herrn, einem ganz einfachen und wirklich armen Mann, der mit einer Plastiktüte mit Kleidung kam und sagte: „Ich habe von dieser Initiative gehört. Und ich möchte auch mitwirken.“ Es war deutlich, dass er wirklich selbst kaum etwas hatte, doch von dem Wenigen, das er besaß, wollte er etwas geben. Das hat mich an die Stelle im Evangelium erinnert, wo Jesus von der armen Witwe spricht, die das letzte gegeben hat, was sie selbst zum Leben hatte (vgl. Lk 21, 1-4; Mk 12, 41-44).

Barmherzigkeit überschreitet Konfessionen, Ideologien und politische Richtungen

Ich glaube, Gott hat uns darein geholt, damit wir uns bewusst werden, dass man den pastoralen Wert der Barmherzigkeit sehen kann oder viel Theologisches darüber denken kann, aber dass es  bei der Barmherzigkeit nur um Leben geht, um die Begegnung mit dem realen Leben und Solidarität mit allen und unter allen geht. Es ist etwas, das Konfessionen, politische Richtungen, Denkweisen und Ideologien überschreitet, denn in diesen Situationen steht man vor den konkreten Menschen mit ihren konkreten Problemen, eben vor dem konkreten Leben. Und da braucht es Empathie, Verständnis, Trost und eben Unterstützung.

Das Schöne daran war die Erfahrung, dass wir zusammenarbeiten können, dass wir ernsthaft gemeinsam ein Projekt durchtragen können ohne um irgendwelche Profilierungen zu kämpfen. Es ist einfach nie passiert, dass irgendeiner der Beteiligten den Notleidenden sagte: „Wir, wir sind gekommen, um Eure Probleme zu lösen.“

So haben wir miteinander viele Lastwagen gepackt und in die Notgebiete gefahren. Wir wollten auch selber mitfahren und die Dinge übergeben, die Leute vor Ort treffen und die Verteilung der Kirche von Pilar anvertrauen, die das mit großer Dankbarkeit übernommen hat.

Barmherzigkeit ist ansteckend

Dann passieren wunderbare Dinge, denn Barmherzigkeit ist ansteckend. In der Stadt selbst hatte es vorher starke Spannungen gegeben, verschiedene Parteien stritten darum, wer Ruhm und Ehre für die geleisteten Arbeiten einheimsen würde. Genau diese Leute sagten, als sie uns so zusammenarbeiten sahen: „Lassen wir die Spannungen beiseite und arbeiten wir für das, was notwendig ist, und vergessen wir all das andere.“ Ich glaube, dahinter steht etwas von Gott, der das bewirkt hat, denn das war ja nicht geplant. Viele Leute haben einfach mitgearbeitet, die Motivation war sehr hoch.

Es war durchaus viel Arbeit, denn wir mussten die Laien, in der großen Mehrheit Ehrenamtliche, ja dorthin bringen. In Paraguay ist Februar Zeit der Sommerferien, und sie haben einen großen Teil ihres Urlaubs geopfert, um einfach da zu sein, jeden Tag Spenden entgegenzunehmen und zu sortieren, und das alles immer mit einem Lächeln. Das haben wir bei der Evaluierung dieses Projektes besonders hervorgehoben.

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Was bedeutet das Jahr der Barmherzigkeit für Sie nach dem ersten Jahr als Bischof von Encarnación?

Für mich hat dieses Projekt das ideale Klima geschaffen, um dieses Jahr der Barmherzigkeit zu verstehen und zu leben. Wir sind dabei, weitere Initiativen anzuregen. Als Bischof der Diözese wollte ich nicht sagen: „Wir alle machen eine Sache“, sondern habe jede Pfarrei, jede Kapelle, jede Pastoral, jede Katechese, jede Jugendpastoral, Familienpastoral angeregt, in ihr Jahresprogramm ein Projekt der Werke der Barmherzigkeit aufzunehmen, das sie selbst zu entscheiden, indem sie auf ihre nächstgelegene Peripherie schauen. Dass sie herausgehen und den Menschen begegnen und dann überlegen, was sie tun, wie sie helfen können. Es ging auch darum, anzuregen, sich bewusst zu machen, welches die Werke der Barmherzigkeit sind und einfach zu lernen, diese zu tun, also das nicht bloß zu lesen oder auswendig zu lernen, sondern zu tun. Diese Empfehlung steht und daran wird gearbeitet.

Pastorale Umkehr für eine Kirche im Herausgehen

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Darüber hinaus arbeiten wir in diesem Jahr an einem neuen Pastoralplan. Das bedeutet, auf uns als Kirche zu schauen und uns der Aufgabe einer pastoralen Umkehr zu stellen, zu der Papst Franziskus uns in Evangelii Gaudium einlädt (Nr. 25 – 31) und bereit zu werden, eine Kirche im Herausgehen zu werden. Darum geht es konkret darum, in den Pfarreien zu schauen, welche Beziehung sie nach außen haben.

Das ist eine mehr gedankliche Arbeit, die aber ausgeht vom Kontakt mit der Wirklichkeit, um unserer Kirche zu helfen, nicht in einer Idee von Heiligkeit hängenzubleiben oder in einem großartigen Vorsatz, sondern wirklich herauszugehen und den Leuten zu begegnen und zu sehen, was sie wirklich brauchen, das heißt, dass sie sich einfach trauen, über das Gewohnte und Bekannte hinaus zu schauen. Davon bin ich fest überzeugt: Barmherzigkeit hilft uns, etwas weiter zu schauen, damit uns nicht das passiert, was so oft passiert, dass wir unter uns bleiben und uns untereinander übereinander beschweren…

Ich glaube, das ist schon eine sehr positive Wirkung des Jahres der Barmherzigkeit. Viele haben sich vorgenommen, mit dem Jammern und Klagen aufzuhören und etwas weiter zu schauen. Und indem man weiter schaut, können viele sagen: „Meins ist nichts im Vergleich zu dem, was anderen passiert“, und das verändert das Klima, die Atmosphäre.

Klimawandel in der Kirche

Ich stelle mir vor, dass Papst Franziskus genau das mit dem Jahr der Barmherzigkeit wollte: uns bereit machen für einen „Klimawandel in der Kirche“. Und wenn ich mir anschaue, wie die Diözese Encarnación das aufnimmt, dann glaube ich, dass ein großer Prozentsatz sich im Sinne des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit engagiert und dieser Klimawandel auf dem Weg ist.

Natürlich bleibt der „alte Mensch“ (Eph 4,22), egal wie sehr wir uns auch bemühen, ihn „sterben“ zu lassen, höchst lebendig ins uns, der ist zäh und gibt so schnell nicht auf. Wir können uns wohl nie ganz davon lösen, wir wollen immer wieder doch zurück in die alten bekannten Routinen. Aber trotzdem erneuert das Saatkorn des von Barmherzigkeit geprägten „neuen Menschen“ die Seelen. Man spürt das überall und auch besonders bei der Jugend.

Vielleicht steht darum in diesem Jahr der Barmherzigkeit der rein „fromme“ Aspekt nicht so klar im Vordergrund, wenn er auch da ist. Das heißt, Ablass und Wallfahrten haben in den Pfarreien und in der Pastoral schon auch ihren Raum. Aber was die Herzen am meisten berührt, ist diese Haltung: „Wir sind nicht nur für unsere eigene Heiligung da, sondern dafür, herauszugehen und Barmherzigkeit zu üben.“

Was bedeutet das Jahr der Barmherzigkeit für Schönstatt?

13220967_1559439747685208_5609851837695441549_nIch glaube, eine weitere für mich sehr wichtige Botschaft in Blick auf die Barmherzigkeit ist ein Wort unseres Vaters und Gründers: „Im Meer der Barmherzigkeit schwimmen“. Wir können unser Leben nicht verstehen ohne dieses Umarmtsein von der Barmherzigkeit Gottes. In dieser Barmherzigkeit erhebt Gott uns, gibt er uns Würde, befreit er uns, nimmt uns an wie wir sind und lädt uns ein, besser zu werden, zu wachsen; aber zuallererst nimmt er uns an und umarmt uns. Und in dieser Barmherzigkeit finden wir Hoffnung und einen positiven Lebensweg.

Von den vielen Worten und Erfahrungen Pater Kentenichs zum Thema Barmherzigkeit erinnere ich immer sehr gern an die Anregung, immer in die Barmherzigkeit Gottes eingetaucht zu leben, in der barmherzigen Umarmung Gottes, zu spüren, wie er uns anschaut. Das hilft, Seele, Blick und Herz zu reinigen… Denn das bedeutet auch, den anderen als Bruder zu sehen, auf gleicher Ebene und sich nicht darin zu verlieren, wer höher steht als der andere. Dieses Rangeln um Positionen und Stellungen richtet so viel Schaden an und bringt überhaupt nichts.

Ich denke, das berührt Herzen. Ich möchte nicht viel theoretisieren, sondern im Laufe des Jahres lieber noch mehr entdecken, welche weiteren Früchte sich in der Diözese Encarnación zeigen werden. Da könnten wir beispielsweise an die Priester denken, die durch die Beichten die Barmherzigkeit entdecken, aber das wird man erst später auswerten können.

Sie werden sicher auch Zeugnis davon geben können davon, was es in diesem Jahr bedeutet hat, diejenigen aufzunehmen, die so sehr die Vergebung brauchen, diese Umarmung Gottes, die in den Sakramenten, besonders im Sakrament der Versöhnung, Barmherzigkeit finden. Daran arbeiten wir.

Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer

Einen anderen Wunsch möchte ich noch anfügen, nämlich dass sich unser Verständnis als Christen und Kirche verändert, dass es nicht nur ein Jahr ist, in dem wir irgendeinen Segen bekommen, sondern dass sich unsere Einstellung ändert.

Es geht, denke ich, darum, zu den biblischen Worten zurückzukehren: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Hosea 6,6-7; Mt 9,13). Wenn Gott so barmherzig mit uns ist, dann müssen auch wir barmherzig sein wie der Vater es mit jedem seiner Kinder ist.

Mein Wunsch ist dieser Wandel, der uns erlaubt, eine neue Art des Verständnisses unserer Beziehungen zu den Menschen zu entwickeln, mit mehr Dialog, mehr Freude an der Begegnung, größerer Toleranz in den Unterschieden und vor allem mehr Solidarität in den konkreten Dingen.

Eine missionarische Dynamik – die Barmherzigkeit Gottes anderen vermitteln

Persönlich sehe ich die Enzyklika „Laudato Si“ zusammen mit dem Apostolischen Schreiben „Amoris Laetitia“ in diesem Jahr der Barmherzigkeit als zwei große Gelegenheiten, um uns wieder auf die gemeinsamen Anliegen zu konzentrieren und das in einem ehrlichen, geschwisterlichen Dialog. Dass wir neu unser Herz öffnen und es von den vielen Egoismen befreien, die uns daran hindern, uns als Brüder und Schwestern in Christus zu begegnen, einfach weil Gott uns dazu gemacht hat.

Dieser Wandel würde mich sehr freuen: ein Wandel der Haltung, des Klimas und des Selbstverständnisses. Dass wir uns nicht irgendwie theoretisch verstehen, dass die Pastoral dynamisiert wird.  In eine missionarische Dynamik eintreten bedeutet, die Barmherzigkeit Gottes zu den anderen zu bringen und sie konkret werden zu lassen. Und ich hoffe, das bleibt nicht in der Theorie!

 

Interview: María Fischer. Bearbeitung: Claudia Echenique. Übersetzung aus dem Spanischen.

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