Veröffentlicht am 2016-08-14 In Haus Madre de Tuparenda, Projekte, Werke der Barmherzigkeit

Die Gesellschaft … das bin ich – und deshalb engagiere ich mich für das Haus „Mutter von Tuparenda“

PARAGUAY, von Susana Stanley •

Das Telefon klingelte. Meine Schwägerin erzählte mir, dass mein Neffe nur zwei Blocks von zu Hause entfernt überfallen worden ist! Ich stellte die üblichen Fragen: Ist er in Ordnung? Wurde er verletzt? Sie antwortete, dass er nicht verletzt sei, und dann erzählte sie von dem Überfall. Zwei Jungen, einer etwa 12, der andere 17 Jahre alt, fingen ihn ab und forderten mit vorgehaltener Pistole sein Handy und seine Brieftasche. Er gab sie ihnen und rannte nach Hause, wo er seine Mutter anrief. Sie gingen zur Polizeiwache um den Diebstahl zu melden und die notwendigen Formalitäten zu machen. Der Polizeibeamte sagte: „Das sind immer dieselben“, und es gab wenig oder gar keine Hoffnung, das Handy oder den Inhalt seiner Brieftasche wiederzubekommen.

Ein paar Wochen später passierte durch ein Missverständnis oder besser gesagt, wegen der göttlichen Vorsehung, etwas, das mir die Augen für eine Realität vor meiner Haustür öffnete, die ich bis dahin nicht wahrgenommen hatte – und ich entschloss mich, das Team der Gefängnispastoral des Jugendgefängnisses zu unterstützen.

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Taufe im Jugendgefängnis, Juli 2016, Foto: Javier Vera

Kein Geld, keine Familie, Straße, Drogen, Diebstahl, Gefängnis … immer dasselbe 

Nach einer langen Stunde im Stau des üblichen Samstagsverkehrs kam ich im Jugendgefängnis Itauguá an. Weil ich zu spät war, ging ich allein hinein. „Ich bin von Schönstatt“, sagte ich den Wachen. Sie verlangten, dass ich alle meine Wertsachen und meinen Pass abgab, und nach dem Registrieren zeigten sie mir, wo ich das Team der Gefängnispastoral treffen konnte. Wir warteten in der Kapelle darauf, dass die Jungen kommen.

Die erste Gruppe von etwa fünfunddreißig Jungen kam an. Ich war überrascht, dass einer von ihnen so klein war, dass er nicht älter als 12 sein konnte!. Später erfuhr ich, er sei 17, aber aufgrund von Unterernährung nicht mehr gewachsen. Wir stellten uns vor, wir beteten. Dann stellten sie sich in einer Reihe auf, wir gaben ihnen Snacks und nutzen die Gelegenheit, mit einigen von ihnen zu sprechen.

Pedritos (Name geändert) Geschichte berührte mich. Vater unbekannt, seine Mutter ging vor mehreren Jahren nach Spanien, um als Hausangestellte zu arbeiten, seitdem weiß er nichts mehr von ihr. Er blieb bei seiner Großmutter, die an Krebs starb; er war allein …  Ab da freundete er sich mit anderen Jungen an, putzte Windschutzscheiben, probierte „Crack“. Um den Lebensunterhalt zu „verdienen“ und Geld zu bekommen, das er für Essen und Drogen brauchte, stahl er Handys und später Motorräder. Einer der Diebstähle ging  schief, und jetzt ist er hier, um seine Strafe zu verbüßen. Er erzählte mir, er würde in ein paar Monaten entlassen, und habe nichts, wohin er gehen könnte.

Die Zeit ist um. Die Gruppe geht, und wir wiederholen den Prozess mit der nächsten Gruppe: Vorstellung, Katechese, Gebet und Snacks. Die Gesichter sind unterschiedlich und gleichzeitig sind sie alle gleich. Jeder von ihnen hat den Geruch von Armut und Einsamkeit. Ich hörte andere Geschichten: Der gemeinsame Faktor ist immer der Mangel an Ressourcen, Gleichgültigkeit, Gewalt in der Familie und Drogen. Ich fragte mich, wo ist der Staat? Wo ist die Gesellschaft, wenn sie Hilfe brauchen?

 

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 P. Pedro Kühlcke und Orlando, Insasse des Jugendgefängnisses , stellen Papst Franziskus  die Gefängnispastoral vor (Juli 2015)

Die Gesellschaft bin ich

Als ich nach Hause kam, erzählte man mir, dass mein Neffe ein Auto bekommen hat, damit er nicht mehr riskieren muss, durch die Straßen zu gehen und dabei überfallen zu werden. Sie installierten Überwachungskameras am Haus, und in ein paar Wochen wird der Überfall für ihn nur eine schlechte Erinnerung sein. Doch für Pedrito und seine Freunde werden es Monate im Gefängnis sein, nur um wieder in die gleiche Wirklichkeit zurückzukommen, hoffnungslos.

Dann wurde mir wie nie zuvor bewusst, dass ich die Gesellschaft bin, die gleiche, die sich voller Egoismus und Gleichgültigkeit  über die Unsicherheit und Gewalt in unserem Land entrüstet und sich von der Armut rundherum nicht rühren lässt. So wie ich selbst bis zu jenem Tag im Mai, als meine Freundin aus Deutschland mich in die Armut vor meiner Haustür „entführte“ und mir die Augen aufgingen …

Ich schaute auf das  Bild der Gottesmutter in meinem Hausheiligtum, sie erwiderte meinen Blick mit dem Kind in ihren Armen. Es schien, als sagte sie mir: „Meine Tochter, du hast wirklich lange gebraucht um dir bewusst zu werden. Das macht  nichts. Was zählt ist, was du von jetzt an tust!“

So arbeitet die Gottesmutter, so kam es, dass ich inzwischen auch im Team vom Haus Mutter von Tuparenda bin. Dort arbeiten wir, um den aus dem Gefängnis entlassenen Jungen eine Chance zu geben. Wir lassen sie spüren, dass wir uns um sie kümmern, und wir geben ihnen die Chance, voran zu kommen, vielleicht zum ersten  Mal in ihrem Leben.

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Info zum Haus „Mutter von Tuparenda“. Die ersten Jugendlichen sind schon dort, die offizielle Eröffnung ist am 22. August
Foto oben: Susana beim Besuch der Familie eines Jugendlichen, zusammen mit Pater  Pedro Kühlcke

Original: Spanisch. Übersetzung: Ursula Sundarp, Dinslaken, Deutschland/mf

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